# taz.de -- Verfassungsrat in Chile beginnt: Jetzt schreiben Rechte den Entwurf | |
> Am Mittwoch nimmt der neue Verfassungsrat in Chile seine Arbeit auf, um | |
> die Magna Carta der Diktatur loszuwerden. Aber jetzt haben Rechte das | |
> Sagen. | |
Bild: Anhänger:innen der rechten Republikanischen Partei nach der Wahl zum Ver… | |
Santiago de Chile taz | Auf den ersten Blick scheinen die Chilen:innen | |
nicht zu wissen, was sie wollen. Erst [1][protestieren] sie 2019 monatelang | |
gegen die soziale Ungleichheit und neoliberale Politik im Land, stimmen | |
2020 [2][mehrheitlich für eine neue Verfassung], um die alte aus der | |
Diktatur zu ersetzen, wählen 2021 einen [3][Verfassungskonvent] mit einer | |
Mehrheit von Linken und sozialen Bewegungen und stimmen für einen | |
[4][linken Präsidenten]. | |
Dann [5][lehnen sie 2022 den Entwurf für eine neue Verfassung ab], der | |
Vorbildcharakter weltweit gehabt hätte. Und als wäre das nicht genug, | |
stimmen sie anschließend 2023 bei den Wahlen für einen [6][Verfassungsrat], | |
der einen neuen Entwurf ausarbeiten soll, mehrheitlich für eine | |
rechtsextreme Partei. Was ist da los? | |
Von einem Pendel sprechen Politikwissenschaftler:innen in Chile, | |
das mal nach links und mal nach rechts schwenkt. Die Wähler:innen | |
können sich im Parteienspektrum von einem bis zum anderen Ende bewegen. Die | |
Konstante ist, diejenigen abzuwählen, die gerade an der Regierung sind. Es | |
ist der Ausdruck einer generellen Unzufriedenheit, unabhängig davon, wer | |
gerade regiert. | |
Dieses Verhalten hat sich im verfassunggebenden Prozess fortgesetzt, der | |
durch die Protestbewegung auf der Straße ausgelöst, aber von den | |
politischen Parteien in einen engen Rahmen gepresst wurde. Der soziale | |
Aufstand von 2019 und 2020 und auch das politische Pendel sind Ausdruck | |
einer politischen Krise, für die bis heute keine Lösung in Aussicht ist. | |
Das Korsett, das die Verfassung aus der Militärdiktatur der chilenischen | |
Politik verpasste, führte außerdem dazu, dass auch Mitte-links-Regierungen | |
nicht von dem neoliberalen Kurs abwichen, der während der Diktatur | |
gewaltsam durchgesetzt wurde. | |
## Keine reservierten Sitze mehr für Indigene | |
Die Ausarbeitung des neuen Entwurfs für eine neue chilenische Verfassung | |
wird von denjenigen bestimmt werden, die eigentlich lieber das Grundgesetz | |
aus der Pinochetdiktatur behalten würden. Mehr als die Hälfte der Sitze des | |
Verfassungsrats, der am 7. Juni seine Arbeit aufnimmt, wird von Mitgliedern | |
rechter Parteien besetzt sein. | |
Zweiundzwanzig der 51 Sitze von Mitgliedern der rechtsextremen | |
Republikanischen Partei – einer von ihnen, Luis Silva, drückte seine | |
Bewunderung für Pinochet aus, den er als „Staatsmann“ bezeichnete. Er | |
spricht sich außerdem gegen das Recht auf Abtreibung aus und gegen eine | |
öffentliche Rentenversicherung. | |
Die Zusammensetzung des aktuellen Verfassungsrats entspricht komplett dem | |
Gegenteil des vorangegangenen Verfassungskonvents. Beim ersten Anlauf für | |
die Erarbeitung einer neuen Verfassung gab es den Versuch, die | |
Repräsentationskrise der chilenischen Demokratie zu überwinden, indem | |
denjenigen, die lange aus den politischen Entscheidungsprozessen | |
ausgeschlossen waren, die Teilnahme ermöglicht wurde. | |
Es gab reservierte Sitze für Indigene, Geschlechterparität und die | |
Möglichkeit, parteiunabhängige Wahllisten aufzustellen. Nur so war es | |
möglich, dass soziale Bewegungen, Feministinnen und | |
Umweltschützer:innen den Entwurf mitschreiben konnten. | |
Ausgerechnet ihnen schieben Politiker:innen verschiedener Parteien | |
jetzt die Verantwortung dafür zu, dass der Entwurf abgelehnt wurde, der | |
soziale Rechte, Rechte der Natur, die Anerkennung von Sorgearbeit und | |
Plurinationalität in der Verfassung verankert hätte. Laut dem amtierenden | |
Präsidenten Gabriel Boric habe der Verfassungskonvent ein „Klima | |
gegenseitiger Intoleranz und Konfrontation geschaffen, das in der Ablehnung | |
des Vorschlags endete“. Das sagte er bei einer Rede vor wenigen Tagen. | |
## Neuer Entwurf womöglich noch neoliberaler | |
Die zentralen Akteur:innen des ersten verfassunggebenden Prozesses | |
werden jetzt systematisch ausgeschlossen. Nur politische Parteien durften | |
Wahllisten aufstellen, was die Beteiligung sozialer Bewegungen verhinderte. | |
Es waren keine Sitze für Indigene reserviert. Nur ein einziger Kandidat | |
schaffte es über die indigene Wahlliste in den Verfassungsrat: der Mapuche | |
Alihuen Antileo. Im ersten Verfassungskonvent gab es 17 Sitze für die 10 | |
indigenen Völker Chiles. | |
Der Verfassungsrat wird auf der Grundlage des Entwurfs einer | |
Expert:innenkommission arbeiten. Diese Kommission wurde nicht | |
gewählt, sondern von Parlamentsmitgliedern eingesetzt und besteht | |
größtenteils aus Jurist:innen. | |
Der Entwurf der Expert:innenkommission sieht im Gegensatz zum ersten | |
Verfassungsentwurf keine reservierten Sitze für Indigene im Parlament vor. | |
Auch die Aspekte, die die feministische Bewegung in die Verfassungsdebatte | |
eingebracht hatte, wurden ignoriert. Die Anerkennung von Sorgearbeit findet | |
keine Erwähnung im Entwurf, auch nicht die Geschlechterparität in | |
staatlichen Institutionen. Während der vergangene Entwurf die Rechte der | |
Natur garantierte, gibt es jetzt bisher lediglich eine Norm, die | |
Umweltschutz erwähnt. | |
## Rechtsextreme haben Vetorecht im Verfassungsrat | |
In dem Entwurf wird zwar das Prinzip des „Sozialstaats“ erwähnt, aber mit | |
dem Zusatz, dass die Entwicklung sozialer Rechte „durch staatliche und | |
private Institutionen gefördert“ wird. Manche sehen darin die Gefahr, dass | |
die Existenz beispielsweise privater Renten- und Krankenversicherungen so | |
verfassungsrechtlich legitimiert werden könnte. | |
Mit einer Dreifünftelmehrheit können die Verfassungsnormen der | |
Expert:innenkommission vom Verfassungsrat befürwortet, bearbeitet | |
oder abgelehnt werden. Außerdem können neue Normen hinzugefügt werden. Da | |
die Mitglieder der rechtsextremen Republikanischen Partei mehr als zwei | |
Fünftel der Sitze haben, haben sie ein Vetorecht im Verfassungsrat. | |
Es ist möglich, dass der neue Verfassungsentwurf, der den Chilen:innen | |
am 17. Dezember zur Abstimmung vorgelegt werden wird, sich nicht stark von | |
der aktuellen Verfassung unterscheiden wird – oder sogar noch stärker | |
konservative Werte und neoliberale Ideologie beschützen wird. Diejenigen, | |
die für einen Wandel kämpfen, könnten dann vor der Frage stehen: Was ist | |
schlimmer, eine neoliberale Verfassung demokratisch zu legitimieren oder | |
die Verfassung von Pinochet zu behalten? | |
7 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
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