| # taz.de -- Der Pinochet-Effekt: Neue Akteure im Völkerstrafrecht | |
| > Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen ist bis heute unzureichend. | |
| > Aber die Verhaftung Pinochets in London 1998 hat Rechtsgeschichte | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Demonstration für Menschenrechte in Santiago de Chile am 8. September 19… | |
| Berlin taz | Wie wichtig der Militärputsch von 1973 für das Chile von heute | |
| ist, belegte vor wenigen Wochen das Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen | |
| die Mörder des kommunistischen Sängers Victor Jara, der einen Tag nach dem | |
| Coup verhaftet und anschließend in einem Stadion von Santiago de Chile | |
| gefoltert und erschossen worden war. | |
| Chile stand in den 1970er Jahren nicht alleine, der gesamte Süden des | |
| Doppelkontinents wurde von Militärdiktaturen regiert, eine blutiger als die | |
| andere. Warum aber fand der Pinochet-Putsch im Vergleich etwa zu dem seiner | |
| Waffenbrüder in Argentinien mehr Aufmerksamkeit? | |
| Da ist die mehr oder weniger offene Involvierung der USA zu nennen, | |
| namentlich der CIA. Aus politischen Gründen sollte es – mitten im Kalten | |
| Krieg – kein sozialistisches Experiment auf dem Kontinent geben, den die | |
| USA als ihren Hinterhof betrachten. Die Zahl der politischen Morde der | |
| chilenischen Diktatur liegt bei 3.000 bis 4.000, dazu kommen Zehntausende | |
| von Folterüberlebenden und Exilierte. Doch die Opferzahlen in anderen | |
| Staaten lagen ähnlich hoch, in Argentinien mit 30.000 Verschwundenen sogar | |
| höher. Aber Tatsache ist auch, dass die Weltöffentlichkeit relativ schnell | |
| von den Menschenrechtsverletzungen in Chile erfuhr, weil die Bilder der im | |
| Fußballstadion inhaftierten und gemarterten Oppositionellen um die Welt | |
| gingen. | |
| ## Ein Netzwerk: Entführungen, Folterungen und Ermordungen | |
| Die argentinischen Militärs lernten daraus und schufen nach ihrem Putsch am | |
| 24. März 1976 ein Netzwerk klandestiner Haftstätten und ein System des | |
| Verschwindenlassens. Betroffene und deren Familien, aber auch die | |
| argentinische Gesellschaft ließ die Diktatur sehr lange bewusst im Unklaren | |
| über das Schicksal der Entführten, deren Mehrheit gefoltert und schließlich | |
| ermordet wurde. | |
| Die 1973 gegründeten heutigen [1][Lateinamerika Nachrichten] erinnerten | |
| unlängst anlässlich ihres 50-jänrigen Bestehens daran, dass nicht nur die | |
| USA die Diktatur offen unterstützten. Insbesondere Franz Josef Strauß, bis | |
| heute noch immer ein politisches Role Model, wollte damals lieber mit | |
| Diktator Pinochet als mit seinem christdemokratischen Parteifreund Eduardo | |
| Frei zu tun haben. | |
| Noch enger mit der in den 1970ern keineswegs menschenrechtsorientierten | |
| deutschen Außenpolitik verbunden ist der Skandal um die im Süden Chiles | |
| gelegene Politsekte Colonia Dignidad. Nicht nur, dass der | |
| Kindervergewaltiger Paul Schäfer seit den 60er Jahren ein System der | |
| Ausbeutung und des sexuellen Missbrauchs mit Unterstützung deutscher | |
| Stellen betreiben konnte. Bereitwillig stellte die Kolonie ihre quasi | |
| extraterritoriale deutsche Enklave den Schergen Pinochets als Folterzentrum | |
| zur Verfügung. Und die deutsche Justiz war sich damals nicht zu schade, | |
| Amnesty International für die Berichterstattung über diesen Skandal zu | |
| sanktionieren. | |
| Bis heute wurde der Komplex Colonia Dignidad von der zuständigen | |
| nordrhein-westfälischen Justiz völlig unzureichend aufgearbeitet. Trotz | |
| Strafanzeigen aus den 2010er Jahren, die auf Aussagen deutscher und | |
| chilenischer Zeug*innen und auf chilenischen Prozessakten basieren, | |
| blieben deutsche Täter straflos. Im Gegensatz dazu ermittelt die | |
| Generalstaatsanwaltschaft Berlin derzeit engagiert wegen Verbrechen der | |
| argentinischen Militärdiktatur. | |
| In Chile konnte die Menschenrechtsbewegung seit der Abwahl Pinochets im | |
| Jahr 1988 auch Erfolge verzeichnen. Die sogenannte | |
| [2][Rettig-Wahrheitskommission] veröffentlichte 1996 einen umfangreichen | |
| Bericht über die Verbrechen der Diktatur. An einigen Orten der Verbrechen | |
| wurden Gedenkstätten errichtet. | |
| ## General Pinochet wurde 1998 in London verhaftet | |
| Einer der größten Erfolge der internationalen Menschenrechtsbewegung war | |
| die [3][Verhaftung des Ex-Diktators Pinochet in London] im Oktober 1998. | |
| Wer der 50 Jahre Militärputsch gedenkt, sollte an das 25-jährige Jubiläum | |
| des Kriminalfalls Pinochet erinnern. Mit den exillateinamerikanischen | |
| Jurist*innen und den Menschenrechtsorganisationen, die Pinochet erstmals | |
| vor ein Gericht brachten und zahlreiche Verfahren gegen argentinische | |
| Militärs initiierten, traten erstmals zivilgesellschaftliche Akteure auf | |
| die Bühne des Völkerstrafrechts. | |
| Das Strafverfahren in London und Madrid gegen Pinochet hatte großen | |
| Einfluss auf die Strafverfolgung in Chile, Hunderte von Tätern wurden | |
| verurteilt, Konten beschlagnahmt. Die Sozialwissenschaftlerin Naomi | |
| Roht-Arriaza beschreibt den [4][Pinochet-Effekt], wenn die Strafverfolgung | |
| von Menschheitsverbrechen nicht „vor Ort“ stattfinden kann und die | |
| Überlebenden daher über Bande spielend eine Wirkung im Tatortland erzielen. | |
| Im argentinischen Komplex etwa ergingen in den 1990er Jahren zahlreiche | |
| Strafbefehle in Italien, Frankreich, Spanien und auf Betreiben der | |
| damaligen „[5][Koalition gegen Straflosigkeit]“ auch in Deutschland. Diese | |
| Strafbefehle und der beharrliche Druck der Mütter der Plaza de Mayo trugen | |
| mit dazu bei, dass auch in Argentinien die nationale Strafverfolgung von | |
| Völkerrechtsstraftaten ab 2005 zunahm. | |
| ## Internationale Kollaborationisten vor Gericht | |
| Für Menschenrechtsanwält*innen auf der ganzen Welt war die Verhaftung | |
| Pinochets vor 25 Jahren ein Startschuss für Hunderte von Strafanzeigen und | |
| Verfahren, sowohl gegen staatliche Rechtsverletzer als auch – deutlich | |
| weniger erfolgreich – gegen transnationale Unternehmen, etwa Mercedes-Benz | |
| in Argentinien oder Volkswagen in Brasilien, die beide mit den Militärs | |
| kollaborierten. Auch die jüngsten Strafverfahren gegen syrische | |
| Folterknechte in Koblenz, aber auch die Bemühungen der ukrainischen | |
| Menschenrechtsbewegung sind ohne den Präzedenzfall Pinochet nicht denkbar. | |
| Die Aufarbeitung der Verbrechen von Diktaturen aus den 1970er Jahren hat | |
| nur partiell zu mehr Rechtsstaatlichkeit im chilenischen und argentinischen | |
| Militär oder der Polizei geführt. Bis heute gehen die Sicherheitsapparate | |
| beider Länder äußerst repressiv gegen indigene [6][Mapuche-Gemeinschaften] | |
| vor, und auch die große Protestbewegung in Chile 2019 war mit massiver | |
| Polizeigewalt konfrontiert. Aber der gesellschaftliche wie juristische | |
| Widerstand dagegen wie gegen die Bagatellisierung der Verbrechen ist | |
| gewachsen und seit der Verhaftung Pinochets im Jahr 1998 haben sich | |
| nichtstaatliche Akteure selbst ermächtigt – wovon nicht zuletzt das Urteil | |
| gegen die Mörder Victor Jaras zeugt. | |
| Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt und Generalsekretär des von ihm | |
| mitgegründeten European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) | |
| in Berlin | |
| 8 Sep 2023 | |
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| Wolfgang Kaleck | |
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