# taz.de -- Indigene in Chile: In schlechter Verfassung | |
> Chile stimmt im Dezember über eine neue Verfassung ab. Die Rechte der | |
> indigenen Mapuche bleiben im Entwurf außen vor. Ein Besuch. | |
Bild: Die Bewegung der Mapuche kämpft um mehr Recht – und ist gleichzeitig g… | |
TEMUCO taz | Sergio Catrilaf will, dass der chilenische Staat ihm sein Land | |
zurückgibt. Das Land, das ein deutscher Ingenieur im 19. Jahrhundert seinem | |
Großvater wegnahm. Catrilaf blickt von einem Hang aus in ein Tal, durch das | |
ein Fluss fließt und in dem einst seine Vorfahren lebten. Heute versperren | |
Hochspannungsmasten den Blick auf den Horizont, der Lärm einer Autobahn | |
übertönt das Rauschen des Flusses. | |
Catrilaf lebt in der Nähe von Temuco im Süden Chiles in der Gemeinde Juan | |
Catrilaf II, die den Namen seines Großvaters trägt. Der deutsche Ingenieur, | |
der seinen Vorfahr enteignete, hieß Theodor Schmidt, er kam 1858 nach | |
Chile. Der gebürtige Darmstädter wurde vom chilenischen Staat damit | |
beauftragt, die Ländereien rund um Temuco zu vermessen und zwischen der | |
indigenen Bevölkerung, den Mapuche, und den Siedlern zu verteilen. Dabei | |
schrieb Schmidt sich auch selbst Landtitel zu – unter anderem von dem | |
Grundstück, auf dem der Urgroßvater von Sergio Catrilaf lebte. Nach Schmidt | |
ist ein Platz in Temuco benannt, der Hauptstadt der Araucanía-Region. Es | |
ist die ärmste Region Chiles. | |
Sergio Catrilaf ist Mapuche, so heißt das größte der zehn indigenen Völker, | |
die in dem schmalen Land an der Pazifikküste leben. Mehr als 1,7 Millionen | |
Menschen in Chile identifizieren sich als Mapuche, das entspricht etwa zehn | |
Prozent der Gesamtbevölkerung. Als Indigene werden diejenigen bezeichnet, | |
die vor der Invasion der Spanier im 15. Jahrhundert auf dem amerikanischen | |
Kontinent lebten. Die Mapuche verfügen heute nur noch über [1][etwa fünf | |
Prozent ihres ursprünglichen Territoriums]. | |
Gabriel Boric, der Anfang 2022 mit der linken Koalition Frente Amplio die | |
Regierung übernahm, hatte den Mapuche im Wahlkampf versprochen, ihnen ihr | |
Land zurückzugeben. „Wir suchen nach der Wurzel des Problems und ich hoffe, | |
dass wir zum 200. Jahrestag des Vertrags von Tapihue dem chilenischen Volk | |
und dem Volk der Mapuche eine Versöhnung und eine Wiedervereinigung | |
anbieten können“, sagte er in einer Rede im Juni. | |
Die Mapuche sind das einzige indigene Volk, das die spanischen | |
Konquistadoren nicht besiegen konnten. 1641 erkannte die spanische Krone | |
mit dem Vertrag von Quilín den Fluss Bío Bío als Grenze von Wallmapu an, | |
wie die Mapuche ihr Land nennen. 1825 bestätigte der chilenische Staat das | |
mit dem Vertrag von Tapihue. Später brach er das Abkommen: Das Militär | |
besetzte das Gebiet der Mapuche von 1851 bis 1883, tötete und vertrieb | |
Tausende. | |
Einen Lösungsvorschlag für den seit Jahrhunderten andauernden Landkonflikt | |
soll eine „Kommission für den Frieden und das Verständnis“ erarbeiten, die | |
am 21. Juni ihre Arbeit aufnahm. 18 Monate lang, also bis Ende 2024, hat | |
sie dafür Zeit. Zu den acht Mitgliedern der Kommission gehören | |
Vertreter*innen der Mapuche wie Adolfo Millabur, aber auch Alfredo | |
Moreno, ein ehemaliger Minister unter dem rechten Ex-Präsidenten Sebastián | |
Piñera. Auch Carmen Gloria Aravena ist dabei, eine Senatorin der | |
rechtsextremen Republikanischen Partei. | |
Der Mann, der die Kommission leiten soll, macht einen etwas erschöpften | |
Eindruck. Víctor Ramos, 42 Jahre alt, von Beruf Psychologe, sitzt in seinem | |
Büro im zweiten Stock im Regierungspalast La Moneda im Zentrum von Chiles | |
Hauptstadt Santiago. „Das Ziel der Kommission ist es, eine Lösung für einen | |
historischen Konflikt zu finden, den der Staat verursacht hat“, sagt Ramos. | |
Als ersten Schritt soll die Kommission nun Daten erheben, um | |
herauszufinden, wie viel Land die Mapuche eigentlich überhaupt | |
zurückfordern – bisher verfügt der Staat nicht über diese Daten. | |
Klar ist: Es geht um viel Land. „Es ist möglich, dass eine so gigantische | |
Landforderung entsteht, dass der chilenische Staat unter den gegenwärtigen | |
politischen Umständen und mit dem Budget, das er hat, sagen muss: Dem kann | |
ich nicht gerecht werden“, sagt Ramos. Die Kommission müsse ein | |
Gleichgewicht finden zwischen der Wiedergutmachung für die Mapuche und den | |
Eigentumsrechten der aktuellen Landbesitzer. | |
Der einzige Mechanismus, den es derzeit in Chile gibt, um Indigenen Land | |
zurückzugeben, ist dieser: Der Staat kauft das Land von seinen aktuellen | |
Eigentümer*innen zum Marktpreis und übergibt es anschließend an die | |
indigenen Gemeinden. Das ist nur möglich für Gemeinden, die sogenannte | |
Títulos de merced besitzen: Landtitel, die der chilenische Staat Ende des | |
19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausstellte. Derzeit gibt es 720 | |
indigene Gemeinden, die nach der aktuellen Gesetzgebung das Recht hätten, | |
Land auf diese Weise zurückzubekommen. | |
Zu ihnen gehört auch die Gemeinde von Sergio Catrilaf, der den Landtitel | |
von seinem Urgroßvater erhalten hat. „Der Staat trägt die | |
Hauptverantwortung“, sagt Catrilaf. Es sei schließlich der chilenische | |
Staat gewesen, der den Vertrag von Tapihue brach, mit dem das Militär in | |
das Gebiet der Mapuche einmarschierte und sie von ihrem Land vertrieb. | |
Anschließend übergab der Staat das Land an europäische Siedler, viele von | |
ihnen kamen aus Deutschland und der Schweiz. | |
Viele Grundstücke, sogenannte Fundos, befinden sich bis heute im Besitz von | |
Familien mit europäischen Nachnamen: Luchsinger, Taladriz, Cooper. Der | |
sozialistische Präsident Salvador Allende gab den Mapuche Anfang der 1970er | |
Jahre mehr als 130.000 Hektar Land zurück. Aber Diktator Augusto Pinochet | |
enteignete die Indigenen anschließend wieder und ging mit Gewalt gegen die | |
Mapuche vor. Mindestens 136 Mapuche sollen während der Diktatur getötet | |
worden sein oder verschwanden. [2][Nur 16 Prozent der zuvor | |
zurückerstatteten Gebiete] blieb im Besitz der Mapuche. | |
1989 ging Pinochets Ära zu Ende, ein Referendum läutete Wahlen noch im | |
selben Jahr ein. Mehrere indigene Vertreter*innen verhandelten einen | |
Vertrag mit dem Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Opposition, | |
Patricio Aylwin. Nach seinem Wahlsieg gründete die neue Regierung die | |
Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (Conadi), eine staatliche | |
Institution, die sich für indigene Belange einsetzt, und verabschiedete das | |
Ley Indígena(Indigenen-Gesetz). | |
Aber nicht alle [3][Versprechen des Vertrags] wurden eingehalten. Die | |
Indigenen und ihre Rechte sind bis heute nicht in der Verfassung Chiles | |
anerkannt. Der Handlungsspielraum der Conadi ist begrenzt. Luis Penchuleo | |
leitet seit dem Amtsantritt von Boric die Conadi. Der 38-Jährige war in der | |
Studierendenbewegung aktiv und war lange Mitglied verschiedener | |
Mapuche-Organisationen, die sich für Landrückgaben einsetzen. Er gründete | |
sogar eine Mapuche-Partei, Wallmapuwen, sie wurde aber 2017 aufgelöst. | |
Die Conadi verfüge zwar über mehr Budget als unter den Vorgängerregierungen | |
– aber trotzdem reiche es nicht aus, um allen Landforderungen gerecht zu | |
werden, sagt Penchuelo. Und nicht nur das Budget sei unzureichend, sondern | |
auch die rechtlichen Rahmenbedingungen, die das Indigenen-Gesetz für die | |
Landrückgaben vorsieht. So sind zum Beispiel keine Enteignungen mit einer | |
verhandelten Entschädigung für den Landbesitzer möglich – sondern nur der | |
Kauf zu Marktpreisen, was für den Staat sehr teuer ist. | |
Bei dem Land, das der chilenische Staat als Eigentum der Mapuche anerkennt, | |
weil sie die entsprechenden Landtitel besitzen, handelt es sich laut | |
Penchuelo ohnehin nur um zehn Prozent des Landes, das die Mapuche insgesamt | |
zurückfordern. „Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen würde es 80 bis 90 | |
Jahre dauern, nur um das Land zurückzugeben, das der Staat aktuell | |
anerkennt“, sagt Penchuleo. | |
Er hofft deshalb, dass die Kommission für den Frieden und das Verständnis | |
einen neuen rechtlichen Rahmen für die Landrückgaben schaffen wird. „Wir | |
müssen eine politische Lösung finden, die über die aktuelle Regierung | |
hinausgeht.“ Dafür sei ein politischer Kompromiss aller im Parlament | |
vertretenen Parteien notwendig. „Das ist vielleicht die letzte Chance, die | |
wir haben, um eine politische Lösung für diesen Konflikt zu finden“, sagt | |
Penchuleo. Denn viele Mapuche finden, dass die Regierung zu langsam ist – | |
also nimmt der Konflikt vor Ort an Aggressivität zu. | |
„Wir hatten große Hoffnung in die Regierung“, sagt Javier Meliman. Er ist | |
werkén, eine Art Sprecher, der Mapuche-Gemeinde Trapilhue in Padre las | |
Casas. Er trägt eine Wollmütze und eine dicke Jacke, ein kalter Wind weht | |
nach dem Regen. Kühen grasen auf einer Wiese nebenan, ein paar Meter weiter | |
erntet jemand Gemüse, ein Hahn kräht. Die Gemeinde pflanzt rote Beete, | |
Salat, Weizen und Hafer an. Ein Teil davon sei für die Selbstversorgung, | |
einen anderen Teil verkaufen sie auf dem lokalen Markt und einen weiteren | |
Teil geben sie anderen Mapuche-Gemeinden, die nicht genug Land haben, um | |
ihre eigenen Lebensmittel anzupflanzen. „Wir unterstützen uns gegenseitig“, | |
sagt Meliman. | |
Das Land brauchen sie als Lebensgrundlage. Mapuche heißt übersetzt | |
„Menschen der Erde“. | |
Etwa 300 Familien leben in der Gemeinde Trapilhue. Die meisten haben bei | |
den Präsidentschaftswahlen 2022 für Boric gestimmt. „Aber wir sind | |
enttäuscht, weil es bisher keine konkreten Fortschritte gegeben hat“, sagt | |
Meliman. Die Gemeinde Trapilhue hat zwar einen Teil ihres Landes in den | |
1990er Jahren von der Conadi zurückerstattet bekommen, aber mehr als die | |
Hälfte fehlt noch. | |
Seit über zehn Jahren seien sie in Verhandlungen mit der Conadi wegen des | |
restlichen Landes. Weil die Landrückgaben nur langsam vorangehen, besetzt | |
die Gemeinde immer wieder das Grundstück und wurde schon mehrfach von der | |
Polizei unter Gewaltanwendung vertrieben. „Es muss schneller gehen“, sagt | |
Meliman. | |
Andere Mapuche haben vollkommen das Vertrauen in den chilenischen Staat | |
verloren und wenden andere politische Strategien an. Organisationen wie die | |
Coordinadora Arauco Malleco (CAM) und Weichan Auka Mapu nennen ihre | |
Strategie „territoriale Kontrolle“. Das heißt, sie besetzen Gebiete, die | |
sie als ihre ansehen, und verteidigen sie – zur Not auch mit Gewalt. Die | |
CAM hat den Forstunternehmen den „Krieg erklärt“ und zündet immer wieder | |
Maschinen und Lastwagen der Unternehmen an. Die Organisation bezeichnet | |
sich selbst als „antikolonial, antikapitalistisch und revolutionär“. | |
Als Borics ehemalige Innenministerin Izkia Siches im März 2022 wenige Tage | |
nach Regierungsantritt in den Süden Chiles reiste, um sich mit | |
Vertreter*innen der Mapuche zu treffen, verwehrte die Gemeinde | |
Temucuicui ihr den Zutritt, es wurden Schüsse in die Luft abgefeuert. Der | |
gescheiterte Annäherungsversuch belastete die Beziehung zwischen den | |
Mapuche und der neuen Regierung. | |
Das chilenische Parlament erklärte die CAM und weitere | |
Mapuche-Organisationen im Juni 2022 zu [4][„rechtswidrigen Vereinigungen | |
mit terroristischem Hintergrund“]. Zwei Monate später wurde [5][Héctor | |
Llaitul festgenommen], einer der Anführer der CAM. Er befindet sich seitdem | |
in Untersuchungshaft. Angeklagt ist er auf Grundlage des Nationalen | |
Sicherheitsgesetzes. | |
Llaitul hatte vor seiner Festnahme zum „bewaffneten Widerstand“ aufgerufen, | |
nachdem die Regierung den Ausnahmezustand über die Mapuche-Regionen | |
verhängt hatte. Der Ausnahmezustand schränkt demokratische Grundrechte der | |
Bevölkerung wie die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit ein und erlaubt den | |
Einsatz des Militärs, um „die öffentliche Ordnung zu beschützen“. | |
Die Maßnahme geht auf den ehemaligen rechten Präsidenten Sebastián Piñera | |
zurück. Der aktuelle Regierungschef Boric hatte im Wahlkampf versprochen, | |
das Militär aus dem Gebiet der Mapuche abzuziehen – aber er gab dem Druck | |
von Rechten und Unternehmern nach und brach das Versprechen im Mai 2022, | |
nur wenige Wochen nach Regierungsantritt. Anfang August kündigte die | |
Regierung zudem einen neuen Militärstützpunkt in Traiguén in der | |
Araucanía-Region an. | |
Viele Mapuche leben deshalb seit fast zwei Jahren im Ausnahmezustand und | |
mit eingeschränkten demokratischen Grundrechten, während Militärfahrzeuge | |
auf den Straßen patrouillieren. Das verschärft den Konflikt. | |
Im Süden Chiles gibt es viele wirtschaftliche Interessen: Forstplantagen, | |
Landwirtschaft, Energieprojekte. Naturwälder sind Monokulturen von Kiefern | |
und Eukalyptusbäumen gewichen. Sie eignen sich besonders gut für die | |
Herstellung von Zellstoff als Grundlage für die Papierproduktion. Chile | |
exportiert Zellstoff – nach China und auch nach Deutschland. Außerdem | |
werden immer mehr Windparks in der Region gebaut – ohne dass die Mapuche | |
beteiligt würden. | |
„Die Militärs beschützen die Interessen der Unternehmen, nicht die der | |
Bevölkerung“, sagt Sergio Catrilaf. „In einer Demokratie sollten wir keine | |
Militärs auf den Straßen haben.“ Es gebe eine politische Verfolgung der | |
Mapuche durch den chilenischen Staat, sagt er. Catrilaf war selbst schon | |
mehrfach im Gefängnis, wurde aber jedes Mal freigesprochen. In einem | |
Gefängnis in der Stadt Angol in Araucanía sind derzeit 23 Mapuche | |
inhaftiert. | |
Und es sind Justizverfahren wie diese, die den Konflikt ebenfalls | |
eskalieren lassen: Im November 2018 tötete ein chilenischer Polizist den | |
24-jährigen Mapuche-Aktivisten Camilo Catrillanca mit einem Kopfschusses, | |
als der in seiner Gemeinde auf einem Traktor bei der Feldarbeit unterwegs | |
war. Der Auslöser des Polizeieinsatzes war ein vermeintlicher Autodiebstahl | |
gewesen. Der Polizist wurde zu 16 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Als | |
ein Cousin des Aktivisten Catrillanca im Juli 2023 wegen Diebstahls und | |
versuchten Mordes an einem Polizisten vor Gericht stand, fiel die Strafe | |
mit 47 Jahren Haft im Vergleich weitaus höher aus. | |
Bei den landesweiten Protesten 2019 und 2020 wehten in ganz Chile Flaggen | |
der Mapuche, und das Gesicht von Camilo Catrillanca ist bis heute auf | |
vielen Mauern zu sehen. Für viele Chilen*innen sind die Mapuche ein | |
Symbol des Widerstands. Die Protestierenden forderten eine neue Verfassung | |
für Chile, um die aktuelle zu ersetzen, die noch aus der Pinochet-Diktatur | |
stammt. Die Mapuche Elisa Loncon wurde im Juli 2021 zur Präsidentin des | |
Konvents gewählt, der eine solche Verfassung erarbeiten sollte – es war ein | |
historischer Moment für Chile. | |
Zum ersten Mal in der Geschichte waren alle zehn indigenen Völker an einem | |
verfassunggebenden Prozess beteiligt, 17 der 155 Sitze waren für sie | |
reserviert. Der Entwurf für eine neue Verfassung, den die Versammlung | |
ausarbeitete, enthielt [6][über 20 verschiedene Normen], um die Rechte der | |
Indigenen zu beschützen. Chile sollte ein plurinationaler Staat werden nach | |
dem Vorbild von Ecuador und Bolivien – also ein Staat, in dem viele | |
Nationen gemeinsam und gleichwertig leben. | |
Aber der Entwurf wurde abgelehnt. Knapp 62 Prozent stimmten im ganzen Land | |
gegen den Text. Ausgerechnet in den Regionen, wo die Mapuche leben, waren | |
es noch mehr. In der Region Araucanía stimmten fast 74 Prozent gegen den | |
Verfassungsentwurf. Auch die Gemeinde Trapilhue von Javier Meliman lehnte | |
den Text ab. „Wir hatten nicht genug Informationen“, sagt der | |
Gemeindesprecher. Niemand sei zu ihnen gekommen, um ihnen den Inhalt des | |
Verfassungsentwurfs zu erklären. Von dem Konzept „Plurinationalität“ hatt… | |
viele noch nie etwas gehört. | |
Es gebe eine Kluft zwischen den Mapuche, die in der Politik und als | |
Akademiker*innen tätig sind, und dem Rest der Gesellschaft, sagt der | |
Historiker und Mapuche-Experte Fernando Pairican. „Die politische | |
Gemeinschaft der Mapuche verliert die Beziehung zum einfachen Volk.“ Die | |
meisten Mapuche seien zwar für Landrückgaben, aber abstrakte Konzepte wie | |
Plurinationalität seien nicht für alle verständlich. | |
„Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs ist grundlegend, um die Wende der | |
Regierung zu verstehen“, sagt Pairican. „Aber die Regierung offenbart auch | |
ihre Prinzipien gegenüber den indigenen Völkern.“ Anstatt sich weiter für | |
die Rechte der Indigenen einzusetzen, würde die Linke unter Präsident Boric | |
sie im Stich lassen und sie für das Scheitern des verfassunggebenden | |
Prozesses verantwortlich machen. | |
Der Verfassungskonvent habe gesellschaftliche Fortschritte angestoßen, die | |
Dekolonialisierung vorangetrieben. Aber die Reaktion darauf sei „eine | |
rassistische und kolonialistische Offensive der konservativen Sektoren“ | |
gewesen. „Die Indigenen werden bestraft und ihre politische Teilhabe wurde | |
auf ein Minimum reduziert“, sagt Pairican. | |
## Die Teilhabe der Mapuche minimiert | |
Im Mai dieses Jahres wurde ein neuer Verfassungskonvent gewählt – aber | |
dieses Mal nur mit 51 Mitgliedern und mit nur einem reservierten Sitz für | |
Indigene – ein Anteil von nur noch zwei Prozent im Vergleich zu den zehn | |
Prozent im ersten Verfassungskonvent. Den einen Sitz erhielt der Mapuche | |
Alihuen Antileo. Die rechtsextreme Republikanische Partei erhielt die | |
meisten Sitze und stimmte einstimmig dafür, die Indigenen nicht am | |
verfassunggebenden Prozess zu beteiligen. | |
„Wir erleben gerade eine politische Revanche der Elite gegen das Volk“, | |
sagt Antileo. Mit den Protesten 2019 und 2020 seien drei politische Akteure | |
erstarkt: Die Indigenen, die Feministinnen und die Parteiunabhängigen. „Für | |
die Eliten, die seit Jahrzehnten immer nur unter sich waren, war es | |
schlichtweg unerträglich, dass all diese Menschen eine neue Verfassung | |
schreiben würden.“ | |
Anfang November beendete der Verfassungsrat seine Arbeit. Am 17. Dezember | |
soll die Bevölkerung abstimmen, ob sie den neuen Verfassungsentwurf | |
annimmt. Antileo ruft die Mapuche und die anderen indigenen Völker Chiles | |
dazu auf, gegen den Entwurf zu stimmen. „Wir fühlen uns nicht mit | |
einbezogen in diesen Text“, sagte er, nachdem der Verfassungsentwurf an | |
Präsident Boric übergeben wurde. | |
Die Anerkennung der indigenen Völker „als Teil der chilenischen Nation“ | |
wird zwar in einem Artikel erwähnt, aber sie ist nicht mit spezifischen | |
Rechten verbunden. Das Thema Landrückgaben kommt überhaupt nicht vor. | |
Sergio Catrilaf und Javier Meliman haben sich mit anderen Gemeinden | |
zusammengeschlossen, um gemeinsam ihr Land zurückzugewinnen – mit oder ohne | |
die Unterstützung der Regierung. | |
14 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.scielo.cl/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0719-124320220… | |
[2] https://obtienearchivo.bcn.cl/obtienearchivo?id=repositorio/10221/22028/3/F… | |
[3] https://interferencia.cl/articulos/en-la-medida-de-lo-posible-las-promesas-… | |
[4] https://www.latercera.com/nacional/noticia/camara-de-diputados-declara-a-la… | |
[5] https://elpais.com/chile/2022-08-24/detenido-en-el-sur-de-chile-hector-llai… | |
[6] https://uchile.cl/noticias/189512/que-dice-la-propuesta-constitucional-sobr… | |
## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
## TAGS | |
Chile | |
Santiago de Chile | |
Mapuche | |
Indigene | |
Augusto Pinochet | |
Landrechte | |
GNS | |
Chile | |
Chile | |
Chile | |
Verfassungsreferendum | |
Chile | |
50 Jahre Putsch in Chile | |
50 Jahre Putsch in Chile | |
50 Jahre Putsch in Chile | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Referendum in Chile: Ein Land im Stillstand | |
Das Ergebnis des Verfassungsreferendums in Chile ist im Sinne der Rechten. | |
Auch wenn ihr Entwurf scheiterte, wollten sie keine sozialen Reformen. | |
Referendum in Chile: Noch mal nein zu neuer Verfassung | |
Der Verfassungsentwurf scheitert erneut. Präsident Boric erklärt den | |
Prozess für beendet – das Grundgesetz aus der Pinochet-Diktatur bleibt erst | |
mal. | |
Chile vor dem Verfassungsreferendum: Wahl zwischen Pest und Cholera | |
Chile stimmt erneut über einen Verfassungsentwurf ab, diesmal einen | |
rechten. Scheitert er, bleibt die Verfassung aus der Pinochet-Diktatur | |
bestehen. | |
Linke Kulturszene in Chile: Woher Hoffnung nehmen? | |
Chile stimmt erneut über eine neue Verfassung ab. Viele Linke wollen diese | |
ablehnen, selbst wenn damit die diktatorischen Pinochet-Gesetze gültig | |
bleiben. | |
Migrationspolitik in Chile: Gabriel Boric spielt den Hardliner | |
Chiles linker Präsident Gabriel Boric steht in Migrationsfragen von | |
rechts unter Druck. Jetzt droht er tausenden Migrant:innen mit | |
Abschiebung. | |
50 Jahre nach dem Putsch in Chile: Geister, die uns weiter umtreiben | |
Der Verfassungsprozess ist gescheitert. Ein Bruch mit dem Erbe der | |
Pinochet-Zeit fehlt. Das stellt Chile bis heute vor große Unsicherheiten. | |
Anerkennung indigener Rechte in Chile: „Schlusslichter“ in Lateinamerika | |
In Chile gibt es einen historischen Landstreit zwischen dem Staat, den | |
Mapuche und Forstunternehmen. Und sie bleibt bis heute noch ungelöst. | |
Der Pinochet-Effekt: Neue Akteure im Völkerstrafrecht | |
Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen ist bis heute unzureichend. | |
Aber die Verhaftung Pinochets in London 1998 hat Rechtsgeschichte | |
geschrieben. |