# taz.de -- Maler Carl Alexander Simon: Der romantische Kolonialist | |
> Carl Alexander Simon wollte nach 1848 im Süden Chiles ein neues | |
> Deutschland aufbauen. Die entstehenden Probleme sah er dabei erst gar | |
> nicht. | |
Bild: Ausschnitt aus dem Selbstbildnis Carl Alexander Simon, ca. 1830 | |
Sechs Stämme deutscher Immigranten, bestehend aus je 1.000 Familien und 500 | |
unverheirateten, bewaffneten Männern – auf ihnen sollte die Kolonisierung | |
des südlichen Chile beruhen. Der Künstler Carl Alexander Simon hatte Mitte | |
des 19. Jahrhunderts genaue Vorstellungen davon, wie in Südamerika ein | |
neues Deutschland erblühen solle. | |
Von den sechs Stämmen, so erhoffte er sich, würden deutsche | |
Auswander:innen bald den gesamten Kontinent besiedeln. Nach seiner | |
Ankunft in Chile wolle er die Grundlage dafür schaffen. | |
Messianisches Sendungsbewusstsein trieb den 1805 in Frankfurt (Oder) | |
geborenen [1][romantischen Maler] in der zweiten Lebenshälfte an. Dabei | |
folgte sein Weg zunächst den ausgetretenen Pfaden zeitgenössischer | |
Künstler:innenbiografien. So ließ sich Simon in den 1820er Jahren bei | |
Peter von Cornelius und Wilhelm von Schadow ausbilden – den Leitern der | |
Kunstakademie Düsseldorf und Begründern der Düsseldorfer Malschule. | |
Darauf folgte die obligatorische Italienreise und in den 1830er Jahren | |
schließlich der Versuch, die [2][Wartburg bei Eisenach] architektonisch neu | |
zu beleben. Seine Pläne wurden nie umgesetzt. | |
Erst der revolutionäre Geist, der die deutschen Territorien Mitte des 19. | |
Jahrhunderts erfasste, weckte den Pioniergeist Simons. 1848 beteiligte er | |
sich von Stuttgart aus an der Märzrevolution und trat für sozialistische | |
Ideen ein. In Konflikt mit der Staatsmacht geraten, musste er das Land | |
verlassen und ging nach Frankreich, wo er seine antimonarchistische Haltung | |
festigte und die Idee einer Kolonie im südlichen Chile entwickelte. Damals | |
fand er seinen Leitsatz: „Kannst du den Völkern nicht die Tyrannen nehmen, | |
so nimm den Tyrannen die Völker.“ | |
## Pathosgetränkte Sendungsfantasien | |
Unter Künstler:innen, die eine Abdankung der Monarchie herbeisehnten, waren | |
Pläne wie jene Simons keine Seltenheit. Nahezu zeitgleich formulierte der | |
damals noch revolutionär gesinnte Komponist [3][Richard Wagner] | |
pathosgetränkte koloniale Sendungsfantasien. 1848 sagte er während eines | |
Vortrags in Dresden: „Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da | |
und dort ein junges Deutschland gründen, es mit den Ergebnissen unseres | |
Ringens und Strebens befruchten, die edelsten, gottähnlichsten Kinder | |
zeugen und erziehen.“ | |
Was bei Wagner ohne Konsequenzen blieb, arbeitete Simon in Publikationen | |
detailliert aus und fand so Anhänger:innen, die bereit waren, sich auf das | |
Abenteuer einzulassen. 1848 und 1850 erschien in zwei Ausgaben sein Werk | |
„Auswanderung und Deutsch-nationale Kolonisation von Süd-Amerika mit | |
besonderer Berücksichtigung des Freistaates Chile“. | |
„Dass romantische Maler andere Kontinente bereisten, war keine Seltenheit. | |
Simon aber dürfte der einzige Romantiker in Europa gewesen sein, der | |
zugleich als praktischer Kolonist auftrat“, sagt Miguel Gaete. Der | |
Kunsthistoriker an der Universität von York stieß 2017 während seiner | |
Promotionsforschung auf Simon, in dessen Person sich romantische Ideale mit | |
kolonialen Ideen verbinden. | |
Nicht nur habe er ein Musterland für Proletarier:innen und | |
Demokrat:innen schaffen wollen, er sei auch von der Idee getrieben | |
gewesen, der europäischen Zivilisation zu entkommen und in der | |
[4][unberührten Natur des fernen Kontinents] zu den Ursprüngen der | |
menschlichen Gemeinschaft zurückzufinden. Simon hat Hunderte Zeichnungen | |
hinterlassen, die in Deutschland, während seiner Italienreise und in Chile | |
entstanden. | |
## Religiöses Erweckungserlebnis | |
Dagegen sind lediglich drei Ölgemälde bekannt, etwa das „Selbstbildnis mit | |
Tirolerhut“ von 1830. Es zeigt den damals 25-Jährigen in Tracht vor einer | |
Alpenkulisse. Für Gaete deutet das Bild bereits auf den späteren Simon hin. | |
Sein verträumter Blick, der geöffnete Mund und das im Arm geborgene | |
Notizbuch lassen einen Mann erahnen, der eine Botschaft zu verkünden hat. | |
Tatsächlich wird Simon 1849 von einem religiösen Erweckungserlebnis | |
berichten. Die Zukunft des neuen Menschen, so hält er in seinen | |
Aufzeichnungen fest, liege in der Weite des Meeres. Dort müsse er seinen | |
Tempel bauen. | |
1850 wandert Carl Alexander Simon nach Chile aus. Europäer:innen sind | |
damals willkommen, werden gebraucht, um den Süden des sich über Tausende | |
Kilometer entlang der Anden erstreckenden Landes urbar zu machen. Dort im | |
Süden findet Simon sein erträumtes Paradies. Ihn fasziniert die Ähnlichkeit | |
der Landschaft mit jener in Mitteleuropa. | |
Schneebedeckte Berge erinnern ihn an die Alpen. Bäche und Weiden erwecken | |
in ihm die Vorstellung eines jungfräulichen Europas, in dem man Monarchie | |
und Industrialisierung hinter sich lassen und noch einmal von Neuem | |
beginnen könne. Am meisten aber begeisterten ihn die dichten Wälder, in | |
denen sogar Eichen wachsen. Der deutscheste aller Bäume ist ihm ein | |
untrügliches Zeichen, dass er den idealen Ort für seine Kolonie gefunden | |
hat. | |
Was Simon sah, hielt er in unzähligen kleinen Bleistiftzeichnungen fest: | |
Tiere, Landschaften, Pflanzen, Architektur und Menschen. Er erwarb sich das | |
Vertrauen der indigenen Bewohner:innen des Landes, der Mapuche, | |
erlangte Zutritt zu ihren Häusern und hielt dort intime Szenen fest. | |
Frauen, die weben oder Kinder hüten. Männer beim Segeln, Reiten, Schmieden. | |
Manches ist skizzenhaft mit wenigen schnellen Strichen festgehalten und | |
dicht aneinandergedrängt auf einem einzigen Bogen Papier. Schließlich war | |
das Material rar, das er auf seinen Expeditionen mitführten konnte. Anderes | |
ist detailliert ausgearbeitet, zuweilen koloriert, und erlaubt lebhafte | |
Einblicke in den Alltag der Mapuche. | |
## Subjekte finden sich hier kaum | |
Für Miguel Gaete spiegeln die Zeichnungen das wissenschaftliche Denken des | |
Künstlers. Simon hatte in Deutschland Naturwissenschaften studiert und sich | |
mit Naturphilosophie auseinandergesetzt. Seine Zeichnungen dokumentieren | |
und klassifizieren, schaffen ein Ordnungssystem. Deutlich machen das die | |
Beschriftungen, auf denen er die Mapuche-Bezeichnung der abgebildeten | |
Objekte festhält. | |
Subjekte finden sich dagegen kaum. Im Sinne der anthropologischen | |
Wissenschaft jener Zeit zeigt Simon Menschentypen, die in ihrer | |
Physiognomie als Repräsentanten ihrer Ethnie fungieren sollen und dabei | |
namenlose Projektionen des europäischen Überlegenheitsdenkens bleiben. | |
Auffällig ist, dass die erwachsenen Mapuche kindliche Züge aufweisen. | |
Große Köpfe und überdimensionale Hände sollten in Europa rassistische | |
Vorurteile bestätigen, ist Gaete überzeugt. „Schönheit galt als Zeichen der | |
Intelligenz, und die wollte er den Mapuche nicht zugestehen“, so der | |
Kunsthistoriker, der selbst in Chile aufwuchs. | |
Gaete vermutet auch die Absicht, [5][die Mapuche] ungefährlich erscheinen | |
zu lassen. Denn ihr Ruf eilte ihnen voraus. Sie hatten sich erfolgreich | |
gegen die spanischen Eroberer:innen gewehrt und ihre Unabhängigkeit | |
bewahrt. Simon aber brauchte sie für seine Pläne als „arbeitendes Element�… | |
wie er schrieb. Im Geiste seiner Zeit sah er keinen Widerspruch darin, | |
Chiles Bevölkerung auszubeuten, um deutschen Proletariern ein anständiges | |
Leben zu ermöglichen. Vielmehr habe er sich für eine strikte Trennung | |
zwischen den Mapuche und den Siedler:innen ausgesprochen, um die | |
„Reinheit der deutschen Rasse“ nicht zu gefährden, so Gaete. | |
## Ein gewaltsamer Tod | |
Seine Zeichnungen habe Simon wohl auch dazu nutzen wollen, seine | |
Siedlungspläne zu bewerben. Seine Darstellungen europäisch anmutender | |
Wälder seien nicht nur romantische Landschaftsmalerei, sondern zeigten ein | |
Land, in dem Holz, Beeren und Wild im Überfluss zu finden seien. | |
Dabei habe der Künstler gerade nicht auf das Exotische gesetzt, wie es nach | |
ihm Expressionisten wie Emil Nolde oder Max Pechstein in farbintensiven | |
Gemälden einer imaginierten Südsee tun würden. Laut Gaete stünden Simons | |
Zeichnungen vielmehr für die Heimat in der Ferne und sprächen eine | |
spezifisch deutsche Sehnsucht an. | |
Zu der von ihm selbst erhofften Führungsgestalt sollte es Simon nie | |
bringen. In Chile schloss man ihn aus der deutschen Gemeinschaft aus, | |
obdachlos lebte er von den Gaben anderer. 1852, zweieinhalb Jahre nach | |
seiner Ankunft in Südamerika, nahm er an einer letzten Expedition nach | |
Patagonien teil. Dort geriet die Gruppe in Konflikt mit der lokalen | |
Bevölkerung, und Simon fand einen gewaltsamen Tod. | |
Bald darauf war er vergessen. Einzig sein zweibändiges Manifest und seine | |
Zeichnungen, verstreut über Deutschland und Chile, zeugen von der Vision | |
des Künstlers und Kolonialagitators. | |
26 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Lehmann | |
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