Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Vor Referendum über neue Verfassung: Aufbruchstimmung in Chile
> Chile stimmt über eine neue Verfassung ab. Das Land gilt als Labor des
> Neoliberalismus – und könnte bald zum Labor von dessen Überwindung
> werden.
Bild: Hoffen auf die neue Verfassung: Demonstration in Chiles Hauptstadt Santia…
In Chile hat eine soziale Revolte geschafft, woran linke Parteien
jahrzehntelang gescheitert sind: einen grundlegenden politischen Wandel
anzustoßen. Eine demokratisch gewählte Versammlung hat [1][eine neue
Verfassung ausgearbeitet], über die am 4. September bei einem Referendum
abgestimmt wird. Es lohnt sich, einen Blick nach Chile zu werfen: Das Land,
das als Labor des Neoliberalismus gilt, könnte bald zum Labor von dessen
Überwindung werden.
Alles fing an mit dem Aufstand, [2][der im Oktober 2019 das gesamte Land
erfasste]. Proteste gegen eine Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn in der
Hauptstadt Santiago waren der Auslöser, aber schnell war klar, dass es um
viel mehr ging: una vida digna – ein würdevolles Leben. Niedrige Löhne und
Renten, prekäre Arbeitsbedingungen, hohe Studiengebühren trieben Millionen
von Menschen auf die Straße – es waren die größten Proteste seit dem Ende
der Pinochet-Diktatur. Sie hatten keine Anführer*innen, wurden von keinen
politischen Parteien gelenkt.
Die Unzufriedenheit über die soziale Ungleichheit vereinte Millionen von
Menschen, die monatelang demonstrierten und sich in basisdemokratischen
Nachbarschaftsversammlungen organisierten. Dort begann der
verfassungsgebende Prozess.
Während der [3][Militärdiktatur privatisierte Pinochet] zu großen Teilen
das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie das Rentensystem und das Wasser,
baute Arbeiter*innenrechte ab und zerschlug Gewerkschaften. 1980
verabschiedete er eine Verfassung, die den neoliberalen Weg zementieren
sollte. Zehn Jahre später kehrte Chile zwar zur Demokratie zurück, aber die
Verfassung blieb in Kraft. Während der Revolte war deshalb schnell klar,
dass nur eine verfassungsgebende Versammlung einen Ausweg aus der Krise
finden könnte.
Im Oktober 2020 stimmten bei einem Referendum fast 80 Prozent für die
Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Im Mai 2021 wählten die Menschen
Feminist*innen, Umweltschützer*innen und soziale Aktivist*innen
mit in die Versammlung, die die neue Verfassung ausarbeiten sollte. Sie
bestand zur Hälfte aus Frauen und hatte Sitze für die zehn indigenen Völker
reserviert. Noch nie repräsentierte ein politisches Organ so stark die
chilenische Gesellschaft. Es war ein klares Zeichen: Nicht mehr die
oligarchische Elite sollte die Zukunft des Landes bestimmen, sondern
diejenigen, die bisher von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen
worden waren.
Nicht einmal ein Drittel der Sitze erhielten die Rechten, wodurch sie nicht
in der Lage waren, Entscheidungen zu blockieren. Das Ergebnis:
Veränderungen, für die sozialen Bewegungen seit Jahrzehnten kämpfen,
verabschiedete der Verfassungskonvent mit einer Zweidrittelmehrheit: das
Recht auf menschenwürdigen Wohnraum, auf Bildung und Gesundheit, Landrechte
von Indigenen, die Entprivatisierung des Wassers, Umweltschutz, Rechte von
Frauen und LGBTIQ+.
Die neue Verfassung, wenn sie in Kraft tritt, wird eine der
fortschrittlichsten der Welt sein: Sie verpflichtet den Staat zum
Klimaschutz, erkennt Pflege- und Sorgearbeit an und garantiert
Geschlechterparität in staatlichen Institutionen.
Die neue Verfassung dürfte nicht von heute auf morgen alle Probleme Chiles
lösen. Aber sie würde die Möglichkeit eröffnen, strukturelle Veränderungen
umzusetzen und die politische Richtung der nächsten Jahrzehnte vorzugeben.
Die wirtschaftliche Elite Chiles, die sich seit der Diktatur auf Grundlage
der aktuellen Verfassung bereichert hat, setzt alles darauf, ihre
Privilegien zu schützen. Sie investiert viel Geld in eine Kampagne gegen
eine neue Verfassung und verbreitet Falschmeldungen und
Verschwörungstheorien, um Angst und Verunsicherung zu erzeugen.
## Rechte schüren Ängste
Einer der Sprecher der Kampagne sagte, die neue Verfassung würde einer
„kommunistischen Diktatur“ die Türen öffnen. Auf sozialen Netzwerken
kursieren Videos, die davor warnen, dass Häuser und Wohnungen enteignet und
in Staatseigentum übergehen würden. Ein rechter Politiker warnte davor,
Abtreibungen würden bis zum neunten Monat erlaubt werden. All diese
Vorwürfe entbehren jeglicher Grundlage im Verfassungstext.
Um diejenigen zu überzeugen, denen die neue Verfassung zu weit geht, hat
die Regierung [4][des linken Präsidenten Gabriel Boric] ein Abkommen mit
Parteien der Regierungskoalition abgeschlossen, um den Text im Parlament zu
reformieren, wenn er angenommen wird. Die Reformpläne betreffen umstrittene
Aspekte wie Plurinationalität (also die Anerkennung mehrerer Ethnien im
Land), die Rechte der Indigenen und die Beteiligung von Privaten in der
öffentlichen Daseinsvorsorge. Im Senat und in der Abgeordnetenkammer haben
rechte Parteien außerdem die Hälfte der Sitze, weshalb dort vermutlich
Reformen vorgenommen werden, wenn die neue Verfassung angenommen wird.
Veränderungen verursachen immer Unsicherheiten. Auf Grundlage dieser
Gefühle manipulieren die Rechten mit ihrer Kampagne. Basisorganisationen
versuchen, gegen die Desinformationskampagne anzukämpfen und die Menschen
von den Vorteilen der neuen Verfassung zu überzeugen. Da die Veränderungen,
die das neue Grundgesetz anstoßen würde, erst in Jahren spürbar sein
werden, ist das keine einfache Aufgabe.
## Verfassung als Bestseller
Auf den Straßen von Santiago spürt man aber Hoffnung und Aufbruchstimmung.
Künstler*innen und Musiker*innen unterstützen die neue Verfassung.
Mehr als 7.000 Personen kamen bei einer Zusammenkunft für die neue
Verfassung am Stadtrand Santiagos zusammen. In der U-Bahn lesen die
Menschen die neue Verfassung, jeden Tag stehen Hunderte vor dem
Regierungsgebäude Schlange, um sich ein Exemplar abzuholen, das die
Regierung kostenlos verteilt. Der Verfassungsentwurf ist außerdem das
meistverkaufte Sachbuch.
Wir können vor allem eins von Chile lernen: dass mit kollektiver
gesellschaftlicher Kraft tiefgreifende Veränderungen angestoßen werden
können.
23 Aug 2022
## LINKS
[1] /Praesidentschaftswahl-in-Chile/!5820872
[2] /Wahlausgang-in-Chile/!5823016
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Augusto_Pinochet
[4] /Regierungswechsel-in-Chile/!5836812
## AUTOREN
Sophia Boddenberg
## TAGS
Chile
Augusto Pinochet
Neoliberalismus
Verfassung
Referendum
Chile
Chile
Chile
Chile
Gabriel Boric
Salvador Allende
Präsidentschaftswahl Chile
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verfassungsreferendum in Chile: Aus alt mach alt
Beim Volksentscheid in Chile blieb die Veränderung dem Altbekannten
unterlegen. Der Prozess hat allerdings einen demokratischen Diskurs
angeschoben.
Gescheiterte neue Verfassung in Chile: Pinochets Erbe
Chile hat sich gegen eine neue Verfassung entschieden. Es zeigt: Die
Ideologie des Neoliberalismus ist in der Gesellschaft tief verankert.
Verfassungsreferendum in Chile: Klares Nein zum Fortschritt
Bei einem Referendum stimmen 62 Prozent der Chilen*innen gegen eine
neue, linke Verfassung. Viele im Land sind enttäuscht und geschockt.
Chile vor dem Referendum: Untergang des Andenlands
Chiles Ultrarechte versuchen, die Annahme der neuen Verfassung am 4.
September zu verhindern. Unterstützung bekommen sie auch aus Deutschland.
Regierungswechsel in Chile: Große Visionen des Gabriel Boric
Gabriel Boric tritt am Freitag als jüngster Präsident Chiles das
Präsidentenamt an. Er verspricht eine feministische und umweltbewusste
Regierung.
Neues Kabinett in Chile: 14 Frauen in der Regierung
Der gewählte chilenische Präsident Gabriel Boric stellt sein künftiges
Kabinett vor: Die Enkelin Salvador Allendes wird Verteidigungsministerin.
Präsidentschaftswahl in Chile: Wie viel echter Cambio ist drin?
Was kann Chiles künftiger Präsident Gabriel Boric umsetzen? Das hängt von
Mehrheiten im Parlament und der neuen Verfassung ab.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.