| # taz.de -- Taiwanesischer Dramaturg über China: „Hongkong ist Taiwans Spieg… | |
| > Der taiwanische Dramaturg Yi-Wei Keng warnt vor der Bedrohung durch | |
| > Peking. Damit der Inselstaat nicht gespalten werde, sei die Kultur nun | |
| > umso wichtiger. | |
| Bild: Der taiwanesische Dramaturg Yi-Wei Keng vor dem Radialsystem Ende August … | |
| taz: Herr Keng, schön, Sie zu sehen. | |
| Yi-Wei Keng: Hallo. Man hat mir gesagt, die taz sei eine linke Zeitung. | |
| Stimmt das? | |
| Das stimmt. Wo stehen Sie politisch, links oder rechts? | |
| Links, aber nicht zu weit links. In Taiwan funktioniert das Konzept von | |
| rechts und links anders, denn wenn man zu sehr nach links tendiert, ist man | |
| irgendwann nahe an China, an der kommunistischen Partei. Die Linke hat es | |
| schwer in Taiwan. Zwar gibt es bei uns auch Bewegungen, die sich | |
| beispielsweise für Gendergerechtigkeit einsetzen, für Minderheitenpolitik, | |
| aber man nennt sie nicht links, obwohl sie es gemäß ihren Ansichten | |
| eigentlich wären. | |
| Ähnlich ist es mit Nationalismus, oder? Traditionell dem rechten Spektrum | |
| zugeordnet, ist ein gewisses Maß an Nationalismus in Taiwan wahrscheinlich | |
| parteiübergreifend notwendig. | |
| Ja. Etwa 95 Prozent der Taiwaner wollen keine Vereinigung mit China. Aber | |
| unsere Insel liegt zu nah an China. In den 1990er Jahren sind viele | |
| Geschäftsleute aus Taiwan aufs Festland gegangen. Das hat Taiwan abhängiger | |
| gemacht von der chinesischen Wirtschaft. Mein Vater ist in China geboren, | |
| ich in Taiwan. Erst die dritte Generation, glaube ich, empfindet sich als | |
| ganz und gar taiwanisch. Ich habe in Taiwan Ende der 1980er Jahre | |
| angefangen zu studieren. Da war der Kalte Krieg gerade vorbei. Das Konzept | |
| der Welteinteilung in Blöcke, in Kommunismus und in freie Welt, hat mich | |
| also noch sehr geprägt. [1][Bei der jüngeren Generation ist das anders.] | |
| Sie ist in Freiheit geboren, musste nicht so sehr für alles kämpfen. | |
| Sie haben Ihr Studium in Taiwan zu einer Zeit begonnen, als die Insel | |
| demokratischer wurde, unter der Präsidentschaft Chiang Ching-kuos, dem Sohn | |
| von Langzeitherrscher Chiang Kai-shek. Fortgesetzt haben Sie Ihr Studium | |
| dann in Prag, das wenige Jahre zuvor noch Hauptstadt der Tschechoslowakei | |
| war, einem Satellitenstaat der Sowjetunion. Das waren Umbruchszeiten. | |
| Für mich war aber eine frühere Geschichtsepoche entscheidend. Tschechien | |
| ist ein kleines Land. Die Region wurde im 19. Jahrhundert kolonisiert vom | |
| Königreich Österreich-Ungarn. Die Menschen durften ihre eigene Sprache | |
| nicht sprechen. In Folge versuchten sie ihre Identität durch Kultur zu | |
| finden. Ich habe in Tschechien eine Parallele zu Taiwan festgestellt, das | |
| vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine | |
| japanische Kolonie war. Taiwanisch oder Mandarin zu sprechen war damals | |
| verboten, erlaubt war nur Japanisch. [2][Auch wir mussten damals unsere | |
| Identität und Kultur finden.] Ich bin nach Prag aber bloß aus Zufall | |
| gekommen. Die Beziehung zu meinem Vater war sehr schlecht, ich wollte nur | |
| weg aus Taiwan. | |
| Sie haben nonverbales Theater studiert. Was hat Sie daran gereizt? | |
| Auch das war eigentlich nicht so geplant. Es gab Probleme mit dem Visum für | |
| Tschechien. Eigentlich wollte ich weiter Philosophie studieren. Da ich in | |
| Taiwan während meiner Studienzeit Erfahrung am Theater gesammelt habe, | |
| reichte ich auch für nonverbales Theater eine Bewerbung ein und wurde | |
| sofort akzeptiert. Zurück in Taiwan arbeitete ich mit gehörlosen Menschen, | |
| da war nonverbales Theater ideal. Inklusives Theater gab es damals hier | |
| noch gar nicht. | |
| Wie frei war die Kulturszene in Taiwan, als Sie Ende der 1990er Jahre | |
| zurückkehrten? | |
| Die freiste Zeit für die Kultur in Taiwan waren die 1980er. 1987 wurde das | |
| Kriegsrecht aufgehoben. Wir waren frei und wussten das auch. Die Wirtschaft | |
| boomte. Ich war jung und war mit vielen älteren Aktivisten befreundet, die | |
| für die Demokratie gekämpft hatten, teilweise im Gefängnis waren. Wir saßen | |
| stundenlang zusammen und redeten über Politik. Das war Anfang der 2000er | |
| vorbei. Viele Leute verloren den Glauben an die Politik während der | |
| Präsidentschaft Chen Shui-bians, von 2000 bis 2008, dem Star der | |
| Demokratischen Fortschrittspartei, der in einen großen Korruptionsskandal | |
| verwickelt war. Danach redete man kaum noch über Politik. Wir waren immer | |
| noch frei, aber beherrscht vom Kapitalismus und enttäuscht. | |
| Dafür war die Beziehung zu China in der Zeit relativ gut. | |
| Ja. Austausch war möglich zwischen Taiwan und dem Festland von 2000 bis | |
| 2018. Mit dem Amtsantritt Xi Jinpings verschlechterte sich die Beziehung | |
| wieder. Er unterband den Austausch. | |
| Waren künstlerische Kooperationen mit dem chinesischen Festland möglich? | |
| Sie leiteten von 2012 bis 2017 das Taipei Arts Festival. | |
| Ja, ich lud chinesische Produktionen nach Taiwan ein. Eine davon | |
| beschäftige sich etwa in Form von Tanz mit der Minderheitenpolitik in | |
| China, auch mit Xinjiang (autonome Region, in der mehrheitlich Uiguren | |
| leben; Anm. d. Red.), das war damals noch möglich. Eines der Stücke | |
| handelte aber von Chiang Kai-shek, das wollte ich in Taiwan gern aufgeführt | |
| sehen. Da das kurz vor den Wahlen war, 2016, erlaubte es China nicht, weil | |
| man fürchtete, es würde ein schlechtes Licht auf Kai-sheks | |
| Kuomingtang-Partei werfen, die für eine Annäherung an China steht. | |
| Aktuell ist die Beziehung zwischen Taiwan und China äußerst angespannt. Was | |
| würde die taiwanische Kulturszene erwarten, sollte China militärisch | |
| angreifen? | |
| Wir sehen es an Hongkong. Hongkong ist Taiwans Spiegel. Komplette | |
| Gleichschaltung. Doch die Situation wäre noch ernster. In Hongkong wurde | |
| die Macht friedlich an China übergeben. Taiwan hat jedoch ein eigenes | |
| Militär. Uns würde eher eine Situation erwarten, wie wir sie gerade in der | |
| Ukraine erleben. Aber ich glaube, China legt es nicht darauf an, einen | |
| blutigen Krieg zu beginnen. Sie versuchen lieber, Taiwan zu spalten, um es | |
| so zu kontrollieren. | |
| Sie engagieren sich sehr für Austauschprojekte mit anderen Ländern. Können | |
| mittels der Kultur Brücken geschlagen werden, die die internationale | |
| Politik aus Rücksicht auf China nicht bauen kann? | |
| Taiwan unterhält kaum offizielle Beziehungen zu anderen Staaten. Kultur ist | |
| daher umso wichtiger. Als künstlerischer Leiter des Taipei Arts Festival | |
| standen mir Möglichkeiten offen, die das Nationaltheater nicht hat. Wir | |
| kollaborieren nicht auf nationaler Ebene, sondern von Stadt zu Stadt, | |
| Taipeh mit Paris, Taipeh mit Berlin. China kann dagegen nichts tun. Meine | |
| Vision ist sehr einfach: Ich möchte, dass sich internationale Künstler | |
| mit taiwanischen Künstlern anfreunden, mit den Menschen hier in Kontakt | |
| kommen. Die Insel lieben lernen. | |
| Was ist das Besondere am Taipei Arts Festival? | |
| Die internationalen Kooperationen. Einmal haben die Tanzensembles der | |
| indigen Bevölkerung Taiwans und Neuseelands ein Stück zusammen entwickelt. | |
| Wussten Sie, dass die Maori entfernt mit indigenen Stämmen Taiwans verwandt | |
| sind? | |
| Nein. | |
| Anderes Beispiel: Hsieh Hsueh-hung war eine berühmte Kommunistin in Taiwan | |
| in den 1940er Jahren, die im Guerillakampf gegen die japanischen Besatzer | |
| aktiv war. Sie ist schließlich in einem Gefängnis in China gestorben. | |
| [3][Die deutsche Schauspielerin Anne Tismer] hat eine | |
| Multimedia-Performance über sie gemacht, in der Hsueh-hung nicht gestorben | |
| ist, sondern sich den Mosuo (ein matriarchal organisiertes Volk im | |
| Südwesten Chinas, Anm. d. Red.) anschloss und ein neues Leben begann. Das | |
| war vielleicht meine liebste Produktion, die im Rahmen des Festivals | |
| aufgeführt wurde; sehr persönlich, sehr lokal. | |
| Hat sich das taiwanische Theater über die Jahre eigentlich an China | |
| orientiert oder an japanischen Varianten wie Nō oder Kabuki? | |
| Während der Kolonialzeit entwickelte sich in den 1920er Jahren das Neue | |
| Theater in Taiwan, das vom japanischen Shingeki inspiriert war. Das Neue | |
| Theater nutzte die realistische Schauspielkunst und unterschied sich von | |
| der traditionellen chinesischen Oper. Interessant wurde es auch wieder in | |
| den 1980er Jahren: Im Zuge des demokratischen Widerstands entwickelte sich | |
| eine kleine Theaterbewegung mit radikaler Ästhetik. Experimentelles | |
| Theater. Sie nutzten Performance, interkulturelles Theater und physisches | |
| Theater. Improvisation wurde wichtiger Bestandteil. Auch politisch mischte | |
| das Theater mit. Je freier Taiwan wurde, das muss man allerdings auch | |
| sagen, desto schwächer leuchtete das Theater als Symbol für Freiheit. Es | |
| hat heute nicht mehr dieselbe Bedeutung wie vor dreißig, vierzig Jahren. | |
| 26 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
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