# taz.de -- Goldener Bär für Doku über Restitution: Stimmen aus dem Jenseits | |
> Wieder gewinnt ein Dokumentarfilm die Berlinale. „Dahomey“ von Mati Diop | |
> begleitet die Rückgabe von Raubkunst aus Frankreich nach Benin. | |
Bild: Regisseurin Mati Diop gewann am Samstag mit ihrer Dokumentation „Dahome… | |
König Ghézo kommt zurück. Er ist unzufrieden. Er weiß nicht, was ihn in | |
seiner Heimat erwartet. Er ärgert sich, dass er in einer dunklen Kiste | |
steckt und dass man ihn seines Namens beraubt und stattdessen mit einer | |
Nummer versehen hat, der 26. Das ist zugleich die Anzahl an | |
[1][Kunstobjekten, die 2021 aus Frankreich an das heutige Benin | |
zurückgingen]. Sie waren während der Kolonialzeit geraubt worden und | |
gehörten danach zum Bestand des Pariser Musée Quai Branly. | |
Die französisch-senegalesische Regisseurin [2][Mati Diop begleitete den | |
Vorgang mit der Kamera für ihren Dokumentarfilm „Dahomey“], der am | |
Sonnabend bei der Preisverleihung der 74. Berlinale mit dem Goldenen Bären | |
ausgezeichnet wurde. Ihr Film bietet Szenen, in denen die Statuen und | |
andere Objekte fachgerecht in Kisten verpackt und in Benin dann wieder | |
ausgepackt und wissenschaftlich begutachtet werden. | |
Dazwischen gibt es eine Diskussion an der Université d'Abomey-Calavi zu | |
sehen, bei der darüber gestritten wird, ob es eine Schande ist, dass von | |
7.000 entwendeten Objekten bloß 26 zurückgekehrt sind, oder ob man diese | |
Geste als ersten Schritt begrüßen sollte. Gestritten wird auch darüber, ob | |
etwa das „westliche“ Konzept des Museums der richtige Ort für die Objekte | |
ist, die einst kultischen Zwecken dienten. Aus dem Off erklingt regelmäßig | |
die Stimme von Objekt 26, elektronisch verfremdet, mit mehr oder minder | |
freien Kommentaren zum Geschehen. Ob sie für den Film nötig waren, ihm eine | |
entscheidende Dimension verliehen, die die dokumentarischen Bilder nicht | |
hatten, sei dahingestellt. | |
Die Jury unter dem Vorsitz der Schauspielerin Lupita Nyong'o entschied sich | |
unter den 20 konkurrierenden Wettbewerbsfilmen für einen von zwei | |
Dokumentarfilmen. Nach [3][Nicolas Philiberts „Auf der Adamant“] aus dem | |
vergangenen Jahr gewinnt damit zum zweiten Mal in Folge kein Spielfilm bei | |
den Internationalen Filmfestspielen Berlin den Preis für den besten Film. | |
Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, doch die Frage ist, ob wirklich | |
der beste Film gewonnen hat. Die Entscheidung sagt zugleich etwas über die | |
restliche Auswahl aus. | |
Halbgeglücktes Arthousekino | |
Da hatte sich lange kein klarer Favorit abgezeichnet, auch wenn ein paar | |
starke Filme vertreten waren, die am Ende zumindest zum Teil mit einigen | |
der übrigen Preise bedacht wurden. Vor allem aber fiel dieser Wettbewerb | |
durch halbgeglücktes Arthousekino ohne stimmige ästhetische Haltung auf. | |
Zum Beispiel waren da die beiden italienischen Filme, „Another End“ von | |
Piero Messina und „Gloria!“ von Margherita Vicario, die auf ganz | |
unterschiedliche Weise ihrem Thema nicht gerecht wurden. Der | |
Science-Fiction-Film „Another End“ ließ das Drama seiner Gedankenspiele um | |
Trauer in grauem Einerlei versinken, der Historienfantasiefilm „Gloria!“ | |
über die Schülerinnen einer Musikakademie bei Venedig verschenkte sein | |
Tribut an die vergessenen Komponistinnen des 18. Jahrhunderts durch | |
mutwillige Niedlich- und musikalische Beliebigkeit. | |
Auch der Franzose [4][Olivier Assayas konnte in seinem Lockdownfilm „Hors | |
du temps“] keine richtige Form finden für die private Pandemiegesellschaft, | |
die er zeigt, ungeachtet präzise beobachteter Details. Und die ebenfalls | |
französische Regisseurin Claire Burger machte ihre „Langue Étrangère“ um | |
einen deutsch-französischen Schülerinnenaustausch zu einem lieblos | |
didaktischen Abhaken drängender heutiger Fragen wie Rechtsextremismus und | |
den Umgang mit der deutschen Vergangenheit. | |
Von solchen Enttäuschungen abgesehen, erfreuten umso mehr die Ausreißer | |
nach oben. Einer der schönsten davon, wieder aus Frankreich, war Bruno | |
Dumonts Science-Fiction-Komödie „L'Empire“, die hemmungslos mit den | |
Bildkonventionen des Genres Schindluder trieb und so schöne Einfälle aufbot | |
wie Raumschiffe, die der Pariser Saint-Chapelle oder dem Schloss Caserta | |
nachempfunden waren, deren Verlängerungen nach unten hin andererseits an | |
die apokalyptischen Betonruinen aus den Comics des Zeichners Enki Bilal | |
erinnerten. Auch für die Kirchenfenster der Berliner Gedächtniskirche hatte | |
Dumont in seinem Bildpastiche Verwendung. | |
Auch das Personal, unförmige Außerirdische in Plastikglibber- | |
beziehungsweise Lichtgestalt, die sich auf der Erde notgedrungen | |
Dorfdeppenkörper aneignen, ist entwaffnend reizvoll. Dass die verfeindeten | |
Aliengruppen, die bei ihm aufeinandertreffen, nebenbei noch etwas übrig | |
haben für das Lustempfinden, das sich menschliche Körper im Miteinander | |
bereiten können, ist eine weitere feine Pointe. Dafür gab es immerhin den | |
Preis der Jury. | |
Prinzip der Wiederholung | |
Der Große Jurypreis ging an einen weiteren älteren Mitstreiter, den schon | |
öfter im Berlinale-Wettbewerb angetretenen südkoreanischen Regisseur | |
[5][Hong Sangsoo]. Sein Film „A Traveler's Needs“ mit Isabelle Huppert in | |
der Hauptrolle als Frau, die irgendwie in Korea gelandet ist, wo sie nach | |
spontan entwickelten pädagogischen Ideen Französischunterricht erteilt, | |
folgt Hong Sangsoos bewährtem Prinzip der Wiederholung mit Variationen, in | |
der die gleichen Szenen mit leichten Veränderungen durchgespielt werden, | |
mit großem Erkenntnis- und Komikgewinn. | |
Sperriger, aber keinesfalls uninteressant zeigte sich dagegen [6][„Pepe“, | |
der überbordende Beitrag des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlo de los | |
Santos Arias] über das erste Nilpferd, das auf dem amerikanischen Kontinent | |
getötet wurde. Das titelgebende Tier spricht aus dem Jenseits zum Publikum, | |
wie bei Diops „Dahomey“ mit verzerrter Stimme, erzählt seine Geschichte, | |
gemischt mit dokumentarisch anmutendem Material, historischen Vignetten und | |
Geschichten der Menschen in Kolumbien, die die dort zuvor unbekannten | |
Nilpferde fürchten lernten. Drogenboss Pablo Escobar hatte sie eigens aus | |
Afrika für einen Privatzoo „holen“ lassen. Der Regiepreis schien da nicht | |
verkehrt. | |
Dass andererseits ein Film mit politischem Anliegen, der sein Thema auf | |
menschlich genau beobachtete und zugleich erzählerisch offene Weise angeht | |
wie „Mé el Aïn“ der tunesisch-kanadischen Regisseurin Meryam Joobeur, am | |
Ende leer ausging, gehört zu den weniger verständlichen | |
Jury-Entscheidungen. Das Drama um eine Mutter, die zwei ihrer drei Söhne an | |
den IS verloren hat, wird vom verbliebenen Sohn Adam, mit der kindlichen | |
Frage zusammengefasst: „Ich habe sie immer noch lieb. Ist das okay?“ Ob das | |
in Teilen interpretationsbedürftig rätselhafte Drehbuch die Jury | |
abgeschreckt hat? | |
Von den deutschen Filmen erhielt lediglich Matthias Glasner für „Sterben“ | |
den Preis für das beste Drehbuch. Wie zwingend man alle Einzelheiten in | |
seiner um zwei ungleiche Geschwister herum erzählten dreistündigen | |
Familiengeschichte am Ende findet, wäre noch zu erörtern. Doch enthält der | |
Film einige der am besten geschriebenen Szenen dieses Wettbewerbs, darunter | |
ein erbarmungsloses Gespräch zwischen Sohn (Lars Eidinger) und Mutter | |
(Corinna Harfouch), warum sie einander nicht lieben und dafür so kalt zu | |
anderen Menschen sind. Wie man in solchen Fällen sagt: Diese Szene wird | |
bleiben. | |
Politische Schlagseite der Preisverleihung | |
Was von der Preisverleihung bleibt, ist vor allem die politische | |
Schlagseite des Abends. Hatte die scheidende Geschäftsführerin, Mariëtte | |
Rissenbeek, anfangs noch an das Massaker der Hamas vom 7. Oktober in Israel | |
erinnert, sprach sie gleich im nächsten Atemzug von einer politischen | |
Lösung für Gaza: „Die Kampfhandlungen müssen aufhören.“ | |
Unter den Juryvertretern, die auf der Bühne erschienen, trugen wiederum | |
einige Stoffstücke mit dem Schriftzug „Cease Fire Now“, und manche | |
Preisträger nahmen ihre Auszeichnung mit Palästinensertuch um den Hals | |
entgegen, so der Regisseur Ben Russel, der mit seinem Ko-Regisseur | |
Guillaume Cailleau für den Dokumentarfilm „Direct Action“ über eine | |
militante französische Aktivistengruppe in der Sektion „Encounters“ den | |
Preis für den besten Film erhielt. | |
In den „Encounters“, dem unter dem scheidenden künstlerischen Leiter Carlo | |
Chatrian eingeführten Nebenwettbewerb für freiere Formen, bekannte sich | |
zudem die für ihren Spielfilm „Cidade Campo“ mit dem Regiepreis geehrte | |
brasilianische Regisseurin Juliana Rojas in ihrer Dankesrede zur | |
„Solidarität mit allen palästinensischen Zivilisten“. Diese Differenzieru… | |
entfiel später beim Goldenen Bären. Mati Diop rief unter Beifall: „Ich | |
stehe in Solidarität mit Palästina.“ Der 7. Oktober, schien es, war da | |
schon weit weg. | |
25 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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