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# taz.de -- Linke Kulturszene in Chile: Woher Hoffnung nehmen?
> Chile stimmt erneut über eine neue Verfassung ab. Viele Linke wollen
> diese ablehnen, selbst wenn damit die diktatorischen Pinochet-Gesetze
> gültig bleiben.
Bild: Am 11. September 2023 jährte sich der Militärputsch zum 50. Mal. Viele …
„Wenn du deine Vergangenheit nicht verstehst, wirst du sie wiederholen“,
sagt die Person mir gegenüber. Eigentlich sagt sie es nicht, sie rappt es.
Auf Spanisch. Dabei handelt es sich um eine Songzeile des chilenischen
Rappers SubVerso: „Du kannst dich nicht vorwärtsbewegen, ohne zu wissen,
was hinter dir ist“, heißt es dort weiter.
Fernanda Calhueque Berrios, die mir gegenüber sitzt an einem regnerischen
Septembertag in Santiago de Chile und mitten in unserem Gespräch anfängt,
Passagen aus dem 2000er Song „Nada menos, nada más“ zu rappen, ist
Schauspielerin, Sängerin und Dozentin für Theater. Gemeinsam mit drei
weiteren Frauen gründete sie 2018 das Musikkollektiv Gata Engrifá, um
weiblich gelesenen Menschen den Zugang zum HipHop zu ermöglichen.
Wie hunderttausende Chilen*innen ging das Kollektiv vor vier Jahren auf
die Straße, um gegen die noch aus der Militärdiktatur stammende Verfassung
und das in ihr verankerte neoliberale System zu protestieren, das die
immense soziale Ungleichheit im Land stützt. Der sogenannte Estallido
social markiert eine Zäsur für das Andenland. Ausgelöst von Tariferhöhungen
im öffentlichen Nahverkehr dauerten die Proteste, die ab dem 18. Oktober
2019 das ganze Land erfassten und auch international zu Protestwellen
führten, bis zum Beginn der Pandemie an.
Calhueque Berrios und ihre Kolleginnen gingen beinahe täglich auf die
Straße, performten [1][Songs wie „Aborta la conducta“] (zu Deutsch: Treibt
dieses Verhalten ab), um auf die alltägliche Gewalt, die Frauen* im Land
erfahren, aufmerksam zu machen und sich für das Recht auf körperliche
Selbstbestimmung einzusetzen.
## Soziale Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch
Dieses ist in Chile stark eingeschränkt: Abtreibungen sind nur in
Ausnahmefällen legal möglich. Außerdem unterliegt „der Zugang zu
Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Rente den Regeln des Markts“,
heißt es zu Beginn in [2][„Sentido (en) Común“ (2020). In dem
Dokumentarfilm] begleiten die Journalistin wie [3][taz-Autorin Sophia
Boddenberg] und der Musiker Michell Moreno die Proteste vor vier Jahren.
Spontane Interviews mit Protestierenden, Aufnahmen von Straßenschlachten
und Polizeigewalt sind darin zu sehen.
„Der ganze Machtmissbrauch und die soziale Ungerechtigkeit haben sich
angestaut“, sagt eine der Protestierenden, eine Frau mit weißem Kurzhaar,
schätzungsweise in ihren Vierzigern und damit Teil einer Generation, die
die Diktatur als Kind noch miterlebt hat.
Diese Jugend, die nach Ende der Diktatur in den 1990ern und frühen 2000ern
aufwuchs, wusste noch um das Schweigen, das, wie der Neoliberalismus in der
Verfassung verankert, den vorhergegangenen Generationen mit gewaltsam
durchgesetzten Repressionen auferlegt wurde. Erst nach und nach wurde
dieses Schweigen gebrochen, insbesondere von den Kindern und Enkel*innen
Betroffener.
„Es gibt Erfahrungen, die man lebt oder weitergegeben bekommt, die
unbewusst unsere Verhaltensweisen, unsere Gesten und auch unser Schweigen
bestimmen“, sagt Véronica Estay Stange, mit der ich mich in der Küstenstadt
Valparaiso treffe. In ihrer Arbeit beschäftigt sich die 1980 im
mexikanischen Exil geborene Autorin mit transgenerational weitergegebenen
Traumata und Erinnerungsarbeit.
Valpo, wie man die Hafenstadt nennt, war Ausgangspunkt vom Militärputsch am
11. September 1973, durch den Augusto Pinochet gewaltsam an die Macht kam.
Estay Stange ist Literaturwissenschaftlerin, lebt in Frankreich und hat in
diesem Jahr mit [4][„La resaca de la memoria“ ein Buch] über ihre
Familiengeschichte geschrieben.
## Geschichtsrevision von Pinochet-Anhängern
Sie ist unter anderem Mitglied von Historias Desobedientes, einem
Kollektiv, dessen Mitglieder Angehörige derer sind, die in
Militärdiktaturen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen begingen.
Estay Stanges Eltern wurden als Mitglieder der kommunistischen Partei in
den 70er Jahren festgenommen, gefoltert und schließlich exiliert.
Über ihren Onkel väterlicherseits habe man nie gesprochen, sagt sie. Dabei
ist er es, der vielen Chilen*innen in den Sinn kommt, wenn sie ihren
Namen nennt. Miguel Estay alias „El Fanta“ war ebenfalls Mitglied der
kommunistischen Partei, auch er wurde gefangengenommen, gefoltert und
verriet letztendlich seinen Bruder sowie weitere Genoss*innen. Estay
wechselte die Seiten, wurde als Folterer berüchtigt, bis er 1994 für den
Mord an drei Kommunisten lebenslang in Haft kam.
Bereut habe er seine Taten nie, sagt Estay Stange, sie stattdessen
gerechtfertigt und verharmlost. „Dass ich über meine Familiengeschichte
schreibe und spreche, hilft vielleicht anderen meiner Generation, Dinge zu
hinterfragen, die nie gesagt oder hinterfragt werden durften. Dinge, die
heute zu Leugnung und Geschichtsrevisionismus führen“, sagt Estay Stange.
Auch Calhueque Berrios sieht die Gefahr der Geschichtsverklärung, die vor
allem von Rechten und ehemaligen Pinochet-Anhängern betrieben wird. „Wir
sind die Kinder und Enkel*innen eines diktatorischen System, das in
Teilen weiterbesteht“, sagt sie und spielt dabei auch auf die aktuell
bestehende Verfassung an. „Ich habe die Diktatur nicht erlebt, aber:“ ist
auf Plakate gedruckt, die man immer wieder in Santiago verteilt findet,
„ich lebe unter ihrer Verfassung“ hat jemand mit schwarzem Stift auf ein
Exemplar an der Fassade des Kulturzentrum Gabriela Mistral geschrieben.
Während des Estallido social wollte man auf all das aufmerksam machen.
Zunächst mit Erfolg: [5][2020 begann der Prozess zur Ausarbeitung einer
neuen Verfassung], von der sich viele Chile*innen maßgebliche Änderungen
erhofften: Mehr Rechte für die [6][indigene Bevölkerung Chiles, besonders
für die Mapuche], denen ein Großteil ihres Landes geraubt wurde. Auch mehr
Rechte für Frauen und Queers sowie Grundrechte wie einen niedrigschwelligen
Zugang zu Bildung, Gesundheit, Altersversorgung und Pflege sollten
garantiert, zudem der Umweltschutz gestärkt werden.
2022 dann der herbe Schlag: In einem Referendum stimmte die Mehrheit gegen
den neuen Verfassungsentwurf. Rechte Desinformationskampagnen
schürten vorab die Ängste der Menschen, in sozialen Medien kursierten
Verschwörungsideologien und Falschmeldungen, um eine vermeintlich
„kommunistische Diktatur“.
„Schauen Sie in welche Zeitung auch immer hierzulande, und Sie werden
sehen, dass das, was die Linke zu erreichen versucht, diffamiert wird“,
sagt Luis Navarro, als wir uns in seiner Wohnung in Bellavista, einem
zentral gelegenen Stadtviertel Santiagos, treffen. Unweit von hier kamen
2019 Hunderttausende zusammen, auf der Plaza Italia, die kurzzeitig als
Plaza Dignidad (Platz der Würde) in die Geschichte einging.
Der heute 85-jährige Navarro ist einer der bedeutendsten Fotografen des
Landes. Seine Bilder aus der Zeit der Diktatur gelten als wichtige
Zeitdokumente. Bevor sich jede*r mit seinem Handy als Fotograf und
Reporter inszenieren konnte, waren es einige wenige, die unter Gefahr für
Leib und Leben auf die Straße gingen. „Wenn du kein Geld hast, stirbst du
in diesem Land“, sagt Navarro auf heute bezogen. Gesundheit wie auch
Bildung seien hier Geschäftsmodelle: „Natürlich hat man hier Zugang zu
allem, aber nur wenn man auch zahlen kann.“ Viele Chilen*innen
verschulden sich deshalb oder leben prekär wie Navarro.
An den Protesten habe er damals nicht teilgenommen, zu müde sei er bereits,
habe so viel Staatsgewalt erlebt, dass es für ein Leben reiche, sagt er. Im
Zuge der Sozialproteste griffen Militär und Polizei gewaltsam ein, der
damalige rechtskonservative Präsident Piñera sagte, man befände sich im
Krieg. Organisationen wie Amnesty International prangern bis heute das
Vorgehen des Staats gegen die Protestierenden als
Menschenrechtsverletzungen an.
[7][Verletzt wurden viele an den Augen], vorsätzlich, da sind sich Navarro
und Calhueque Berrios sicher. Zur Einschüchterung, um den Blick auf die
Realität zu verhindern, sagt einer der Protestierenden in „Sentido (en)
Común“, sein linkes Auge verborgen unter einem Pflaster, so sei die
Exekutive schon in den 70er und 80er Jahren vorgegangen. Am 17. Dezember
soll es zu einer erneuten Abstimmung kommen. Der aktuelle
Verfassungsentwurf wurde diesmal mehrheitlich von Vertreter*innen
rechter Parteien ausgearbeitet, die unter anderem das Abtreibungsrecht noch
weiter einschränken wollen.
Meine Gesprächspartner*innen werden den Entwurf ablehnen, da er keine
Verbesserung zur Pinochet-Verfassung darstellt. Was danach kommt, weiß
niemand so genau. Geschichte verläuft nicht linear, sondern in Zyklen,
besagt eine Theorie. Um diese Zyklen zu durchbrechen, müssen wir uns aber
der Vergangenheit erinnern, um es mit SubVerso zu sagen.
11 Dec 2023
## LINKS
[1] https://open.spotify.com/intl-de/track/7jXCvYWTFLaHwPsmBXFBF2?si=32214d4445…
[2] https://youtu.be/dMxUsQ_SR8I?si=wMDHxyT7PejbwU6C
[3] /Sophia-Boddenberg/!a53292/
[4] https://lom.cl/products/la-resaca-de-la-memoria
[5] /Referendum-in-Chile/!5723304
[6] /Indigene-in-Chile/!5961520
[7] /Proteste-in-Chile/!5642451
## AUTOREN
Sophia Zessnik
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