| # taz.de -- Als Chilene in der DDR: Geborgenheit und dann alles anders | |
| > Nach dem Putsch in Chile sind seine Eltern in die DDR geflohen. Unser | |
| > Autor verbrachte dort eine schöne Kindheit, bis sich seine Welt änderte. | |
| Bild: Marco Fajardo mit Eltern und Schwester | |
| Ich selbst bin ein Produkt dieser Katastrophe, die meine Eltern in die | |
| Flucht trieb, die Deutschen retteten ihnen das Leben. Auf deutschem Boden | |
| haben sie ein Zuhause gefunden, konnten studieren und arbeiten. Ich kann da | |
| nur dankbar sein. Denn 1973 explodierte in Chile eine Bombe, deren Beben | |
| wir bis heute spüren können. | |
| Meine Eltern, er Kolumbianer, sie Chilenin, sind 1974 in der DDR | |
| angekommen, dank Erich Honecker. Ich kann verstehen, dass ihn viele bis | |
| heute hassen und verfluchen, aber er hat eben auch vielen Chilenen das | |
| Leben gerettet. Meine Schwester Yara und ich sind in Dresden geboren: ich | |
| 1976, sie 1977. Wir wohnten in Johannstadt. Das war unser Zuhause, wo es zu | |
| Weihnachten schneite, wo wir an der Elbe Schlitten gefahren sind. Wir | |
| hatten eine schöne Kindheit. | |
| In Dresden waren wir in der Kinderkrippe, im Kindergarten, in der Pablo- | |
| Neruda-Schule. Wir waren Teil einer kleinen chilenischen Gemeinschaft. In | |
| unserem Hochhaus wohnten mehrere Familien aus Chile, auch viele Kinder: | |
| Rodrigo und Nicolás, die ich bis heute als meine Brüder betrachte (ihre | |
| Mutter war die beste Freundin meiner Mutter), Vicky, Constanza, Paola, | |
| Penélope, Keny. Ihre Eltern waren meine “Tanten“ und “Onkel“, denn das… | |
| hatte uns ja unsere eigenen Onkel und Tanten, Opas und Omas genommen. | |
| ## Eine deutsche Familie in Dresden | |
| Wir hatten auch unsere „deutsche“ Familie: Antje Meurers und ihre Schwester | |
| Heidi. Die Geschichtslehrerin Antje war immer bereit, meine unzähligen, oft | |
| nervigen Fragen zu beantworten, Weihnachten mit uns zu verbringen, mich ins | |
| Kino oder ins Museum zu bringen. | |
| In der DDR habe ich mich immer geborgen gefühlt – eine Geborgenheit, die | |
| ich später nie wieder hatte. Als Kind wusste ich nicht, dass es eine | |
| Diktatur war, dass es weder Reise-, Meinungs-, noch Pressefreiheit gab. Ich | |
| wusste nicht einmal, dass ich selbst staatenlos war. Ich wusste nur, | |
| wahrscheinlich habe ich das als natürlich empfunden, dass wir Kinder in der | |
| DDR privilegiert waren. | |
| Mit sechs bin ich allein in die Schule gegangen. In der Krippe, im | |
| Kindergarten, auch in der Schule bekamen wir ein Mittagessen. Im Sommer gab | |
| es Ferienlager. Kein Kind hat auf der Straße gelebt, keines hat gefroren, | |
| gehungert. Das habe ich alles viel später kennengelernt, und das kann ich | |
| immer noch nicht verstehen. Und es tut mir immer noch weh, auch weil ich | |
| selber zwei Kinder habe. | |
| 1985, ich war neun, sind wir nach Kolumbien gezogen. Ein Schock. Mein Vater | |
| hat mir in die Augen geschaut und gesagt, Junge, hier kannst du niemandem | |
| vertrauen, du musst immer auf der Hut sein. Nicht einmal der Polizei konnte | |
| man vertrauen. Wir waren auf dem Land, bei seinem Bruder: ein Haus aus | |
| Holz, kein fließendes Wasser, kein Strom. | |
| Wir haben in Bogotá gelebt, wo ganze Familien auf der Straße wohnten, wo | |
| Kinder in meinem Alter auf dem Pflaster schliefen. Alleine unterwegs sein, | |
| unmöglich. Ich wollte nur weg, nur zurück in die DDR. Ich habe geheult, | |
| doch mein Vater hat mir gesagt: Wir werden nie wieder in die DDR | |
| zurückkehren! | |
| ## Zurück in der DDR – eine andere DDR | |
| Schließlich haben sich meine Eltern getrennt. Meine Mutter arbeitete ganze | |
| Nächte an Übersetzungen, damit wir weiterhin die Deutsche Schule besuchen | |
| konnten. Aber als alleinerziehende Mutter ist es immer schwierig. Sie hat | |
| die Rückkehr in die DDR beantragt. Ich habe dafür sogar einen Brief an | |
| Honecker geschrieben. Nach mehreren Versuchen hat es dann auch geklappt: Im | |
| Juni 1989 waren wir wieder zurück, zurück in der Geborgenheit. Wir wussten | |
| nicht, was auf uns zukommt. Wer wusste das schon? | |
| Wir waren wieder in Dresden, aber viele Chilenen hatten das Land schon | |
| verlassen. Die DDR war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Mit der | |
| Wende brach meine Welt zusammen. Aber die meisten wollten das – zu recht. | |
| Für mich, den kleinen chilenischen Sachsen, begann die | |
| Ausländerfeindlichkeit, die ich bis dahin nie erlebt hatte. Auf dem | |
| Fußballfeld hat mich ein Spieler als “Scheißausländer“ beschimpft, nachd… | |
| ich ihm den Ball abgenommen hatte. Der Schiedsrichter stand daneben, | |
| reagierte aber nicht. | |
| Ich war 13, in der Schule habe ich rote Parolen auf die Bank geschrieben. | |
| Am Ausgang kam eines Tages ein Neonazi aus der 9. oder 10. Klasse auf mich | |
| zu und hat mich gewarnt, ich solle auf dem Weg nach Hause aufpassen. | |
| Plötzlich hatte ich Angst, wollte nur weg. Tatsächlich haben wir im Juni | |
| 1990 Dresden in Richtung Chile verlassen. Im Flugzeug war ich erleichtert. | |
| Weg von den Skinheads, die Ausländer in der Straßenbahn zusammenprügelten, | |
| weg von der Angst. | |
| Dank eines Stipendiums konnte ich 2002 zum ersten Mal wieder in Deutschland | |
| sein, diesmal als Journalist. Ich habe mich wieder zu Hause gefühlt und | |
| doch gespürt, ich gehöre nicht dahin. Ich bin aber immer gerne in | |
| Deutschland zu Besuch. Die Deutschen sind irgendwie verwandt mit mir. In | |
| Chile sprach ich die deutschen Touristen immer auf der Straße an. Die haben | |
| sich dann gewundert, wieso spricht denn dieser junge Mann so gut Deutsch? | |
| Später habe ich als Reiseführer gearbeitet und war immer gern mit Deutschen | |
| in Kontakt, vor allem wenn sie aus der DDR kamen. | |
| 8 Sep 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco Fajardo | |
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