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# taz.de -- 50 Jahre nach dem Putsch in Chile: Geister, die uns weiter umtreiben
> Der Verfassungsprozess ist gescheitert. Ein Bruch mit dem Erbe der
> Pinochet-Zeit fehlt. Das stellt Chile bis heute vor große Unsicherheiten.
Bild: Chiles Präsident Boric zwischen Militärs beim Fahneneid im Juli dieses …
Als [1][Gabriel Boric] im Dezember 2021 zu Chiles neuem Präsidenten gewählt
wurde, versprach er, die großen Probleme des Landes anzugehen: Sicherheit
und öffentliche Ordnung unter Wahrung der Bürger*innenrechte. Zu der Reihe
an Maßnahmen, die Boric vorstellte, gehörte auch die Neugründung der
chilenischen Militärpolizei, den Carabineros.
Die Militärpolizei war seit Jahren kontinuierlich in die Kritik geraten:
2017 durch einen Korruptionsskandal und die massive Veruntreuung
öffentlicher Gelder, später durch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen
gegen die indigenen [2][Mapuche] und schließlich auch [3][gegen
Demonstrierende] bei der sozialen Revolte von 2019.
Mit einem Blick auf diese Zustände überrascht das Lob, das der Stabsleiter
beim deutschen Bundeskriminalamtes (BKA), Sigurd Jäger, für die Carabineros
übrig hatte. Jäger erklärte Anfang 2022 öffentlich, er habe einen „sehr
positiven Eindruck“ von dieser Organisation, „gut strukturiert,
qualifiziert, sehr professionell in diversen Bereichen“.
Anlass für Jägers Erklärung war eine Fortbildung zu organisierter
Kriminalität, Drogenhandel und Cyberkriminalität, die im Januar 2022 in
Chile stattfand. Die Zusammenarbeit deutscher und chilenischer
Sicherheitsbehörden wurde noch unter dem rechten Vorgängerpräsidenten,
Sebastián Piñera, beschlossen und im Jahr 2022 unter Präsident Boric
verlängert.
## Bedingungslose Rückendeckung für Gewalt der Carabineros
Inzwischen sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Statt einer Neugründung
der Carabineros wird nun unter Boric eine „Reform“ der Institution
angestrebt. Praktisch bedeutet das vor allem eine Stärkung: So flossen 2023
große Teile des riesigen Haushalts für Sicherheit und Ordnung – 4,4 Prozent
mehr als 2022 – in die Töpfe der Carabineros.
Auch das kürzlich verabschiedete Gesetz zur „bevorzugten legitimen
Verteidigung“, auch „Finger-am-Abzug-Gesetz“ genannt, ist als
bedingungslose Rückendeckung für die Carabineros zu verstehen, auch wenn im
Einsatz Menschen erschossen werden. Weil das Gesetz Sicherheitskräften
juristische Immunität gewährt, stößt es bei zahlreichen
Menschenrechtsorganisationen, Rechtsexpert*innen und
Kriminolog*innen auf Ablehnung.
Der wichtigste Grund für die Kritik ist, dass das Gesetz in bestehende
Rechtsnormen eingreift und die Ungleichheit vor dem Gesetz verankert:
Einerseits erwarten Personen, die für Angriffe auf Polizist*innen und
Militärs angeklagt sind, nun höhere Strafen. Andererseits sichert das
Gesetz Sicherheitskräften institutionalisierte Straffreiheit oder
Strafminderung zu, wenn sie im Rahmen ihrer Arbeit Waffen einsetzen. Diese
Regelung ist den Rechtsnormen, von denen Verantwortliche für
Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur profitiert haben, sehr ähnlich.
Borics Regierung und die rechte Opposition haben sich außerdem darauf
geeinigt, noch in diesem Jahr 31 weitere Gesetzesvorhaben zu Sicherheit und
öffentlicher Ordnung zu verabschieden. Dazu zählen etwa die Gründung eines
Sicherheitsministeriums sowie der Ausbau staatlicher Geheimdienste und
Gefängnisse. Zu dem Maßnahmenpaket gehört auch die Verlängerung des
[4][Ausnahmezustands im Gebiet der Mapuche]. Dieser war auf Borics Antrag
hin vom chilenischen Kongress verhängt worden. Hatte sich Chiles Präsident
früher geweigert, bewaffnete Handlungen von Mapuche-Gruppierungen als
„terroristisch“ einzustufen, rechtfertigt er Monate nach Amtsantritt den
Ausnahmezustand mit „Handlungen mit terroristischem Charakter“.
## Boric schließt mehr Bündnisse als gedacht
Nun bestehen Teile der Opposition darauf, ähnliche Ausnahmeregelungen auch
in anderen Regionen anzuwenden. So fordern sie die zusätzliche
Stationierung von Militärs in weiteren Regionen im Süden und in den
Grenzregionen im Norden des Landes, über die Migrant*innen nach Chile
gelangen.
17 Jahre lang hat Chile unter Staatsterrorismus gelebt, angelehnt an die
Nationale Sicherheitsdoktrin und Frankreichs Kolonialpolitik zur
Aufstandsbekämpfung in Algerien. Die heutigen Sicherheitsstrategien und
-debatten sind stark mit dieser Phase der chilenischen Geschichte
verbunden, aber das wird von den Regierungen nicht thematisiert. Vor diesem
Hintergrund stellt sich die Frage: Wie konnte es zu dieser Kontinuität
kommen?
Antworten auf diese Frage gibt es viele – und sie werden immer noch viel
diskutiert. Dabei spielen politisch-institutionelle Fragen und die Stimmung
in der Gesellschaft mit in die Debatte hinein. Auf politischer Ebene sind
die aktuellen Kräfteverhältnisse im Kongress entscheidend, denn dort kann
jede einschneidende Reform verhindert werden.
Aus Unerfahrenheit und in Ermangelung einer konstanten Regierungslinie sah
sich Boric nach wenigen Monaten an der Regierung gezwungen, gegen die
starke Opposition wieder mehr Bündnisse mit den Mitte-links-Kräften der
Nachdiktaturzeit einzugehen – was die Möglichkeiten grundlegender
Veränderung einschränkt.
## Falsche Antworten auf die Forderungen von 2019
Noch schlimmer steht es im [5][Verfassungsrat], der nach der
überwältigenden Ablehnung des ersten Entwurfs nun mit der Ausarbeitung
eines neuen Verfassungstextes beauftragt ist. Hier haben Rechte und
Ultrarechte eine absolute Mehrheit, das Ergebnis könnte sogar noch
schlimmer ausfallen als die derzeit geltende Verfassung aus Diktaturzeiten.
Auf gesellschaftlicher Ebene ist die Frage interessant, was zwischen der
Revolte und der Ablehnung der neuen Verfassung passiert ist. Diese vier
Jahre waren intensiv, rasend schnell und gleichzeitig so ereignisreich wie
ein Jahrzehnt: Wir haben die einschneidende Revolte von 2019 und ihre
Folgen erlebt; das Eingesperrtsein während der Pandemie unter einer rechten
Regierung, die auf den Gesundheitsnotstand mit Sicherheitsmanagement
reagierte, und einen Verfassungsprozess, der wichtige Debatten und einen
fortschrittlichen Verfassungstext hervorbrachte. Dass dieser im
[6][Plebiszit von 2022] abgelehnt wurde, ist ein Ausdruck der
Politikverdrossenheit, von der die Ultrarechte profitiert hat.
Entscheidend für diese Entwicklung war, wie das politische System 2019 auf
die Forderungen von Millionen Chilen*innen während der Revolte reagiert
hat. Statt die Rufe nach höheren Renten und Löhnen, nach besserer
Gesundheit und Bildung zu hören, bot man eine neue Verfassung an. Doch
damit ging es den Menschen nicht besser.
Das Gefühl der Unsicherheit wurde durch eine neue Art von Gewaltverbrechen
verstärkt. Ein gefundenes Fressen für Konservative, die die Kriminalität
sofort mit der angestiegenen Einwanderung nach Chile erklärten – obwohl
längst bekannt ist, dass das eine nicht mit dem anderen zusammenhängt. Die
Rechte hat es geschafft, statt der Verfassungsfrage das Thema Sicherheit
auf die Agenda zu setzen – auch dank einer großen Medienkampagne.
Progressive Kräfte mühten sich währenddessen damit ab, die wichtigen Themen
des Verfassungsentwurfs sichtbar zu machen – erfolglos, ließ sich das in
Umfragen prophezeite „Nein“ zum Entwurf doch nicht mehr umkehren.
## Kontinuität von Repression und Straflosigkeit
Wenn man die Kontinuität repressiver Staatspraktiken langfristig verstehen
will, gäbe es viele Aspekte zu beachten, meint die Strafverteidigerin
Karinna Fernández. „Auf den wichtigsten Aspekt, der Repression und
Menschenrechtsverletzungen abgesichert hat, weist [der argentinische Anwalt
und Aktivist; Anm. d. Aut.] Juan Méndez seit den 1970er Jahren hin: Laut
internationalem Menschenrecht stehen Staaten insbesondere in
Übergangsphasen in der Pflicht, die Beteiligten und ihre Vollstrecker ihrer
Ämter zu entheben. Nur so kann eine Gesellschaft zu Gerechtigkeit kommen,“
erklärt Fernández gegenüber der taz.
In Chile ist das nie passiert. Nach dem Ende der Diktatur blieb Pinochet
General und wurde später Senator. Und er war damit nicht der Einzige. „Die
Henker haben ihre Machtstellung behalten und sind immer noch eng mit der
Elite, vor allem der wirtschaftlichen Elite, verbunden“, erklärt Fernández
weiter. In der Phase des Staatsterrorismus haben sie aktiv an den
wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen
mitgewirkt. Dazu gehört auch die Privatisierung staatlicher Ressourcen und
Leistungen, die auf einem freien Markt die gesellschaftliche Ungleichheit
noch verschärft und zur Bereicherung einiger weniger beigetragen hat.
Das sind die Grundlagen für die systemische Straflosigkeit in Chile. Und
die wiederhole sich immer wieder, wie Fernández an einem Beispiel von 2012
erläutert: „Bei den großen Demonstrationen mit sozialen Forderungen in
Aysén im Süden Chiles verlor einer von 10.000 Menschen in der Region
infolge der Polizeirepression ein Auge.
## Die Logik der Diktatur bleibt
Doch die Leiter dieser Polizeieinsätze wurden später befördert. Manche von
ihnen hatten während der Repression, die den Protesten von 2019 folgte,
Führungspositionen übernommen. Jetzt bekleiden sie Posten auf Landesebene.“
Einer von diesen Polizisten ist Ricardo Yañez, heute Generaldirektor der
Carabineros. „Die Verbrechen wiederholen sich“, so der Anwalt.
Auch in der Zeit nach der Diktatur wurde angesichts fehlender Sozialpolitik
Repression zur Systemstabilisierung eingesetzt. Das vorherrschende
Verständnis von öffentlicher Ordnung und Sicherheit wurde nie kritisch
hinterfragt. Dieselbe Logik der Diktatur wurde beibehalten. Im
demokratischen Chile wurde laut dem Anwalt Silvio Cuneo stattdessen ein
populistischer Bestrafungsdiskurs laut: Gefängnisse wurden zu einer
Möglichkeit, Armut zu kontrollieren. So steht die wachsende Zahl von
Gefängnissen heutzutage zum Beispiel in keinem Verhältnis zur
Kriminalitätsrate.
In den vergangenen Jahren gab es keine Vorstöße, etwas an diesem Zustand zu
ändern. Auch heute, nach der sozialen Revolte, mit der neuen Regierung von
Boric und nach dem gescheiterten Verfassungsprozess, gibt es keine Aussicht
auf Veränderung.
Aus dem [7][Spanischen]: Susanne Brust
Gloria Elgueta ist Menschenrechtsaktivistin und Schwester eines in der
Diktatur verschwundenen politischen Gefangenen
11 Sep 2023
## LINKS
[1] /Amtsantritt-von-Gabriel-Boric/!5838576
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[3] /Proteste-in-Chile/!5642451
[4] /Ausnahmezustand-in-Teilen-Chiles/!5804080
[5] /Verfassungsrat-in-Chile-beginnt/!5936018
[6] /Verfassungsreferendum-in-Chile/!5879012
[7] /50-aos-del-Golpe-de-Estado-en-Chile/!5958642
## AUTOREN
Gloria Elgueta
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