# taz.de -- Anthropologin über Massengräber in Chile: „Die Angehörigen bra… | |
> Immer wieder tauchten in Chile von der Diktatur hinterlassenen | |
> Massengräber auf. Die Anthropologin Daniela Leiva sucht nach | |
> „Verschwundenen“. | |
Bild: Daniela Leiva bei der Arbeit | |
taz: Frau Leiva, Sie arbeiten als forensische Anthropologin. Was ist Ihre | |
Aufgabe? | |
Daniela Leiva: Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, menschliche | |
Überreste zur Identifizierung zu nutzen. Wir untersuchen Überreste, die | |
nicht durch Fingerabdrücke oder das Gesicht identifiziert werden können. | |
Dabei kann es sich um abgetrennte Körperteile handeln, oft in einem | |
fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung, einzelne Knochen oder auch um | |
mumifizierte oder verbrannte Leichen. | |
Wie sind Sie zu dieser Tätigkeit gekommen? | |
Mein Großvater war politischer Gefangener während der Militärdiktatur von | |
Pinochet. Er gehörte vor dessen Tod zu einer Gruppe Ärzte, die Salvador | |
Allende betreuten. Nach dem Militärputsch 1973 unterstützte er die MIR | |
([1][Movimiento de Izquierda Revolucionaria]) im Untergrund medizinisch. | |
Dafür wurde er festgenommen und 14 Monate eingesperrt, wobei er 4 davon als | |
sogenannter desaparecido, also als Verschwundener, galt, weil meine Familie | |
nicht wusste, wo er war. Unter anderem hielt man ihn währenddessen in der | |
Villa Grimaldi fest, einem der bekanntesten Folterzentren der DINA – der | |
Geheimpolizei Pinochets. Aufgewachsen mit dieser Familiengeschichte wollte | |
ich einen Beitrag zur Aufklärung der Verbrechen leisten, die während der | |
Diktatur in Chile begangen wurden, und so wenn möglich für etwas | |
Gerechtigkeit sorgen. | |
Konzentrieren Sie sich in Ihrer Arbeit deshalb auf die Verschwundenen? | |
Auch. Im Zuge meines Studiums habe ich zudem an Ausgrabungen von | |
Massengräbern aus dem Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen. Da habe ich zum | |
ersten Mal gemerkt, wie wichtig diese Arbeit ist. Die Kinder der | |
Verschwundenen waren teilweise schon tot oder sehr alt, also haben die | |
Enkel*innen weiter nach ihren Verwandten gesucht. Das Verschwindenlassen | |
von Menschen ist eine gezielte Foltertechnik, die eine Familie derart | |
entwaffnet, dass das hinterlassene Trauma über Generationen hinweg vererbt | |
wird. Gibt es eine verschwundene Person in der Familie, zerbricht die | |
Familienstruktur für immer. | |
Und wenn Sie die Überreste finden und an die Familien zurückgeben, ist die | |
Gerechtigkeit wiederhergestellt? | |
Nein, aber immerhin können die Familien so vielleicht abschließen. Viele | |
forensische Anthropolog*innen entscheiden, dass die Familien nicht an | |
der Bergung der menschlichen Überreste teilnehmen sollen. In meinem Team | |
finden wir aber, dass es ein wichtiger Teil der Wiedergutmachung ist, wenn | |
die Familien teilhaben können – sofern sie das möchten. Hier in Chile sind | |
bis zu 50 Jahre vergangen, in denen die Menschen nicht wissen, was mit | |
ihren Angehörigen passiert ist. Auch, wenn ziemlich klar ist, dass sie tot | |
sind, brauchen die Angehörigen Klarheit. Wir ziehen auch | |
Psycholog*innen hinzu, um die Angehörigen zu unterstützen, aber auch, | |
damit wir, wenn nötig, selbst Hilfe bekommen. Massengräber auszuheben ist | |
keine leichte Arbeit, es ist ein komplexer Prozess und teilweise brutal. An | |
die Arbeit mit den sterblichen Überresten gewöhnt man sich, aber der | |
Kontext, der kann einem zu schaffen machen. | |
Sie sprechen von Wiedergutmachung. Wäre es im Falle Chiles nicht Aufgabe | |
des Staates, diese zu leisten? | |
Im Grunde ja. Allerdings herrscht wenig Vertrauen diesbezüglich in die | |
staatlichen Institutionen. [2][In den Neunzigerjahren wurden im Norden des | |
Landes sowie auf einem Friedhof in Santiago Massengräber gefunden]. Damals | |
gab es keine Spezialist*innen in Chile, die qualifiziert gewesen wären, | |
diese Identifizierungen durchzuführen. Es wurden viele Fehler gemacht und | |
Leichen falsch identifiziert, an ihre Angehörigen übergeben. Diejenigen, | |
die die Fehler begingen, arbeiteten für den staatlichen | |
gerichtsmedizinischen Dienst, weshalb viele heute diesem gegenüber noch | |
misstrauisch sind. Viele Angehörige sehen im heutigen Staat immer noch | |
ebenjenen, der unter Pinochet für die Verbrechen an ihren | |
Familienmitgliedern verantwortlich ist. Das liegt auch daran, dass keiner | |
von den Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurde. | |
Das Misstrauen in die chilenischen Institutionen wie Polizei und Justiz | |
hält bis heute an, sagten Sie. Was hat das mit dem Aufstand von 2019 zu | |
tun? | |
Während der [3][Massenproteste 2019] wurden sukzessive Menschenrechte | |
verletzt. Für diese Fälle wurde von staatlicher Seite bis heute keine | |
Verantwortung übernommen. Mein Team und ich arbeiten an einem Fall, bei dem | |
sechs Menschen in einer Wäschefabrik verbrannt sind. Die Untersuchungen des | |
gerichtsmedizinischen Dienstes waren – nennen wir es – nachlässig. Weshalb | |
unser Team eine weitere Untersuchung vorgenommen hat. Dabei haben wir | |
festgestellt, dass die Knochen Spuren von Projektilen aufwiesen, was vorher | |
nicht dokumentiert wurde. Die Untersuchungen laufen noch, weshalb wir noch | |
nicht sagen können, was da genau passiert ist. | |
Eine letzte Frage: Mögen Sie Ihre Arbeit? | |
Trotz aller Schwierigkeiten, ja. Wir opfern viel Zeit und Energie für diese | |
Aufgabe, weshalb die meisten von uns auch kein Familienleben haben. Es ist | |
emotional herausfordernd, aber für mich bedeutet es auch eine Möglichkeit, | |
Teil des historischen Gedächtnisses zu sein. Besonders heute, wo die Rechte | |
wieder derart stark ist und weite Teile der Gesellschaft einem | |
Negationismus verfallen sind, darf dieses Thema nicht in Vergessenheit | |
geraten. Denn die Vergangenheit dieses Landes wirkt bis heute nach. | |
9 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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