| # taz.de -- Dokumentarfilm über Psychiatrie: Eine reale Utopie | |
| > Nicolas Philiberts „Auf der Adamant“ wurde auf der diesjährigen Berlinale | |
| > mit dem Goldenen Bären prämiert. Er zeigt die Psychiatrie als offene | |
| > Praxis. | |
| Bild: Wer eine psychische Erkrankung hat, lebt leider oft sehr isoliert | |
| Hinter einer Drahttür führt vom rechten Ufer der Seine in Paris ein Steg | |
| auf einen bootsförmigen Holzbau unterhalb des Pont Charles de Gaulle, der | |
| sich zwischen der Gare d’Austerlitz und der Gare de Lyon über die Seine | |
| spannt. Die Adamant ist ein psychiatrisches Tageszentrum. Tag für Tag | |
| kommen Menschen hierher wie in einen sicheren Hafen, führen Gespräche im | |
| Licht durchfluteten Inneren oder auf den Gängen, die auf beiden Seiten | |
| außen an den Räumen entlangführen. | |
| Während Schiffe die Seine heruntergleiten, entfaltet sich im Inneren der | |
| Tag. Jeder Morgen beginnt mit einem Frühstück, jeder Montag mit einem | |
| Treffen der Betreuer:innen und Patient:innen. Es folgen gemeinsame oder | |
| individuelle Aktivitäten, Angebote wie Mal- und Zeichenstunden, | |
| Musikworkshops. Der französische Filmemacher Nicolas Philibert dokumentiert | |
| das menschliche Treiben „[1][Sur l’Adamant“ („Auf der Adamant“). Phil… | |
| Film gewann in diesem Februar den Goldenen Bären auf der Berlinale]. | |
| Der Film nähert sich seinem Ort gemächlich und gelassen, lässt die Struktur | |
| der Tage allmählich hervortreten und bleibt offen für Gespräche und | |
| Wortwechsel mit den Besucher:innen des Zentrums am Rande. In dieser | |
| flexiblen und doch klaren Struktur zeigt er die Adamant als | |
| extraterritorialen Ort, an dem die Innenwelten seiner Besucher:innen | |
| Raum bekommen, wenn nötig durch Nachfragen zugänglich werden und oft zum | |
| Ausgangspunkt kreativer Arbeit werden. | |
| Im Interview des Pressematerials sagt Philibert: „Ich habe die Psychiatrie | |
| immer sehr aufmerksam verfolgt und mich sehr dafür interessiert. Es ist | |
| eine Welt, die sowohl beunruhigend als auch (…) sehr anregend ist, da sie | |
| uns ständig dazu zwingt, über uns selbst, unsere Grenzen, unsere Fehler und | |
| die Art und Weise, wie die Welt funktioniert, nachzudenken.“ | |
| Viele der Gespräche über die Innenwelten der Besucher:innen der Adamant | |
| umreißen deren eigene Regeln und geben eine Idee von den Bedürfnissen, die | |
| sich aus diesen ableiten. Ein junger Mann spricht davon, wie sehr der Lärm | |
| seiner Mitmenschen ihn herausfordert und dass er sich die Welt mit Musik | |
| auf den Ohren vom Leib halten muss. Ein anderer Mann berichtet, dass ihn | |
| innere Stimmen immer wieder in unflätiger Weise runterputzen. | |
| Einige sprechen auch darüber, dass [2][ihre Medikation] für sie eine | |
| Vorbedingung für die Fähigkeit ist, ihren Alltag zu bestreiten. „Auf der | |
| Adamant“ ist eine Feier der Gemeinschaft der Individualität. Die | |
| Besucher:innen wechseln zwischen ihren Vorlieben und individuellen | |
| Steckenpferden und den Gemeinschaftsaktivitäten, dem gemeinsamen Abrechnen, | |
| dem gemeinsamen Kochen. | |
| ## Philibert gab den Adamant-Besucher:innen Zeit | |
| Sieben Monate lang zwischen Mai und November 2021 filmte Philibert in | |
| Intervallen, auch um der Adamant und ihren Besucher:innen Zeit zu | |
| geben, sich von der künstlichen Situation des Gefilmtwerdens zu erholen. | |
| Während des Filmens hat Philibert alles unternommen, um das Drehteam | |
| möglichst klein und damit möglichst wenig einschüchternd zu halten, hat oft | |
| allein gedreht. Auch diesem Ansatz verdankt der Film, dass sich die meisten | |
| der Menschen vor der Kamera recht frei zu fühlen scheinen, offen dafür | |
| sind, von sich zu erzählen oder mit dem Menschen hinter der Kamera zu | |
| scherzen. | |
| „Zu meinem Beruf mache ich das nicht“, sagt lachend ein älterer Mann mit | |
| einem Hut auf dem Kopf, einer Brille auf der Nase und einer Maske am Kinn | |
| und beugt sich wieder herunter zu der Jacke, an der er herumnäht. „Hatten | |
| Sie einen Beruf?“, fragt der Regisseur aus dem Off. | |
| Der Mann blickt hoch, zögert kurz und sagt kopfschüttelnd „Nein“, während | |
| sich ein Lächeln auf seinem Gesicht bildet. Kurz blitzt der Blick runter | |
| auf die Hände, dann hebt er den Blick erneut und schiebt nach: „Die | |
| Poesie.“ Ein weiterer kurzer Blick auf die Hände mit der Nadel. „Aber das | |
| ist kein Beruf.“ Ein Beruf mag die Poesie nicht sein, aber wäre es einer, | |
| wäre die Adamant, so viel weiß man nach dem Sehen von Philiberts Film, ihre | |
| Akademie. | |
| Gegen Ende wird es „Auf der Adamant“ turbulent, als eine Besucherin auf | |
| einem Gruppentreffen vorschlägt, selbst einen Workshop anzuleiten. Einer | |
| der Betreuer nimmt die Anregung auf, versucht aber gleichzeitig zu | |
| formulieren, was die Vorbehalte gegenüber dem Vorschlag sind. Die Grenze | |
| zwischen Besucher- und Betreuer:innen ist in dem Film weitgehend | |
| unsichtbar, ohne Gewicht ist sie deshalb jedoch nicht. | |
| „Wir haben hier ein Imageproblem“, sagt einer der Bewohner und spricht über | |
| seine [3][Erfahrungen der Ausgrenzung im Alltag]. Philiberts Film zeigt die | |
| Welt der Psychiatrie als eine, die mit der Alltagswelt in vielfältiger | |
| Weise verbunden ist und aus einer Perspektive auf diese blickt, die Raum | |
| gibt für diverse Bedürfnisse und Eigenheiten. Die Adamant ist eine reale | |
| Utopie. | |
| 25 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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