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# taz.de -- Chiles neuer Verfassungsentwurf: Alles wieder auf Anfang
> In Chile wird bereits zum zweiten Mal eine neue Verfassung ausgearbeitet.
> Viele Chilenen fühlen sich im Prozess übergangen.
Bild: Soll eine Verfassungsreform für Chile ausarbeiten: Chefin der Expertenko…
Santiago de Chile taz | „Ich weiß, dass viele diesem Prozess skeptisch
gegenüberstehen“, sagt Verónica Undurraga bei ihrer ersten Rede als
Präsidentin der Expertenkommission, die in den kommenden Monaten einen
neuen Verfassungsentwurf für Chile ausarbeiten soll. Seit Anfang März tagt
die Kommission, am 7. Mai soll ein Verfassungsrat gewählt werden, der über
den von den Expert:innen ausgearbeiteten Entwurf abstimmt.
Es ist bereits der zweite Versuch, eine neue Verfassung in Chile zu
etablieren. Nachdem im September 2022 etwa 62 Prozent der Wähler:innen
[1][den von einer demokratisch gewählten und divers besetzten Versammlung
ausgearbeiteten Entwurf abgelehnt hatten], entschieden Vertreter:innen
der Regierung und der Opposition, dieses Mal Expert:innen zu
beauftragen.
21 der 24 Mitglieder der Kommission sind Jurist:innen. Die Zusammensetzung
entspricht den politischen Verhältnissen in der Abgeordnetenkammer und im
Senat: Die Hälfte wurde von Mitte-links-Parteien ausgewählt, die andere
Hälfte von rechtskonservativen.
## Umstrittene Kommissionsmitglieder
Unter ihnen sind auch mehrere frühere Minister des rechten Ex-Präsidenten
Sebastián Piñera, darunter einer, der Paul Schäfer nahestand, [2][Gründer
der ehemaligen deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad]. Auch die
Direktorin eines neoliberalen Thinktanks ist Kommissionsmitglied.
Es sind Personen wie diese, die 2019 monatelange Proteste auslösten.
Hunderttausende gingen im ganzen Land auf die Straße, forderten mehr
soziale Gerechtigkeit und eine neue Verfassung, um die aktuell gültige, die
noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammte, zu ersetzen. Chile wird
auch als „Labor des Neoliberalismus“ bezeichnet, da das damalige
Militärregime radikale neoliberale Reformen unter Anwendung brutaler Gewalt
umsetzte. Pinochet verankerte deren Fortbestand in der Verfassung.
[3][Bei einem Referendum 2020] stimmten fast 80 Prozent für ein neues
Grundgesetz. Die Versammlung, die dieses entwickeln sollte, wurde im Mai
2021 gewählt, mit Geschlechterparitätsregelung und reservierten Sitzen für
Indigene, parteiunabhängige Kandidat:innen durften Wahllisten
aufstellen. Das Ergebnis: Über die Hälfte der Mitglieder war parteilos, es
war das vielfältigste politische Organ in der Geschichte Chiles.
Der ausgearbeitete Verfassungsentwurf, der ein starkes öffentliches
Bildungs- und Gesundheitssystem, die Rechte der Natur und das Recht auf
Wohnraum garantiert hätte, wurde aber abgelehnt.
Die Parteiunabhängigen hätten es nicht geschafft, die Legitimitätskrise der
politischen Parteien zu überwinden, sagt Claudia Heiss,
Politikwissenschaftlerin der Universidad de Chile. Zu der Vertrauenskrise
kamen die Coronapandemie, eine generelle Unzufriedenheit mit der
politischen Situation und eine Fake-News-Kampagne gegen den
Verfassungsentwurf.
„Der neue verfassunggebende Prozess hat in seinem Versuch, sich vom
vergangenen zu distanzieren, mehrere Forderungen ignoriert“, so Heiss, etwa
die Kritik am Elitismus und an der Nichtbeteiligung der Indigenen. Die
sozialen Bewegungen, die zu den treibenden Kräften der Protestbewegungen
von 2019 und 2020 gehörten und auch in der vergangenen
Verfassungskommission vertreten waren, kritisieren den neuen Prozess.
Anders als bei der vorherigen Arbeit der Kommission, die komplett
ergebnisoffen war, also über alle Normen der Verfassung frei entscheiden
durfte, ist der aktuelle Prozess durch 12 „Verfassungsgrundlagen“
beschränkt, auf die sich Regierung und Opposition nach dem Referendum vom
September 2022 einigten. Dazu gehört unter anderem, dass der Staat zwar
„die progressive Entwicklung sozialer Rechte“ unterstützen soll, aber durch
„private und öffentliche Institutionen“.
Dieser werde von der politischen Elite gestaltet, sagt Javier Pineda,
Mitglied der Coordinadora de Movimientos Sociales (Koordination Sozialer
Bewegungen) und ehemaliger Berater von Mitgliedern des Verfassungskonvents.
Eines der größten Probleme in Chile ist laut Kritiker:innen des
Neoliberalismus, dass etwa staatliche Gelder in private
Bildungseinrichtungen und Kliniken fließen. „Wenn die neue Verfassung dem
privaten und öffentlichen Sektor eine Gleichbehandlung garantiert, wäre sie
sogar noch schlimmer als die aktuelle Verfassung“, so Pineda. Das
neoliberale Experiment geht vorerst weiter.
24 Mar 2023
## LINKS
[1] /Chile-nach-dem-Verfassungsreferendum/!5878289
[2] /Bodo-Ramelow-besucht-Chile/!5885753
[3] /Referendum-in-Chile/!5723304
## AUTOREN
Sophia Boddenberg
## TAGS
Chile
Verfassungsreform
Demokratie
Verfassungsreferendum
Indigene
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