| # taz.de -- Theater und Aktivismus in Chile: Räume des Widerstands | |
| > Eines der wichtigsten Theaterfeste Lateinamerikas, das Festival | |
| > Internacional Santiago a Mil, bringt internationale Künstler*innen | |
| > auf die Bühne. | |
| Bild: Theater auf der Straße mit Spezialeffekten während des Internationalen … | |
| Drei riesige Ohrenpaare schimmern silbern in der untergehenden Sonne, | |
| reflektieren die letzten Sonnenstrahlen vor dem Regierungspalast La Moneda | |
| in Chiles Hauptstadt Santiago. Es sind die Ohren von Julieta, Babar und | |
| Regine, drei mechanische, aus verschiedenen Metallen zusammengebaute | |
| Elefanten, angereist auf einem Frachtschiff aus Frankreich. | |
| Sie sind Teil eines „pasacalle“ – wie karnevaleske Umzüge in Chile genan… | |
| werden – der französischen Musiktheatergruppe Compagnie Oposito. An | |
| insgesamt sechs Tagen wird die Parade durch verschiedene Teile der Stadt | |
| ziehen, flankiert von einem Schwarm metallischer Phönixe wie | |
| Artist*innen aus Frankreich und Chile, die mit Musik und einer Lichtshow | |
| das Theater auf die Straßen der Stadt bringen. | |
| „Drei Elefanten ziehen vorbei“, wie die Inszenierung übersetzt heißt, ist | |
| zwar sicher der aufwendigste, aber nur ein Part des [1][Festival | |
| Internacional Santiago a Mil], des größten Theaterfestivals des Landes | |
| sowie eines der bedeutendsten des lateinamerikanischen Kontinents. Zum 31. | |
| Mal kommen hier in diesem Jahr Menschen aus aller Welt zusammen, um sich | |
| den darstellenden Künsten zu widmen. | |
| Zwar habe das Theater in Chile nie aufgehört zu existieren, die 17 Jahre | |
| der Militärdiktatur (1973–1990) seien aber von Zensur und Verfolgung | |
| kritischer Künstler*innen geprägt gewesen, sagt Festivalleiterin Carmen | |
| Romero Quero im Gespräch mit der taz. In den 1980er Jahren lebte die damals | |
| als Journalistin und Produzentin tätige Romero Quero in Bellavista, einem | |
| Viertel, das heute vor allem für seine Bar- und Partyszene bekannt ist, | |
| zudem aber immer noch eine hohe Dichte an Theatern aufweist. | |
| ## Was unter Pinochet begann | |
| Hier schloss sie sich mit den Schauspielern und Regisseuren wie Francisco | |
| Reyes, Alfredo Castro und Rodrigo Pérez sowie mit Evelyn Campbells zusammen | |
| und legte 1994, vier Jahre nachdem Chile zur Demokratie zurückgekehrt war, | |
| den Grundstein des Festivals. | |
| Was noch unter Pinochet mit der Organisation von Straßentheater am Regime | |
| vorbei begann, umfasst heute längst nicht mehr „nur“ klassisches Theater, | |
| sondern vereint darüber hinaus Künstler*innen aus den Bereichen Tanz, | |
| Musik, Zirkus und Performance. „Das Festival ist sehr wichtig vor allem für | |
| Künstler*innen aus Lateinamerika. | |
| Hier können sie ihre Werke präsentieren, sich vernetzen und sie so | |
| hoffentlich auch in die Welt hinaustragen“, sagt Romero Quero. In Chile | |
| werde keine der Theaterkompanien vom Staat subventioniert, „weshalb viele | |
| prekär leben.“ Ein Teil des Festivals ist deshalb unter dem Namen Platea | |
| exklusiv für Menschen aus der Branche angelegt, wo noch unfertige Stücke | |
| präsentiert und für diese Kooperationen gesucht werden. | |
| Mit „Vampyr“ stellt Manuela Infante in diesem Jahr eines jener Works in | |
| progress vor. Basierend auf dem Mythos um den Blutsauger stellt die | |
| Regisseurin und Dramaturgin einen Zusammenhang zur hämatophagen Fledermaus | |
| her, die unter anderem in Zentralchile beheimatet ist und deren Überleben | |
| dort durch Windkraftanlagen als gefährdet gilt. | |
| ## Kritik an Ausbeutung der Natur | |
| Über Kunst und Aktivismus wird die Kritik derer immer lauter, die den | |
| sogenannten grünen Extraktivismus, also die Ausbeutung und kapitalistische | |
| Aneignung von Natur und Rohstoffen im Globalen Süden, anprangern. So auch | |
| Infante, deren Stück eines der wenigen in dieser Kategorie ist, das bereits | |
| so weit ausgearbeitet wirkt, dass es mehr als eine Idee erahnen lässt – | |
| auch dank der schauspielerischen, sehr auf Körper und Mimik basierenden | |
| Leistung der beiden Darstellenden Marcela Salinas und David Gaete. | |
| Ebenfalls interessant und vom Fachpublikum mit Lachern wie ausgewogenem | |
| Applaus honoriert ist auch die neueste Stückentwicklung von Guillermo | |
| Calderón. Neben seiner Tätigkeit als Dramaturg und Theaterregisseur ist | |
| Calderón international vor allem als Drehbuchautor bekannt, so etwa für | |
| den 2015 mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten [2][Film „El Club“] sowie | |
| für die [3][Pinochet-Persiflage „El Conde“, die vergangenes Jahr beim | |
| Filmfest von Venedig Premiere hatte.] | |
| Sein Stück „Villa“, in dem drei Frauen darüber entscheiden sollen, was aus | |
| dem ehemaligen Folterzentrum Villa Grimaldi wird, gilt als eines der | |
| bedeutendsten, wenn es darum geht, Erinnerungsarbeit auf die Bühne zu | |
| bringen. | |
| In „Vaca“, seinem neuesten Projekt, wagt er ein Gedankenexperiment, das | |
| vielerorts längst Realität geworden ist: Wie Menschen zu Faschist*innen | |
| werden, ohne es zu bemerken, wolle er verdeutlichen, erklärt er zu Beginn | |
| der Aufführung, die einer öffentlichen Probe gleicht. Ausgangspunkt hierfür | |
| sind der Handlung zufolge prekäre Arbeitsbedingungen, die im auf einer | |
| neoliberalen Wirtschaft basierenden Chile – aber auch in anderen Teilen der | |
| Welt – die soziale Ungleichheit verschärfen. | |
| ## Verlust als Thema | |
| Auch deutschsprachige Künstler*innen waren immer wieder zu Gast bei | |
| Santiago a Mil. So etwa Pina Bausch, Sasha Waltz, Christoph Marthaler und | |
| der in Lateinamerika sehr verehrte Schaubühnenintendant Thomas Ostermeier. | |
| In diesem Jahr bespielte das deutsche Theaterkollektiv Rimini Protokoll an | |
| drei Abenden eine der zehn Bühnen der Stadt. | |
| In „All right. Good night“ verhandelt das Kollektiv das Verschwinden von | |
| Menschen und den Verlust, ein Thema, das auch im chilenischen Theater immer | |
| wieder eine zentrale Rolle spielt und in Stücken wie Calderons „Villa“, �… | |
| amante fascista“ oder „Primavera con una esquina rota“ nach einer Novelle | |
| von Mario Benedetti Eingang findet. | |
| „Theater ist für mich ein Mittel, unsere Demokratie zu verteidigen, die an | |
| so vielen Orten weltweit gerade in Gefahr ist“, sagt Romero Quero. Für sie | |
| sei es kein Wunder, dass Theater von Rechten mit als Erstes angegriffen | |
| werden, schließlich seien sie Orte der Gemeinschaft. „Ohne diese | |
| widerständigen Räume, die hier in Chile auch auf der Straße, auf Plätzen | |
| und in Parks zur Bildung der Gesellschaft beitragen, ist es für | |
| diktatorische Regime viel einfacher, ihre faschistischen Ideologien zu | |
| verfestigen.“ | |
| Die letzte Station der drei Elefanten und ihres Gefolges ist das | |
| Nationalstadion Santiagos. Während der Diktatur wurden hier tausende | |
| Menschen gefoltert, darunter auch Künstler*innen. Einige verschwanden für | |
| immer. Abschnitt acht der Zuschauertribüne erinnert an diese Zeit. | |
| „Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft“, steht hier in | |
| metallenen Lettern. „Die Erinnerung ist Teil der Identität des chilenischen | |
| Theaters“, sagt Romero Quero. Sie brauche es, für eine Zukunft der | |
| Demokratie. | |
| Transparenzhinweis: Dieser Text wurde durch die Fundación Teatro a Mil | |
| unterstützt | |
| 24 Jan 2024 | |
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| [1] https://teatroamil.cl/ | |
| [2] /Missbrauch-in-der-katholischen-Kirche/!5248013 | |
| [3] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5952929 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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