| # taz.de -- Referendum in Chile: Noch mal nein zu neuer Verfassung | |
| > Der Verfassungsentwurf scheitert erneut. Präsident Boric erklärt den | |
| > Prozess für beendet – das Grundgesetz aus der Pinochet-Diktatur bleibt | |
| > erst mal. | |
| Bild: Der Verfassungsentwurf geht in Flammen auf: Protest am Sonntag in Santiago | |
| Santiago de Chile taz | In Chile ist zum zweiten Mal der Versuch | |
| gescheitert, eine neue Verfassung zu verabschieden. Knapp 56 Prozent der | |
| Wähler*innen lehnten am Sonntag einen Entwurf ab, der von einem | |
| Verfassungsrat ausgearbeitet worden war, in dem die rechtsextreme | |
| Republikanische Partei die Mehrheit hatte. | |
| Die Parteien der linksgerichteten Regierungskoalition sowie soziale | |
| Bewegungen hatten aufgerufen, den Entwurf abzulehnen. Feministische | |
| Organisationen warnten davor, dass er eine Gefahr für Frauenrechte | |
| darstelle, weil er unter anderem [1][das Recht auf Abtreibung noch stärker | |
| eingeschränkt] hätte. | |
| Ein erster Entwurf war von einem von linken und progressiven Kräften | |
| geprägten Verfassungskonvent ausgearbeitet worden. Er hätte das Recht auf | |
| Wohnraum, Bildung und Gesundheit garantiert und die Rechte von Frauen, | |
| queeren Personen und Indigenen gestärkt. Linke Politiker:innen und | |
| Aktivist:innen weltweit hatten eine Symbolkraft von der Verfassung | |
| erhofft. [2][Aber eine Mehrheit lehnte den Text im September 2022 ab.] | |
| Präsident Gabriel Boric erklärte nun, dass dies der letzte Versuch gewesen | |
| sei, die Verfassung zu verändern. Das in Chile gültige Grundgesetz stammt | |
| aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973–1990). „Während unserer Amtszeit | |
| ist der Verfassungsprozess abgeschlossen. Die Dringlichkeiten sind andere“, | |
| sagte Boric noch am Wahlabend. | |
| ## Desinteresse und Politikmüdigkeit | |
| Statt Hoffnung habe der verfassungsgebende Prozess Ablehnung und | |
| Abstumpfung erzeugt. „Die Politik steht in der Schuld des chilenischen | |
| Volkes“, fügte Boric hinzu. Die Regierung werde sich jetzt auf die | |
| angekündigte Renten- und Steuerreform konzentrieren. Der jüngste Präsident | |
| in der Geschichte Chiles konnte bisher nur wenige seiner politischen | |
| Vorhaben umsetzen, weil er keine Mehrheit in den beiden Parlamentskammern | |
| hat. | |
| Das Wahlergebnis sei „ein frischer Wind in einer politischen Periode, die | |
| von Zwietracht und Polarisierung geprägt war“, hieß es in einer gemeinsamen | |
| Erklärung der Regierungsparteien, die den Entwurf ablehnten. „Wir stehen | |
| vor der dringenden Notwendigkeit, die Agenda des realen Chile mit den | |
| Prioritäten des politischen Systems in Einklang zu bringen: Sicherheit, | |
| Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Renten, Gesundheit und Bildung“, hieß | |
| es weiter. | |
| Der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Vorsitzende der rechten | |
| Republikanischen Partei, José Antonio Kast, erkannte die Niederlage an, | |
| bezeichnete das Ergebnis aber gleichzeitig als Zuspruch für die Verfassung | |
| aus der Diktatur. „Die Chilenen haben heute klar gesagt, dass sie die | |
| derzeitige Verfassung beibehalten wollen“, sagte er bei einer Ansprache am | |
| Wahlabend. | |
| Seine Partei befindet sich in einer Krise. Ihr einziges Senatsmitglied, | |
| Rojo Edwards, und 25 weitere Mitglieder waren noch vor dem Referendum aus | |
| der Partei ausgetreten. Edwards hatte sich gegen die neue Verfassung | |
| ausgesprochen und angekündigt, eine rechtslibertäre Partei zu gründen – | |
| wohl nach dem Vorbild des neuen argentinischen Präsidenten. Die rechten und | |
| unternehmernahen Sektoren in Chile wollten eigentlich nie eine | |
| Verfassungsänderung, weil das aktuell gültige Grundgesetz bereits ihre | |
| Interessen vertritt. | |
| Auf den Straßen der Hauptstadt Santiago herrschte am Wahltag Desinteresse | |
| und Politikmüdigkeit. „Wir einfachen Menschen haben ganz andere Prioritäten | |
| als eine Verfassung“, sagte der 34-jährige Maschinenführer Juan Gómez in | |
| einem Park im Zentrum von Santiago zur taz. | |
| Er habe den Verfassungsentwurf nicht gelesen und sich auch nicht über die | |
| Wahl informiert. Mit seinem Lohn komme er kaum über die Runden, deshalb | |
| habe er viele Schulden. „Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität – das sind | |
| unsere Prioritäten. Keine Verfassung führt dazu, dass mein Lohn steigt. | |
| Egal, welche Verfassung wir haben, ich muss ja morgen trotzdem arbeiten | |
| gehen.“ | |
| 18 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Boddenberg | |
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