# taz.de -- Kultur und Straßenprotest in Chile: „Wir müssen Gemeinschaft au… | |
> Carmen Romero ist Gründerin des wohl wichtigsten Theaterfestivals | |
> Lateinamerikas „Teatro a Mil“. Am Mittwoch wird ihr die Goethe-Medaille | |
> verliehen. | |
Bild: Carmen Romero in Hamburg im August 2024 | |
taz: Carmen Romero Quero, am 28. August wird Ihnen in Weimar die | |
Goethe-Medaille verliehen. Der Kulturpreis ehrt Ihre Verdienste als | |
Gründerin des internationalen Festivals „Teatro a Mil“, das seit 1994 | |
Theater, Tanz, Musik, Zirkus oder Performance verbindet und einem breiten | |
Publikum zugänglich macht. Was ist das Besondere dieses Theaterfestivals in | |
Chile, das heute als das Wichtigste in Lateinamerika gilt? | |
Carmen Romero Quero: Für mich hält das Festival den Geist jener Jahre | |
lebendig, in denen wir die Demokratie zurückerobert haben. Es ist der | |
Versuch, den öffentlichen Raum zu besetzen und den Zugang zu Kunst und | |
Kultur zu öffnen. Auch deswegen findet sehr viel unserer Arbeit auf der | |
Straße statt. Ich gehöre zu einer Generation, die die Diktatur in Chile von | |
Jugend an miterlebt hat. Es gab für uns keinen öffentlichen Raum, um | |
zusammenzukommen. Das hat uns geprägt. | |
Als die Demokratie ab 1990 zurückkehrte, begannen wir mit der Kunst nach | |
Orten der Begegnung zu suchen, was vier Jahre später zu einem Festival | |
namens Teatro a Mil führte. Es war noch nicht das Festival von heute, aber | |
es war ein Anfang. Es hat Jahre gedauert in Chile, einem Land, das eine | |
demokratische Tradition hatte, die zwischen 1973 und 1990 brutal und | |
vollständig zerstört wurde, wieder eine demokratischere Gesellschaft | |
aufzubauen, in der der andere zählt. | |
Wie kamen Sie zum Theater? | |
Ich stamme aus einem kleinen Ort namens La Calera, auf halbem Weg zwischen | |
Santiago und Valparaíso. Als ich nach dem Studium nach Santiago kam, | |
spielte sich das kulturelle Leben im Untergrund ab. Ich suchte nach diesen | |
klandestinen Orten und stieß dort auf ein pulsierendes Leben mit Räumen, | |
die sich künstlerische und kulturelle Szenen angeeignet hatten. | |
Damals begann ich im Kulturjournalismus zu arbeiten und bewegte mich durch | |
das subkulturelle Leben von Santiago. Noch während der Diktatur lernte ich | |
so auch meinen Partner kennen, einen Schauspieler, der zu dieser Zeit mit | |
dem Theatermacher Andrés Pérez arbeitete. Er stellte mich ihm vor. Diese | |
Begegnung hat mein Leben komplett verändert. Ich wollte mehr tun, als einer | |
politischen Partei oder Bewegung anzugehören. | |
Andres Pérez hatte in Frankreich als Schauspieler Erfahrungen am „Théâtre | |
du Soleil“ von Ariane Mnouchkine gesammelt. Nach seiner Rückkehr 1988 | |
gründete er in Chile das „Gran Circo Teatro“. Was war das Außergewöhnlic… | |
dieses Theaterkollektivs? | |
Die enge Verbindung mit den Menschen. Bei dem Stück „Todos estos años“ war | |
ich erstmals für die Produktion und die Kommunikation verantwortlich. Es | |
war eine Überraschung für das Publikum genauso wie für mich, dass alle | |
glücklich schienen, niemand Angst hatte und wir alle auf der Straße waren, | |
als es noch verboten war. Die Inszenierung dauerte genau 20 Minuten. | |
Zeichnete sich da das Ende der Diktatur bereits ab? | |
Ja, es war wie ein Licht am Horizont. Dann kam „La Negra Ester“, die | |
erfolgreichste Inszenierung von Gran Circo Teatro. Das war sehr bewegend. | |
Diese Liebesgeschichte von Roberto Parra spiegelt auch die Geschichte | |
Chiles. Violeta Parra, Nicanor Parra, Roberto Parra. Die ganze Familie | |
wurde in der Kultur der Diktatur ausradiert. Weil sie arm war, weil sie vom | |
Land kam und weil sie Kommunisten waren. Diese ganze Welt war wie | |
eingefroren gewesen und kehrte nun mit Andres Pérez zurück, indem er | |
beschloss, dieses Theatermusical zu inszenieren, das von dem Land erzählt, | |
das wir [1][vor der Zerstörung durch die Diktatur kannten]. | |
Die chilenische Schriftstellerin, Schauspielerin und Dramaturgin Nona | |
Fernández beschreibt in der Zeitschrift Theater der Zeit die Theaterszene | |
in Chile als lebendig, diskursiv und reflektiert. Und sie erkennt darin | |
eine Berufung, aus Notwendigkeit die eigene Geschichte aufzugreifen und zu | |
verarbeiten. Welchen Themen widmet sich das chilenische Theater heute mit | |
besonderer Dringlichkeit? | |
Der Erinnerung. Wahrscheinlich, weil wir es nicht geschafft haben, jene | |
Gerechtigkeit herzustellen, die bei der Rückkehr der Demokratie gefordert | |
wurde. Die Erinnerung ist ein wiederkehrendes Thema in allen Stücken. | |
[2][Die Erinnerung, das Nichterzählte, das Unvollendete, die persönliche | |
Geschichte.] Und es geht um die großen globalen Themen, um Diversität, | |
Feminismus und Nachhaltigkeit. | |
Inzwischen sind lateinamerikanische Produktionen regelmäßig auch an | |
deutschen Schauspielhäusern zu sehen. So feiert „Vaca“ (dt.: Kuh) [3][des | |
chilenischen Dramatikers und Drehbuchautors Guillermo Calderón], auch eine | |
Produktion von „Teatro a Mil“, seine Premiere am 25. August in Weimar. | |
Internationale Kooperationen scheinen oftmals auch finanziell | |
unersetzlich. Was ist die größte Herausforderung für das Theater in Chile? | |
Zu widerstehen. Der chilenische Film verdankt dem Theater alles – [4][siehe | |
Guillermo Calderón]. Das aktuelle chilenische Kino wird international | |
gefeiert und hat bereits einen Platz in der Welt. Aber es verdankt alles | |
den Autoren, den Regisseuren, den Schauspielern, den Ausstattungsteams des | |
Theaters. [5][Ohne das Theater gäbe es kein chilenisches Kino]. So wichtig | |
und so stark ist es. Ich glaube, dass das Festival wegen dieser | |
Herausforderung, weiter Theater zu machen, existiert. Weil es keine | |
öffentlichen Bühnen gibt. Weil es ein Wunder ist, dass es noch unabhängige | |
Ensembles gibt, die zehn Dinge auf einmal machen müssen, um im Theater | |
arbeiten zu können. Aber das Theater ist ein historischer Raum, der mit der | |
chilenischen Nation eng verbunden ist. Deshalb ist es schwer vorzustellen, | |
dass diese eigene Sprache nicht mehr existieren könnte, genauso wenig wie | |
die der Poesie. Chile ist Theater und Poesie. | |
Wer erinnert sich nicht an die eindrücklichen Bilder aus Chile, die 2019 | |
viral gingen? An die theatral anmutenden Massenproteste rund um die Plaza | |
de la Dignidad in Santiago oder die öffentlichen Straßenperformances | |
[6][des feministischen Kollektivs Las Tesis]? Doch in dem Moment, als es | |
darum ging, diese Forderungen nach gesellschaftlichem Wandel 2022 an den | |
Wahlurnen zu bestätigen, entschied sich die chilenische Bevölkerung gegen | |
den Entwurf einer neuen Verfassung, die das Erbe der Diktatur beendet | |
hätte. | |
Das ist ein tiefer Schmerz. Wir hatten die Hoffnung, dass wir diesen Moment | |
endlich erleben würden. Nun, Hoffnung habe ich immer noch für die jüngere | |
Generation. Und es stimmt, diese Straßenproteste waren sehr performativ. | |
Und dabei sehr energisch, fröhlich und bunt. Das sind unauslöschliche | |
Bilder von einem Chile, das es gibt. Vielleicht haben wir nicht verstanden, | |
es in einer Verfassung festzuhalten. Wir konnten es tanzend zeigen, [7][wir | |
konnten es künstlerisch ausdrücken,] politisch konnten wir es nicht. Was | |
nicht heißt, dass es nicht existiert. | |
Auch in Chile ist der Extraktivismus [Raubbau an der Natur; d. Red.] | |
verantwortlich für massive Umweltverschmutzung und Wassermangel. „Teatro a | |
mil“ ist auf private Förderung angewiesen. Einer der Hauptsponsoren des | |
Festivals ist der australische Bergbaukonzern BHP. Wie gehen Sie als | |
Stiftung mit solchen Widersprüchen um? | |
Anders als in Europa treffen in Chile private Unternehmen öffentliche | |
Entscheidungen, die aber alle betreffen. Wir sind der Meinung, dass dies | |
auch Verantwortung bedeutet, nicht nur von einem sozialen Standpunkt aus. | |
Chile ist stark vom Bergbau abhängig. Ob staatlich oder privat, der Bergbau | |
wird bestehen bleiben, weil er die Haupteinnahmequelle des Landes ist. Wie | |
berücksichtigt man dabei die Umwelt? Mein Eindruck ist, ansatzweise | |
geschieht das bereits. Aber wir sind nicht deren Sprecher. | |
Umgekehrt gibt es vonseiten der Sponsoren keine Einflussnahme auf die | |
inhaltliche Gestaltung des Festivals. Doch diese Unternehmen können an den | |
Orten, an denen sie sich befinden, in diesem Fall vor allem in | |
Antofagasta, durch ihre Finanzierung zur Entwicklung gesellschaftlicher | |
Sektoren beitragen, die nicht über Ressourcen des Staates verfügen. Denn | |
in Chile hat man beschlossen, dass der Staat schmal sein sollte. | |
2025 wird das Festival „Teatro a Mil“ unter dem Titel „+Humanidad“ – … | |
Menschlichkeit stehen. Was verbinden Sie mit diesem Leitspruch? | |
Es ist ein Appell. Wir können es als eine Aufforderung verstehen, einander | |
zuzuhören, in die Zukunft zu schauen und nicht aufzuhören, über die großen | |
Themen zu sprechen. Wir müssen weiterhin Gemeinschaft aufbauen. Wir sind | |
umgeben von Konflikten, Kriegen, Massakern. Wir leben heute in einer Welt, | |
die auf Technologie aufgebaut ist, von der niemand so recht weiß, wer sie | |
lenkt, und wir erleben erneut die Bedrohung der Demokratie. Wenden wir uns | |
einander zu, nehmen wir uns an die Hand, schauen wir uns an. Wir befinden | |
uns in einer Welt, die wir teilen müssen. | |
24 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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