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# taz.de -- Verfassungsreferendum in Chile: Klares Nein zum Fortschritt
> Bei einem Referendum stimmen 62 Prozent der Chilen*innen gegen eine
> neue, linke Verfassung. Viele im Land sind enttäuscht und geschockt.
Bild: Gegner*innen der linken Verfassung feiern nach der Auszählung
Santiago de Chile taz | Als sich gegen neun Uhr am Abend (Ortszeit) die
Option „Rechazo“, also die Ablehnung einer neuen Verfassung, mit einer
eindeutigen Mehrheit bei den Auszählungen der Stimmen abzeichnet, wird es
zunächst still auf den Straßen von Chiles Hauptstadt Santiago. Viele hatten
schon die Feier für die neue Verfassung vorbereitet. Auf der Plaza
Dignidad, wo [1][2019 und 2020 Sozialproteste stattfanden], standen
Lautsprecher bereit, Straßenverkäufer*innen hatten bereits ihre
Stände aufgebaut. Die Aufkleber, T-Shirts und Fahnen mussten sie wieder
einpacken.
Drei Frauen sitzen niedergeschlagen am Bürgersteig an einer Bushaltestelle.
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagt die 45-jährige Claudia Salas.
„Ich bin enttäuscht, traurig und wütend. Die Angst hat gesiegt. Viele
denken, es ist besser, in einem System zu leben, das sie kennen.
Veränderung macht ihnen Angst.“
An einer Straßenecke hat eine Gruppe Nachbarn einen alten Röhrenfernseher
aufgestellt, um die Auszählung der Stimmen gemeinsam zu verfolgen. Aber die
Freude bleibt aus, viele der Umstehenden liegen sich in den Armen, manche
haben Tränen in den Augen, andere stöhnen wütend.
Nachdem die Stimmen fast vollständig ausgezählt sind ist klar: Fast 62
Prozent haben gegen die [2][neue Verfassung] gestimmt, die eine
demokratisch gewählte Versammlung ein Jahr lang ausgearbeitet hatte. Es war
die Antwort auf die Massenproteste gewesen, die Chile 2019 und 2020
erfassten. Die Wahlbeteiligung lag historisch hoch bei über 85 Prozent,
weil zum ersten Mal seit der Einführung der freiwilligen Wahl 2012
Wahlpflicht herrschte. Umfragen hatten zwar ein knappes Ergebnis
vorausgesagt oder auch die Ablehnung der Verfassung. Aber ein so
eindeutiges Ergebnis war eine Überraschung.
## Trendwende in Chile
„Das Ergebnis ist kein [3][Sieg der Rechten]“, sagt Politikwissenschaftler
Octavio Avendaño. „Die Parteien der Mitte haben den verfassungsgebenden
Prozess und die Inhalte kritisiert und so ermöglicht, dass die Option des
‚Rechazo‘ ein solch breites Ergebnis erzielen konnte.“
Das Ergebnis des Referendums sei komplett gegensätzlich zu allen vorherigen
Wahlergebnissen. 2020 hatten knapp 80 Prozent bei einem Plebiszit [4][für
eine neue Verfassung gestimmt], im Mai 2021 erhielten Progressive und
Parteiunabhängige die [5][Mehrheit der Sitze im Verfassungskonvent]. Ende
2021 wurde [6][mit Gabriel Boric ein linker Präsident] gewählt.
Die Organisation Amarillos por Chile ist die Organisation, die dem
chilenischen Wahldienst Servel zufolge am meisten Wahlspenden erhielt.
„Amarillos“ (die Gelben), werden in Chile diejenigen genannt, die sich
politisch nicht eindeutig positionieren, auch die Streikbrecher und
diejenigen, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse verraten.
Mehr als 75 Politiker*innen, darunter mehrere aus der ehemaligen
Concertacíon, der Mitte-Links-Regierung, die Chile nach dem Ende der
Pinochet-Diktatur regierte, hatten sich zu den Amarillos por Chile
zusammengeschlossen, um die Verabschiedung des Verfassungsentwurfs zu
verhindern, weil er nicht die Mehrheit repräsentiere.
Sie seien eine „schweigende Mehrheit“, die „Reformen und keine Revolution…
wolle, eine „ausgeglichene Verfassung“, die „Ordnung mit Freiheit, Wandel
mit Stabilität“ vereinen sollte, heißt es in ihrer Gründungserklärung.
## Falschmeldungen in sozialen Medien
Finanziert wurde die Kampagne für das „Rechazo“ hauptsächlich von Chiles
Superreichen. Die Familie Cúneo Solari, eine der reichsten Familien Chiles
und Eigentümer des Konzerns Falabella, stehen ganz oben auf der Liste der
vom Wahldienst Servel registrierten Spendengeber*innen. Ihre Spenden
flossen in die Kampagne der Amarillos por Chile. Einen Großteil der Spenden
investierten sie in Anzeigen auf Facebook, Instagram und YouTube.
Und dort wurden besonders viele Falschnachrichten verbreitet. Die neue
Verfassung sei von der „extremen Linken“ ausgearbeitet worden, würde die
„Türen für eine kommunistische Diktatur“ öffnen, Häuser enteignen und
[7][Indigenen mehr Rechte] geben als anderen Chilen*innen – so einige
der Vorwürfe. Dabei hätte die neue Verfassung soziale Grundrechte und
Umweltschutz garantiert.
„Der Sieg des ‚Rechazo‘ zeigt, dass die Fake News, die Lügen und die
Desinformation gewonnen haben“, sagt der 32-jährige Sebastián Soto, der zur
Plaza Dignidad gekommen ist. Hunderte Menschen sind hier zusammengekommen.
Es brennen Barrikaden, aus der Entfernung hört man Autokorsos von
Gegner*innen der Verfassung, die feiern, Polizeifahrzeuge nähern sich.
Die Stimmung ist angespannt.
Noch am Wahlabend lädt Präsident Boric alle politischen Parteien der
Regierung und der Opposition zu einem Treffen am Montagnachmittag ein, zu
einem „Raum des Dialogs über die Herausforderungen für die Kontinuität des
verfassungsgebenden Prozesses“. Mitglieder der rechten Koalition Chile
Vamos, der der ehemalige Präsident Sebastián Piñera angehört, haben bereits
angekündigt, nicht an dem Treffen teilzunehmen.
„Wir behalten die Hoffnung und die Kraft, damit der Prozess des Wandels
weitergeht. Aber es wird jetzt viel schwieriger sein“, sagt Sebastián Soto.
5 Sep 2022
## LINKS
[1] /Soziale-Proteste-in-Chile/!5633047
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[3] /Chile-vor-dem-Referendum/!5874774
[4] /Referendum-in-Chile/!5723304
[5] /Wahl-zum-Verfassungskonvent/!5767584
[6] /Praesidentschaftswahl-in-Chile/!5822998
[7] /Indigenenkonflikt-in-Chile/!5708612
## AUTOREN
Sophia Boddenberg
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