# taz.de -- „Menschen der Erde“ von Michael Wein: Ein Buch auf der Suche na… | |
> Der Versuch, Indigenen ihre Würde wiederzugeben: Michael Weins zeichnet | |
> im Roman „Menschen der Erde“ Adoption und Rückkehr einer Mapuche nach. | |
Bild: Zwei Frauen des indigenen Volkes der Mapuche 2020 bei einer Kundgebung ge… | |
Sie weiß, was sie zu tun hat: die fremde Frau, die ihre Mutter werden wird, | |
auch wenn sie schon eine Mutter hat, fest an die Hand nehmen. Ihr dann das | |
Kinderheim zeigen, in dem sie noch wohnt; das Kinderheim für 'unbrauchbare | |
Kinder’, wie sie es selbst für sich nennt. | |
'Wingka’, so bezeichnen die [1][Mapuche] diese blassen, hellhäutigen und | |
oftmals blonden Frauen, die alles richtig machen wollen, woran sie selbst | |
am meisten zweifeln. Flora ist gerade mal fünf Jahre alt, ihr schwarzes, | |
dichtes Haar haben die Erzieherinnen zu Zöpfen geflochten. Man hat sie zur | |
Feier des Tages in ein rotes Kleid gesteckt. | |
Bald wird sie auf der anderen Seite des Ozeans in einem großen Haus wohnen, | |
mit einem großen Garten. Dicke Wolken drücken oftmals auf das Land. Sie hat | |
Fotos davon gesehen, auch von dem groß gewachsenen, dünnen Mann, der nicht | |
mitgekommen ist und der in einer Stadt namens Hamburg auf sie wartet: auf | |
seine Frau Lena und auf Flora, die seine Tochter werden soll. | |
Eines aber weiß er nicht und wissen all die anderen Erwachsenen ebenso | |
wenig: Nicht die Frau hat sich Flora ausgesucht, sondern Flora hat sich die | |
Frau ausgesucht. Es ist überhaupt oft alles anders, als man denkt, und das | |
hat jeweils Folgen. | |
„Menschen der Erde“ ist der neue Roman des Hamburger Schriftstellers | |
Michael Weins. Es ist das Jahr 2003, als wir dazukommen, es ist das Jahr | |
2015, als wir dabei sind, wenn Flora, noch keine 18 Jahre alt, nach Chile | |
zurückkehrt, und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, und | |
dazwischen öffnet sich mehr als eine Welt. | |
„Ich wurde Zeuge einer Adoptionsgeschichte, mich hat zugleich generell | |
Elternschaft interessiert; allein, von welchen Zufällen es abhängt, ob man | |
Eltern werden kann oder nicht“, erzählt Michael Weins. „Und ich kam in | |
Berührung mit einem Mapuche-Kind, ich kannte das nicht – und ich fand das | |
interessant.“ | |
Er liest sich ein, er hört sich um. Erfährt mehr und mehr über die Mapuche, | |
die größte indigene Gruppe Chiles, die bis heute im mittleren Süden des | |
Landes leben und die immer wieder neu [2][um ihre Souveränität ringen]. „Es | |
ist ein Volk, das von den Spaniern nicht zu kolonialisieren war, weil es | |
sich lokal organisierte und daher keine Anführer hatte, die man ausschalten | |
konnte. Nicht mal eine Hauptstadt, die man hätte niederbrennen können, gab | |
es, wie das bei den Inkas oder den Azteken so folgenreich geschehen ist“, | |
sagt Weins. „In meinem Comic-Gehirn war das so eine Asterix-Geschichte, und | |
ich dachte an ein trotziges, widerspenstiges Mädchen, und damit hatte ich | |
meine Protagonistin.“ | |
In Fahrt kommt der Roman, als Weins in einem halb öffentlichen Rahmen aus | |
dem entstehenden Manuskript vorliest. Es öffnen sich Kontakte in das | |
Mapuche-Netzwerk und damit nach Chile. Bald hat er AnsprechpartnerInnen, er | |
reist nach Chile und schaut sich die [3][Mapuche-Region] an. „Manche | |
Beobachtungen sind relativ direkt eingeflossen“, erzählt er. Etwa ein | |
Besuch in der ehemaligen 'Colonia Dignidad’, immer wieder wurden dorthin | |
auch Mapuche-Kinder geraubt. | |
Zugleich führt uns sein Roman mit ebenso viel Verve und tiefer Kenntnis in | |
unsere deutsche Gegenwärtigkeit: Da ist Floras Mutter Lena, die sich so | |
sehr ein Kind gewünscht hat, das nun ganz anders ist und noch mehr anders | |
werden wird als gedacht, dabei hat sie von Anfang an mit dem Schlimmsten | |
gerechnet und ist doch überrascht, als das eintrifft. | |
Da ist auch die Kindertherapeutin Frau Doktor Korthe, die erleben wird, wie | |
sehr sich eigene Bedürftigkeit und professionelle Distanz im Wege stehen | |
können; da ist Bodo, der lange so verhuschte wie verunsicherte | |
Adoptivvater, der im entscheidenden Moment vielleicht deswegen genau das | |
Richtige tut. | |
## Althippie als wichtige Stütze | |
Und da ist vor allem der Nachbar Monti, der vordergründig verlorene, prekär | |
lebende und schamanistisch-herumspukende sowie verwitwete Althippie mit | |
seinem „Shamanic House of Wisdom“, der sich selbst einen Indigenen des | |
Herzens nennt und der zugleich ob seiner robusten Menschenfreundlichkeit | |
für die suchende Flora ein echter Halt werden wird. „Menschen sind ja | |
komplex, und wenn ich mich als Autor ihnen öffnen kann, dann öffnen sie | |
sich über die Zeit auch mir“, sagt Weins. | |
Ganz wunderbar kraftvoll wird das erzählt; mal getragen von punktgenauem, | |
auch mal beißendem Spott, mal mit poetischer Eleganz, sodass sich von den | |
verschiedenen Perspektiven her ein immer dichteres Netz spannt, in das man | |
sich lesend gerne fallen lässt. | |
Michael Weins sagt: „Es ist ein Mix aus verschiedenen Strängen, die immer | |
wieder zu dem zentralen Thema der Identität führen, und es ist übrigens | |
auch eine Auseinandersetzung mit dem, was man früher einen 'Indianerroman’ | |
genannt hätte.“ Auf dem Stand von heute und mit der Entschlossenheit, den | |
anwesenden Personen je ihr Eigenleben zu gönnen. | |
14 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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