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# taz.de -- Kunst in Taiwan: Postkolonial heißt hier konservativ
> Die jüngere Generation in Taiwan kennt nur das Leben in der Demokratie.
> Die Kunst zeigt sich von der Bedrohung angenehm unbeeindruckt.
Bild: Während des Wahlkampfs: Unterstützer von Lai Ching-te Taipeh im Januar
Taipeh/Kaohsiung/Tainan taz | Grillen zirpen. Etwa hundert Stück. In einem
dunklen Raum im Kaohsiung Museum of Fine Arts singen einzeln in kleine
Gläsern gesperrte Insekten von einer Videowand auf die Besucherin herab.
Hochhaussiedlungen kommen einem in den Kopf, Wohnungsknappheit, der Mensch
als Legehenne im Kapitalozän. Eine Dystopie? Der Künstler Chen Yen-Chi
lächelt. „Die Grillen sind doch glücklich in ihrem Käfig“, sagt er. „S…
haben genug Nahrung und leben in Frieden. Würde man sie zusammen halten,
gingen sie aufeinander los.“
Politische Botschaften sind in taiwanischer Kunst selten eindeutig
formuliert. Das sagt Huang Yi-Han, die als Kuratorin durch die sich noch im
Aufbau befindende Ausstellung führt. Zu lange schon funke China in die
Geschicke der Insel hinein. „Wir haben gelernt, leiser aufzutreten“, so
Huang. Wer sich nicht zu eindeutig positioniere, könnte weiterhin auch in
China ausstellen, sagt sie.
Taiwan ist eine noch junge Demokratie. Mit der Niederlage Japans im Zweiten
Weltkrieg endete deren 50 Jahre währende Kolonialherrschaft über die Insel.
Das Kommando übernahm in Folge [1][mit Chiang Kai-shek der Kopf der
nationalistischen chinesischen Kuomingtang], die im chinesischen
Bürgerkrieg den Kommunisten unterlagen.
Chiang herrschte diktatorisch über Taiwan, das sich erst Ende der 1980er
Jahre unter seinem Sohn Ching-kuo öffnete. Was in Taiwan heute politisch
passiert, ist also durchaus antizyklisch zum Rest der Welt zu sehen.
## Taiwan wird demokratischer
Während im Westen immer mehr Rechtspopulisten an die Macht kommen, ist die
Insel über die Jahre eher immer demokratischer geworden. [2][Platz 10 nimmt
Taiwan heute auf dem von der britischen Zeitschrift The Economist
berechneten Demokratieindex ein,] vier Plätze vor Deutschland. Während der
im Januar abgehaltenen Parlamentswahlen wurden auf den Straßen regelrechte
Partys gefeiert. Bunt gekleidete Menschen, mit Luftballon oder Fahne in der
Hand skandierten lautstark den Namen ihrer Favoriten.
Wer in Taiwan heute jünger als 35 ist, hat stets in einer Demokratie
gelebt. Dass sich in dieser Altersgruppe eine gewisse Politikverdrossenheit
ausbreiten konnte, ist analog zu ähnlichen Entwicklungen in Europa nicht
überraschend. Zumal die drei großen Parteien sich zwar in ihrer Position zu
China unterscheiden, alle jedoch ein neoliberales Profil aufweisen.
Das Problembewusstsein ist in dieser Altersgruppe dennoch nicht minder
ausgeprägt. Es gebe drängende Fragen, auf die auch in Taiwan Antworten
gefunden werden müssen, sagt Ku Yi-Lin und zählt auf: „Steigende Mieten,
grüne Energie, Gendergerechtigkeit, Billiglohnmigration aus Südostasien …“
Ku ist Teil eines Künstler:innenkollektivs, das im südtaiwanischen
Tainan die Absence Space Gallery gegründet hat. In einer Seitenstraße der
alten Hauptstadt des Landes finden hier hinter orangem Fensterglas
regelmäßig Performances statt, mitunter treten Künstler:innen Residenzen
an.
Ku führt durch das alte Haus. Das Dachgeschoss ist gänzlich schwarz
gestrichen. Kürzlich habe man hier eine Technoparty gefeiert, sagt Ku, aber
meistens organisierten sie Filmabende. „So kommt die Nachbarschaft in
Kontakt mit uns“, sagt sie. „Wer sich einen Film anschaut, besucht
hinterher vielleicht auch die Ausstellung unten.“
## Jenseits der China-Frage
Obwohl Tainan mit 1,9 Millionen Einwohner:innen nicht gerade eine
Kleinstadt ist, ist die Kunstszene eher in Taipeh zu Hause. Yu Ching, der
das Kollektiv zusammen mit Ku vor zwei Jahren gründete, habe zehn Jahre
lang in der Hauptstadt Taiwans gelebt. Nomadisch, erzählt er, habe draußen
geschlafen oder sei bei Freunden untergekommen. Als ihn die Coronapandemie
zurück in seine Heimatstadt spülte, fing er an, das Nomadentum
vollumfänglicher zu bearbeiten. „Mich interessiert, wie Menschen sich
anpassen, wenn die Landschaft sich verändert“, sagt er.
Er arbeite an einer Performance, die sich mit den Bewohner:innen
traditioneller Bambushäuser beschäftigt. „Wenn das Wasser stieg, konnte man
das Haus mittels Stäben einfach an einen anderen Ort bringen“, so Ching.
Wie sich ihr Leben verändern würde, sollte China die Insel angreifen,
darüber sprechen Ching und Ku nicht gern. „Was sollen wir schon tun?“,
fragt die Performancekünstlerin Ku. „Wir sehen es eher als unsere Aufgabe
an, jene Themen in unserer Kunst zu bearbeiten, die zugunsten des Konflikts
mit China in der Politik wenig Beachtung finden.“
Ku wirkt nicht genervt, aber auch nicht überrascht von der Frage nach
China, die die westliche Sicht auf Taiwan meist überschattet. Sich
andauernd zu Staatsgrenzen verhalten zu müssen ermüdet.
## Unruhen in der Taiwanstraße
Ganz ausklammern tut das Absence-Space-Kollektiv den großen Nachbarn jedoch
auch nicht. Ku erzählt von dem geplanten Damm, den China über den Mekong
bauen will und der voraussichtlich für erhebliche Wasserknappheit in den
südostasiatischen Ländern sorgen wird. „Wir können China nicht direkt
besiegen“, sagt Ku. „Vielleicht müssen wir eher wie Wasser sein und um
China herum arbeiten.“
Das Wasser um die Insel Taiwan ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr
ruhig. Chinesische und US-amerikanische Kriegsschiffe begegnen sich
regelmäßig in der Taiwanstraße. Erst vor wenigen Tagen wurden zudem
chinesische Ballons über Taiwan gesichtet.
In Taipeh hängen seit letztem Jahr vielerorts Zettel an den Wänden, die auf
den nächsten Luftschutzbunker hinweisen. Eine Vereinigung mit China sei
unvermeidlich, betonte in seiner Neujahrsansprache der in China
autokratisch herrschende Präsident Xi Jinping. Er ist von dem neuen
Amtskollegen in Taiwan, William Lai von der Demokratischen
Fortschrittspartei (DPP), erklärtermaßen kein Fan.
Trotz der angespannten Lage ist im Taipei Fine Arts Museum weniger
Pessimismus als eine gewisse trotzige Gefasstheit zu verzeichnen. In der
obersten Etage des vom Architekten Kao Er-Pan entworfenen Museumsbaus ist
momentan die Ausstellung „Taipei Art Awards“ ausgestellt.
## Albtraumtopoi humorvoll verarbeitet
Während Lai Jiun-Ting zwar sehr düster, mittels zarter Robotik aber dennoch
spielerisch auf die Fesseln der Elektronik hinweist, die den modernen
Menschen an seine Geräte ketten, hat Chuang Pei-Xin es geschafft, den
Albtraumtopos Überwachung und KI in einer Videoarbeit darzustellen, die
großen Spaß macht.
Hüftsteife Figuren referieren dabei auf die Bildsprache grafikarmer
Videospiele, auf Sims zum Beispiel, die selbst dann noch tanzen, wenn das
Büroinventar um sie herum schon längst in Flammen steht.
Folklore sucht man im gesamten Haus vergebens. Auch der Postkolonialismus,
der normalerweise große Kunsthäuser weltweit heftig umweht, scheint hier
keine große Rolle zu spielen. Wer in Taiwan postkolonial arbeitet,
kritisiert Japan, sagt [3][der Dramaturg Keng Yi-wei.] „Das ist eher das
Ding der konservativen Kuomingtang-Partei, um China in ein besseres Licht
zu rücken, und daher nicht so angesagt.“
Keng sitzt in einer kleinen Bar in Shida, einer Nachbarschaft in Taipeh, am
Tresen. Der Eingang ist aus Wellblech gefertigt, es ist nur wenig Platz für
Tische. Hier seien alle Gäste Künstler:innen, sagt Keng. Und
tatsächlich: sogar die Barkeeperin ist Dokumentarfilmerin. Unter den Gästen
ist auch Fang Yun Lo, die eigentlich in Dresden lebt. Auch wegen der
Wahlen, an denen man in Taiwan nur persönlich teilnehmen kann, ist die
Choreografin momentan zurück auf der Insel.
## Rebellion gegen den Patriarchen
Als sie noch hier lebte, wäre es ihr nie eingefallen, den Konflikt mit
China künstlerisch zu verarbeiten, sagt sie. Doch aus dem Ausland erscheine
die Bedrohung essenzieller, beschäftige sie mehr.
Lo stellt in Deutschland gerade ein Stück auf die Beine, in dem zwei
Seiten, die taiwanische und die chinesische, mit- und gegeneinander tanzen.
Der chinesische Tänzer könne dabei nur unter Pseudonym auftreten, erzählt
sie.
Dass der Chinakonflikt die Künste in Taiwan gar nicht berühre, könne man
aber auch nicht sagen, meint Keng. So habe er sich immer gefragt, warum
Gender- und LGBT-Fragen so häufig in der taiwanischen Kunst verhandelt
würden.
„Aber es ist eigentlich ganz logisch: China spricht immer von einer großen
chinesischen Familie, die Taiwan einschließt“, sagt er. Die
Regenbogenfamilie sei die Rebellion gegen das traditionelle Rollenbild,
gegen die patriarchale Familie. In dieser Gleichung sei China eher der
Liebhaber, sagt Keng: „Ein schrecklicher Liebhaber.“
28 Jan 2024
## LINKS
[1] /Ex-PEN-Praesidentin-ueber-Taiwan-und-China/!5939810
[2] https://www.laenderdaten.de/indizes/demokratieindex.aspx
[3] /Taiwanesischer-Dramaturg-ueber-China/!5952806
## AUTOREN
Julia Hubernagel
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