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# taz.de -- Chile vor dem Referendum: Untergang des Andenlands
> Chiles Ultrarechte versuchen, die Annahme der neuen Verfassung am 4.
> September zu verhindern. Unterstützung bekommen sie auch aus Deutschland.
Bild: Ist Chile ein Land von Angsthasen? Bild aus Santiago, 27. August 2022
Santiago/Berlin taz | Bilder des Verfassungskonvents und des linken
chilenischen Präsidenten Gabriel Boric flimmern bei Gruselmusik und
flackerndem Licht über den Bildschirm, dann erscheinen leuchtende
Buchstaben: „Wie die politische Elite unseren Verstand kontrolliert“. Die
neue Verfassung wolle in Rentenfonds eingezahlte Ersparnisse der
Bürger*innen enteignen, eine „totale Kontrolle“ über die Gesundheit
ausüben und das Bewusstsein durch ein staatliches Bildungssystem
manipulieren. Das Video mit dem Titel: „Plan der politischen Kontrolle
aufgedeckt“ wurde seit dem 1. August mehr als 95.000 Mal auf Youtube
aufgerufen.
Die Stimme aus dem Off stammt von der rechtsextremen Politikerin [1][Teresa
Marinovic]. Die 49-jährige Mutter von neun Kindern ist Abtreibungsgegnerin
und Präsidentin der libertär-konservativen Stiftung Nueva Mente. Auf
Twitter folgen ihr mehr als 260.000 Menschen. Sie war mit den zweitmeisten
Stimmen im ganzen Land zum Mitglied des Verfassungskonvents gewählt worden
und bezeichnet andere Mitglieder als „Parasiten“.
Der Verfassungskonvent, dessen 155 Mitglieder im Mai 2021 mit
Geschlechterparität und reservierten Sitzen für Indigene gewählt wurden,
war mehrheitlich von linken und progressiven Kräften geprägt. Ein Jahr lang
erarbeiteten sie einen Verfassungsentwurf, über den die Menschen in Chile
jetzt am 4. September bei einem Referendum abstimmen werden. Der Ruf nach
einem neuen Grundgesetz wurde während der sozialen Revolte im Oktober 2019
lauter. In einem Referendum im Oktober 2020 stimmten knapp 80 Prozent für
die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.
Das aktuell in Chile gültige Grundgesetz stammt noch aus der
Pinochet-Diktatur. In ihm ist das neoliberale Wirtschafts- und
Gesellschaftsmodell verankert, das unter Militärgewalt und Staatsterror in
Chile implementiert wurde. Die Verfassung von 1980 reduziert die soziale
Verantwortung des Staats auf ein Minimum und schreibt der ökonomischen
Freiheit mehr Gewicht zu als den Grundrechten der Bürger*innen.
## Neoliberale Thinktanks
Die von Teresa Marinovic gegründete Stiftung Nueva Mente gehört zu einem
Netzwerk neoliberaler Thinktanks in Chile, die Falschinformationen über die
neue Verfassung verbreiten und dazu aufrufen, diese beim Referendum am 4.
September abzulehnen. Sie warnen vor einer staatlichen Kontrolle und
fordern dazu auf, eine vermeintlich bedrohte Freiheit zu verteidigen.
Eine der am häufigsten verbreiteten Falschmeldungen zufolge würde die neue
Verfassung alle Häuser und Wohnungen enteignen und das Privateigentum
verbieten. Dabei sichert sie das Recht auf Eigentum ab – aber auch das
Recht auf angemessenen Wohnraum, zu dessen Umsetzung der Staat verpflichtet
würde.
„Fast alle Falschmeldungen über Mitglieder des Verfassungskonvents und über
Artikel des Verfassungsentwurfs, die wir gesammelt haben, sind der
‚Rechazo‘-Kampagne [gegen die Annahme der neuen Verfassung] zuzuordnen“,
sagt der Kommunikationswissenschaftler [2][Marcelo Santos] von der
Universidad Diego Portales in Chiles Hauptstadt Santiago. „Das Ziel ist es,
negative Emotionen hervorzurufen, Verwirrung und Angst zu schaffen“.
## 10 indigene Völker
Zum anderen schüre die Kampagne nationalistische Gefühle, indem die
Indigenen als Gefahr für die nationale Identität dargestellt werden, sagt
Santos. Ein Video der Stiftung Nueva Mente zeigt manipulativ montierte
Aufnahmen von brennenden Barrikaden und einer vermummten Person im Poncho
mit einem Gewehr vor dem Regierungspalast La Moneda. In der aktuell
gültigen Verfassung werden die zehn Indigenen Völker Chiles noch nicht
einmal erwähnt. Das neue Grundgesetz soll Chile als plurinationalen Staat
definieren und die Rechte der Indigenen auf Land, Sprache und
Selbstbestimmung garantieren.
Unternehmer*innen, die sich während der Diktatur bereichert haben,
investieren viel Geld in die Kampagne gegen den Verfassungsentwurf. Fast 90
Prozent der offiziell registrierten Wahlspenden fließen in die Kampagne für
das „Rechazo“. An der Spitze der Spenderliste finden sich die Namen der
reichsten Familien Chiles wie Cúneo oder Ossandón Larraín.
Im Zentrum der Desinformationskampagne stehen die Ideen einer solidarischen
Umgestaltung der Systeme allgemeiner Daseinsvorsorge, die während der
Diktatur weitgehend privatisiert wurden. Chilenische Thinktanks wie die von
der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung geförderten Instituto Res Publica und
Fundación IdeaPaís warnen vor der Übernahme solcher Aufgaben durch den
Staat. Steigende öffentliche Ausgaben für die Rentenversorgung brächten
eine „unverantwortliche Verschuldung“ mit sich. Mitspracherechte indigener
Gemeinschaften und das Recht auf Streik schadeten der Wirtschaft, schreibt
das Instituto Res Publica.
Die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützt die
Fundación para el Progreso, die Thinktanks Horizontal und Libertad y
Desarrollo. Da die parteinahen Stiftungen in Deutschland aus staatlichen
Mitteln finanziert werden, fließen somit auch deutsche Steuergelder in
diese neoliberalen Stiftungen.
Viele sind Teil des in den USA angesiedelten, international aktiven Atlas
Network, das über 500 Stiftungen weltweit vereint. Das Atlas Network hat
neben ExxonMobile auch Spenden von Charles Koch erhalten. Der ist einer der
reichsten Menschen der Welt, leitete das Öl- und Chemiekonsortium Koch
Industries und ist Mitglied der Mont Pelerin Sociecty: eines 1947 von dem
österreichischen Ökonomen Friedrich Hayek gegründeten, weltweit aktiven
neoliberalen Netzwerks, das sich gegen Wohlfahrtstaat und Gewerkschaften
einsetzt. In den USA unterstützt er rechte Republikaner.
## Liberal-konservativ
Die Ideologie des Atlas Network sei „liberal im Ökonomischen und
konservativ bei den Werten“, sagt Kommunikationswissenschaftler Santos. Das
spiegele sich auch in der Desinformationskampagne gegen das Recht auf
Schwangerschaftsabbruch in der neuen Verfassung wider. „Wir wären das
einzige Land, das Abtreibung bis zum neunten Monat erlaubt“, sagte Felipe
Kast, Gründer des Thinktanks Horizontal, der für die rechtsgerichtete Parte
Evópoli im Senat sitzt, im Radio. Das entspricht keinesfalls der Realität,
da die neue Verfassung zwar das Recht auf freiwilligen
Schwangerschaftsabbruch garantieren würde, Fristen aber durch Gesetze
festgelegt werden würden.
Der Onkel von Felipe Kast, José Antonio Kast, trat bei der Stichwahl um das
Präsidentenamt gegen Gabriel Boric im Dezember 2021 an. Der Rechtsanwalt
ist Sohn eines früheren NSDAP-Mitglieds und Anhänger der katholischen
Schönstattbewegung. Sein älterer Bruder Miguel Kast war Arbeitsminister
unter Pinochet. Bis 2016 war José Antonio Kast Mitglied der
rechtskonservativen Partei UDI. 2019 gründete er die noch weiter rechts
stehende Republikanische Partei und den Thinktank Republikanische Ideen.
José Antonio Kast und die Republikanische Partei vernetzen sich
international mit Abtreibungsgegner*innen und Verfechter*innen
wirtschaftlicher Freiheit, wie zum Beispiel dem Political Network for
Values (PNfV). Seit März 2022 ist Kast deren Vorsitzender. Seit 2014
sammeln sich hochrangige Persönlichkeiten und Regierungsangehörige aus dem
konservativ-christlichen Umfeld in dieser Organisation. Ende Mai kamen
hundert Personen des PNfV in Budapest zu einem transnationalen Gipfel
zusammen. Das Ziel: Vernetzung und Ausbildung einer politischen Elite.
Nach Angaben der brasilianischen Zeitung O Globo und des chilenischen
Nachrichtenportals Interferencia lässt sich José Antonio Kast von dem
deutsch-chilenischen Ökonomen Sven von Storch beraten. Von Storch ist im
Süden Chiles geboren, wo er politisch aktiv war und nach wie vor gut
vernetzt ist. Er selbst tritt wenig in der Öffentlichkeit auf, steht aber
nach eigenen Angaben in regelmäßigem Austausch mit dem ultrarechten
US-Ideologen Steve Bannon.
## Mann von Storch
Er ist Betreiber des rechten Nachrichtenportals Freie Welt und der
Petitionsseiten Civil Petition und Abgeordnetencheck, die über den
Trägerverein Zivile Allianz e. V. mit Sitz in Berlin verbunden sind. Und er
ist der Ehemann der stellvertretenden Vorsitzenden der AfD-Fraktion im
Bundestag, Beatrix von Storch. Sie vertritt die AfD in der
deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe des Bundestags. Das Ehepaar
von Storch steht im Kontakt zu Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro.
Eine Gruppe rechter Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents,
darunter Teresa Marinovic, reisten im November vergangenen Jahres nach
Spanien, um sich dort mit Führungspersonen der rechtsextremen Partei Vox zu
treffen. Diese Partei bildet eine Brücke nach Lateinamerika. „Vox lernt vom
lateinamerikanischen ultrarechten Populismus, und aus Lateinamerika wird
auch stark geschaut, was die spanische extreme Rechte so macht“, erklärt
der spanische Journalist Miquel Ramos.
Kommunikationswissenschaftler Marcelo Santos beobachtet einen „modus
operandi“, der bei den Wahlen von Donald Trump in den USA und Jair
Bolsonaro in Brasilien erfolgreich gewesen sei, und auch beim Brexit in
Großbritannien und beim Wahlerfolg der Vox-Partei in Spanien. „Die
Strategie von Steve Bannon und Cambridge Analytica, mit der Trump
erfolgreich war, heißt Mikrosegmentation, also die gezielte emotionale
Manipulation von Personen anhand ihrer Schwächen. Das ist keine Straftat,
sondern eine legale Grauzone“, sagt er.
Santos hat beobachtet, dass in Chile seit einigen Monaten Nachrichten auf
Whatsapp verbreitet werden, die einen Wahlbetrug zugunsten des „Apruebo“,
also der Befürworter der neuen Verfassung, voraussagen. Auch dies ist eine
bekannte Strategie – von Donald Trump bis Jair Bolsonaro.
28 Aug 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=5I6RZYQMmCo
[2] https://twitter.com/celoo?lang=de
## AUTOREN
Sophia Boddenberg
Ute Löhning
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