# taz.de -- Chilenische Band Armadillo Cactus: Bevor die Gesellschaft austrockn… | |
> Armadillo Cactus suchen mit Musik nach sinnstiftendem Leben. Mit ihrem | |
> Label machen sie auf Sexismus und Wasserknappheit aufmerksam. | |
Bild: Folgen von Klimawandel und Avocado-Anbau: Armadillo Cactus in der ausgetr… | |
Rissiger Boden, dazwischen verdorrtes Gras, Knochen ragen aus dem, was mal | |
der Grund eines Sees war. So beginnt „Ausencia del agua“ (Wasserknappheit), | |
[1][ein Dokumentarfilm] des chilenischen Labels Atacama Records. | |
„Gleichgültigkeit und Trägheit sind Merkmale der neuen Modernität“, | |
erscheint in weißen Lettern auf den Bildern, die den Blick über die Laguna | |
de Aculeo streifen lassen. | |
„Wir hören auf zu fühlen und zu sehen. Es ist die Ära der Sinnesknappheit. | |
Was passiert, wenn wir den Sinn verlieren?“ Im Off beginnt eine Stimme zu | |
erzählen, was es auf sich hat mit diesem ausgetrockneten See. Es spricht | |
die Stimme von Véronica Barriga, Mitbegründerin von Atacama Records, | |
Gitarristin und eine der beiden Sänger:innen der Band Armadillo Cactus. | |
Gemeinsam mit Schwester Magdalena steht sie für Tropical Indie, einen | |
Sound, den die Band für sich reklamiert und nach dem sie ihr kommendes | |
Album benannt hat. „Seit Bandgründung 2012 haben wir musikalisch einen | |
Prozess durchlaufen“, sagt Barriga der taz. Eine Prise Indie-Pop, ein | |
bisschen Rock ‚n‘ Roll, so präsentierte sich das Quintett bereits auf Tour | |
in Mexiko und Europa. | |
Zu E-Gitarren, Schlagzeug, Synthesizer und der subtilen Bassline mischen | |
sich auch elektronische Sequenzen – und, dank des Percussionisten Diego | |
Sanhueza, traditionelle Afrolatin-Rhythmen. So entsteht Musik, die einen in | |
die magische Wüstenwelt im Norden Chiles bis hin zu den saftig-grünen | |
Berglandschaften im Süden versetzt. Musik, die vor allem in Stücken wie | |
„Carita“ und „Respirar“ an die kolumbianische Band Bomba Estéreo erinn… | |
## Misogynie in der neoliberalen Musikszene | |
Armadillo Cactus veröffentlichen ihre Musik unabhängig vom Mainstream – auf | |
ihrem eigenen Label. „Atacama erschafft einen kollaborativen Raum, um | |
Erfahrungen und Ressourcen zu teilen und einen Beitrag zur chilenischen | |
Musikindustrie aus weiblicher Perspektive zu leisten“, sagt Véronica | |
Barriga. | |
Das [2][Leben als Künstler*in im neoliberalen Chile] ist schwer: | |
Staatliche Unterstützung für kulturelle Projekte gibt es kaum, der Weg | |
dorthin wird durch Bürokratie erschwert. Die regionale Musikindustrie | |
stützt sich zudem auf Machismo und Sexismus, beides wird in den beliebten | |
Musikrichtungen Trap und Reggaeton zu misogynen Botschaften verpackt. Ein | |
Gegengewicht dazu aufzubauen, ist quasi unmöglich. | |
Neben der Musik arbeiten die Barrigas als Architektin und Grafikdesignerin. | |
„Kunst wird hierzulande durch Eigenengagement aufrechterhalten“, sagt | |
Barriga. Die Schwestern verstehen ihr Label als Kooperative, „damit nutzen | |
wir unser musikalisches Talent als Werkzeug für eine soziokulturelle | |
Transformation“. So fördert „Hijas del ritmo“ („Töchter des Rhythmus�… | |
eines der Unterprojekte von Atacama Records, etwa chilenische | |
Musiker*innen wie Camila Vaccaro, Yinyer und Geonautas, damit neben dem | |
Mainstream auch andere Musik existiert. | |
Jenseits der soziokulturellen Ebene wollen Véronica und Magdalena Barriga | |
mit Atacama Records auch sozio-ökologisch etwas verändern und auf | |
Missstände in Chile aufmerksam machen. Im Dokumentarfilm „Ausencia del | |
agua“ kommen neben Armadillo Cactus vier weitere Musikgruppen zu Wort. Ihre | |
Musik in der ausgetrockneten Lagune ist ein Anfang. „Während das Land | |
austrocknet, überleben die Künste die Gleichgültigkeit. Das Wasser ist für | |
das Land wie die Kultur für das soziale Gefüge“, spricht Barriga aus dem | |
Off. | |
Ein Statement, das die komplizierte Lage für Kultur außerhalb des | |
Mainstreams benennt. Und „Ausencia del agua“ macht damit auch auf die | |
[3][Misswirtschaft mit natürlichen Ressourcen] aufmerksam, die der | |
Privatisierung des Trinkwassers zu verdanken ist. | |
## Ausbeutung von Wasserressourcen | |
Eine Autostunde von Santiago entfernt, in der Nähe der Stadt Paine gelegen, | |
war die Laguna de Aculeo beliebtes Ausflugsziel für Hauptstädterinnen, bis | |
sie 2018 austrocknete. Als ausschlaggebend galt eine jahrelange Dürre, die | |
in den zentral gelegenen Regionen des Landes anhält und für die zunächst | |
ausschließlich klimatische Veränderungen verantwortlich gemacht wurden. | |
Eine 2022 veröffentlichte Studie offenbarte jedoch einen weiteren | |
[4][Aspekt für die Wasserknapphei]t: Neben der um 30 Prozent gesunkenen | |
Niederschlagsrate gilt auch die Ausbeutung der Wasserressourcen als | |
maßgeblich für die Austrocknung. Speziell der Anbau von Avocados verlangt | |
Unmengen von Wasser, weshalb ganze Flüsse umgeleitet und Seen angepumpt | |
werden. Das Gesetz hierzu stammt [5][noch aus der Pinochet-Diktatur] und | |
sollte die Export-orientierte Agrarwirtschaft fördern. | |
Die meisten Wassernutzungsrechte liegen in Chile bei Großkonzernen, die | |
unabhängig vom Trinkwasserbedarf Wasser abschöpfen können. Dem Staat | |
verkaufen diese Konzerne Wasser, mit denen der wiederum die Bevölkerung | |
versorgt. Nicht nur die Existenz von Kleinbauern ist so gefährdet, gerade | |
der indigenen Bevölkerung wird durch zunehmende Abholzung für den | |
Agrarsektor die Lebensgrundlage entzogen. | |
Die Texte von Armadillo Cactus enthalten eher subtile Botschaften. Sie | |
erzählen von einer Sehnsucht danach, in Ruhe leben zu können, sich mit | |
seiner Umgebung und den Menschen in ihr verbunden zu fühlen und nicht mehr | |
angstgetrieben in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft sein zu müssen. | |
I[6][m Video zu „Dime“] schweben die Schwestern durch die ausgetrocknete | |
Lagune. Es scheint, als könnten sie nirgendwo mehr andocken in dieser | |
unwirtlichen Gegend. | |
„Me perdí cuando iba a partir / Busco, donde estar / Busco, despertar | |
/Busco vida más allá / Donde los miedos no me puedan encontrar“, [7][singen | |
die beiden] in „Luna“ über treibende Gitarrenriffs und fordernde | |
Percussion. Die Dringlichkeit, mit der nach einem sinnstiftenden Leben | |
gesucht wird, ist förmlich zu greifen, besonders, wenn es gegen Ende heißt: | |
„Vidaaaa, dónde estás Luna?“. | |
Ängste hängen im neoliberalen Chile oft unmittelbar mit Wohlstand zusammen. | |
In einem Land, in dem neben Wasser auch Kranken-, Rentenversicherung sowie | |
das Bildungssystem privatisiert sind, sexualisierte Gewalt eine große Rolle | |
spielt und der Zugang zu Abtreibungen verwehrt wird, wachsen sie rasant, | |
die Ängste vorm Krankwerden, vor Armut und sozialer Segregation. | |
Der Traum wäre es, von der Kunst leben zu können, darin sind sich die | |
Schwestern einig. „Die Gesellschaft in unserem Land ist von Angst | |
getrieben“, weiß Véronica Barriga; Angst, die eng mit Chiles Geschichte | |
zusammenhängt. Die Frustration hört man der Musik von Armadillo Cactus | |
glücklicherweise nicht an. | |
„Musik ist für mich eine transformative Sprache“, sagt Véronica Barriga. | |
„Musik hat das Potenzial, sowohl pädagogisch, therapeutisch als auch | |
spielerisch zu wirken und so nicht nur [8][der Erinnerung zu dienen], | |
sondern als wichtiges Zeitdokument“, sagt die 43-Jährige. Sie müsse aber | |
auch gehört werden. Um das zu erreichen, wurde Atacama Records gegründet. | |
Nach einem Starkregen konnte sich kürzlich erstmals seit 2018 wieder Wasser | |
in der Laguna de Aculeo sammeln. Dass dieses nicht endlos ist, seine | |
Ausbeutung sichtbare Schäden hinterlässt, davon zeugt „Ausencia del agua“ | |
sowie die Musik einer neuen Generation von Chilen*innen. | |
28 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://vimeo.com/755468461 | |
[2] /50-Jahre-Militaerputsch-in-Chile/!5954774 | |
[3] /Ist-gruener-Extraktivismus-eine-Loesung/!5957555 | |
[4] /Festival-zu-Wasser-im-Radialsystem/!5949002 | |
[5] /50-Jahre-Pinochet-Putsch-in-Chile/!5957725 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=7DhX76KW7zI | |
[7] https://open.spotify.com/intl-de/artist/3P4yrfh9B82QbiTklIOjaN?si=uDHn44nUQ… | |
[8] /Anthropologin-ueber-Massengraeber-in-Chile/!5957337 | |
## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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