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# taz.de -- Taiwanesischer Film „A Sun“ auf Netflix: Der Fluch, den Tag zu …
> Die taiwanische Familientragödie „A Sun“ von Chung Mong-hong ist ein
> unberechenbar erzählter Film. Netflix hat ihn in seinem Angebot etwas
> versteckt.
Bild: Auch der beflissene A-Hao (Greg Hsu) bleibt im Netflix-Film „A Sun“ n…
Alles beginnt mit einem Hieb. Ein Überfall, ein Schlag und Schnitt mit der
Machete, Blut spritzt, eine Hand wird abgetrennt, der Schauplatz ist ein
Restaurant, die Hand landet in der Suppe. Oden heißt der junge, nun
verstümmelte Mann, A-Ho ist der Name eines der Täter, Rettich der Spitzname
des anderen.
Oden weiß nicht, wie ihm geschieht, auch die Zuschauerin weiß es nicht.
Weiß nicht, wohin die Reise geht mit diesem Film, nur dass sie lang sein
wird, gut zweieinhalb Stunden. Es wird aber rasch klar, dass das Motto:
„Mit einem Erdbeben beginnen, dann langsam steigern“, hier keinesfalls
gilt. „A Sun“ wird sich nach dem unvermittelt heftigen Anfang sehr schnell
beruhigen.
Zumindest, was das Tempo, was die Bewegungen an der Oberfläche des
Erzählens angeht. An Erschütterungen nämlich wird es bis zum Ende nicht
fehlen. Die Erzählung fokussiert auf A-Ho, seine Familie, zu der neben den
Eltern ein älterer Bruder, A-Hao, gehört. Erst folgt sie ihm, dem Täter:
zum Prozess, in dem er, vom Vater verflucht, zu einer Jugendstrafe
verurteilt wird; und in den Jugendknast, wo er sich schnell eine blutige
Nase holt.
Unterdessen meldet sich bei der Mutter eine junge Frau, Xiao-Yu, sie ist
schwanger von A-Ho. Im Knast besuchen darf sie ihn nicht, darum wird, da
ist das Kind schon geboren, eine Hochzeit zwischen den beiden arrangiert.
Sie verläuft denkbar unzeremoniell, alle sitzen um einen Tisch, eine
einsame Luftschlange als Ausweis des trockenen Humors, der „A Sun“, bei
aller Nähe zur Tragödie, von Zeit zu Zeit heimsucht. Was dem Film guttut
und ihn auch im Ton so unberechenbar macht, wie er in seinen
Erzählbewegungen ohnehin ist.
Die eigentliche Tragödie ereignet sich nicht im Knast. So unvermittelt, wie
in diesem Film manches passiert, sind wir plötzlich bei A-Hao, dem älteren
Bruder. Er möchte Medizin studieren, muss dafür Kurse nachholen, auch in
Literatur. Der Dozent deutet einen Text des berühmten chinesischen
Historikers und Schriftstellers Sima Guang, der im 11. Jahrhundert
westlicher Zeitrechnung lebte.
## Aus dem Leben eines Dichters
A-Hao begleitet bald darauf eine Kommilitonin zur Bushaltestelle. Er
erzählt von Sima Guang, da springt „A Sun“, nur hier, ein einziges Mal, aus
seinem stets elegant komponierten Erzählrealismus in die Animation, setzt
eine Anekdote aus dem Leben des Dichters ins Bild. Sie berichtet davon, wie
er sich einmal in einem großen dunklen Wasserkrug verbarg, zu empfindsam,
das Tageslicht zu ertragen.
A-Hao und die Kommilitonin gehen bald darauf in den Zoo, Tiere sehen sie,
Tiere sehen uns an, die Liebesgeschichte, die sich zu entwickeln scheint,
bricht jedoch sehr jäh, unvermittelt wiederum, ab. Kein Hieb diesmal, kein
Blut, nur ein Blick, plötzlich, von oben.
Wenn ein ähnlicher Blick, wieder von oben auf den Straßenverkehr fällt,
wird dessen Bewegungsmuster zu einer Art abstraktem, bewegtem Gemälde. Es
liegt eine Distanznahme, auch eine Schonung vor dem Allzuschlimmen
vielleicht, in diesem Blick, als wäre, was geschieht, aus der Nähe, nun, da
wir den Personen selbst nahe, wenigstens näher gekommen sind, nicht mehr zu
ertragen.
Fern, auf dem Boden eines Innenhofs, liegt eine Leiche. Es ist A-Hao, er
hat sich zu Tode gestürzt. Er hat, wie der Sima Guang der Anekdote, das
Sonnenlicht nicht mehr ertragen. Mit seiner eigenen Stimme wird das,
postum, so geschildert: Er hat sich gefühlt, als scheine, wo immer er ist,
das Licht der Sonne auf ihn; für alle anderen gibt es zwischendurch
Schatten, für ihn nur die Helligkeit, die er nicht mehr aushalten kann. So
kommt für die Familie zur ersten Tragödie die zweite; zum Sohn, der Täter
wird, der Sohn, der das Leben nicht länger aushält.
## Das Mantra des Fahrlehrers
„Nutze den Tag! Find deinen Weg!“ So lautet das Motto der Fahrschule, in
der A-Wen, der Vater der beiden, als Fahrlehrer arbeitet. Es ist sein
Mantra, aber er selbst ist ein verknöcherter, verbitterter Mann. Den
Täter-Sohn hat er verflucht, den anderen kann er nicht retten, hat ihm nur
Kladden um Kladden geschenkt, die das Fahrschul-Motto als Aufschrift
tragen.
Dieses Motto ist auch in großen Schriftzeichen auf einer Mauer zu sehen,
A-Wen wird es auch den Schülerinnen und Schülern, die gerade die Prüfung
absolviert haben, als Lebensweisheit servieren. Dieses Mantra liegt wie ein
Fluch über dem Film und über dem Leben A-Wens, für den jede Bewegung, wie
es scheint, in einer Sackgasse endet.
Neben den Männern, die Tragödien erleben, erscheinen die Frauen auf den
ersten Blick kaum mehr denn Assistenzfiguren. Die Mutter unternimmt alles,
die Familie zusammenzuhalten, sie ergreift Initiativen, mietet einen Laden,
gibt auch der Stiefmutter ihrer Schwiegertochter noch Halt. Sie schart die
Frauen um sich, in der bedrückenden Wohnung, in der der Vater erst nur
stumm auf der Couch sitzt, dann verschwindet er ganz.
Die Geschlechterklischees werden, obwohl sie mit dem Übergewicht der Männer
aus dem Lot sind, geschickt balanciert: Die Mutter ist das Herz der
Familie, die Stützende, die Auffangende, aber sie ist auch die Aktive, die,
anders als der Vater, dem Motto folgt: Sie nutzt den Tag, sie findet einen
Weg.
## Kleine Rätselstrukturen
Auch der Vater wird am Ende einen Weg finden, aber wie sich ein narratives
Rätsel da auflöst, das ist eine Tragödie für sich. Und typisch für das
Erzählen Chung Mong-hongs. Immer wieder schafft er kleine Rätselstrukturen,
manches, das zunächst unklar erscheint, wird nach und nach erst erhellt.
Großes Aufheben macht er dabei, sieht man vom Anfang ab, nicht; kleineres
schon.
So ist auch die Kamera fast stets in Bewegung, begleitend, annähernd, bei
Fahrschulfahrten fährt sie gerne auch mit dem Auto flott durch die Straßen.
Was so entsteht, ist eine fluide Mikrodynamik, die nur selten scharf bremst
oder beschleunigt. Trotz allem Furchtbaren kann man sich aufgehoben fühlen
in diesem Film, der sich auch klaren Genrezuordnungen gekonnt entzieht und
Familiendrama, Gefängnisfilm, Krimiplot mit Komödienelementen vermischt.
„A Sun“ ist, anders als frühere Filme des Regisseurs, zwar in Toronto, aber
auf keinem der A-Festivals in Europa gelaufen. In Taiwan hat er bei den
Golden Horse Awards abgeräumt, international zunächst aber wenig Beachtung
gefunden. Netflix hat die Rechte gekauft, zu den Produktionen, für die der
Streaming-Konzern viel Aufmerksamkeit produziert, gehörte der Film erst
einmal nicht. Ganz anders etwa als Alfonso Cuaróns „Roma“, den Netflix 2019
mit viel Power zum Oscar gepusht hat.
Schon seit Januar 2020 ist „A Sun“ für die Abonnent*innen zu sehen,
wenig beworben, wenig besprochen, lange ein Geheimtipp. Bis das Fachblatt
Variety ihn zum besten Film des Jahres erklärte, bis er nun auch bei den
Auslands-Oscars auf die Shortlist geriet und ein Favorit auf den Sieg ist.
Martin Scorsese hat in einem aktuellen Essay (eigentlich zu Federico
Fellini) Netflix gerade scharf kritisiert: Alles werde zu Content,
ununterschieden, unkuratiert, nur von Ähnlichkeitsalgorithmen geordnet. So
richtig das ist – und so unklar ist, ob Kurator*innen von Netflix’
Gnaden in Zeiten sozialmedialer Empfehlungswebsites wie Letterboxd
wirklich nötig oder nur wünschenswert sind –, so gilt doch auch: Für den
Film hat sich in den USA wie in Deutschland kein Verleih interessiert. Man
muss also konstatieren: Ohne Netflix wäre er nicht da, wo er jetzt ist.
24 Feb 2021
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
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China
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