# taz.de -- Berlinale Spielfilm „Hors du temps“: Aus der Zeit gefallen | |
> In Olivier Assayas’ neuem Film fliehen zwei Brüder mit ihren Partnerinnen | |
> aufs Land. Eine Hommage an den Corona-Lockdown. | |
Bild: Lockdown 2020 im Grünen und im Luxus; jedenfalls für die zwei Brüder E… | |
Es ist verrückt, wie veraltet genau die Themen manchmal erscheinen, die | |
noch vor Kurzem am meisten auf den Nägeln brannten. „Hors du temps“, der | |
Titel des neuen Films von [1][Olivier Assayas], den man gut mit „Aus der | |
Zeit gefallen“ übersetzen könnte, scheint deshalb für einen Film über die | |
erste Lockdownperiode der Coronapandemie in mehr als einer Hinsicht | |
passend. | |
Tatsächlich rückt Assayas das Geschehen, an das sich wohl alle noch mit, | |
gelinde gesagt, gemischten Gefühlen erinnern, zum Auftakt in die | |
sentimental behaftete Ferne einer Kindheitserinnerung. Zu Szenen, die die | |
pflanzenbesäumten Häuser eines französischen Nests außerhalb von Paris | |
zeigen, erzählt eine männliche Stimme aus dem Off vom Aufwachsen hier und | |
von Ausflügen zusammen mit dem jüngeren Bruder ins Anwesen der Nachbarn, | |
das größer war und sogar einen Tennisplatz besaß. | |
Genau hierhin, also in vergleichsweise luxuriöse Verhältnisse, verschlägt | |
es die beiden Brüder nun als erwachsene Männer im Frühjahr 2020 zusammen | |
mit ihren jüngeren Freundinnen (Nora Hamzawi und Nina d’Urso), beides | |
relativ neue Partnerschaften, wie man im Zuge des Films erfährt. In der | |
Mischung aus äußerer Idylle – die kontemplative Ruhe!; kaum Flugzeuge | |
am Himmel! – und angespannten Nerven trifft Assayas die Atmosphäre des | |
ersten Lockdowns sehr genau. | |
Da ist die paranoide Hektik, mit der Paul (Vincent Macaigne) den Karton des | |
Amazon-Pakets, das er gerade auspackt, vor die Tür schmeißt, und da sind | |
seine Belehrungen an den Bruder darüber, dass man Einkäufe mindestens vier | |
Stunden vor der Tür lassen sollte, um eine Kontaminierung zu vermeiden. | |
## Verunsicherung durch Leichtigkeit | |
Bruder Etienne (Micha Lescot) hält das für übertrieben, ihm ist wichtiger, | |
die „Kühlungskette“ nicht zu unterbrechen und Milchprodukte aller Art vom | |
Supermarkt direkt in den heimischen Kühlschrank zu befördern. Die | |
sprachlich versierte Besserwisserart, in der sich die Brüder über solche | |
und andere Dinge streiten, gibt dem Film etwas Komödiantisches, von dem man | |
sich nie sicher ist, ob es so gemeint war. | |
Aber im Grunde gilt das für den ganzen Film: Er verunsichert nachgerade mit | |
seiner Leichtigkeit, mit der Skizzenhaftigkeit, in der er diesem besonderen | |
Moment unserer nahen Vergangenheit nachspürt, der uns allen doch so lästig | |
geworden ist. Manche Quelle der aktuellen Polarisierungen ist im Streit der | |
Brüder auszumachen – allerdings, ohne dass der Film daraus Schlüsse zieht. | |
All die Dinge, von denen „Hors du temps“ mit zweifellos gekonnter | |
Beiläufigkeit erzählt, sind entweder hinlänglich bekannt oder scheinen im | |
Nachhinein lächerlich, etwa die Hoffnung auf ein weltweit tugendhaftes | |
Besinnen auf Mülltrennung, körperlicher Fitness und mehr Do-it-yourself | |
statt China-Import. | |
Vincent Macaigne spielt den von Ängsten und Neurosen geplagten Icherzähler, | |
der auch ein Stand-in für den Regisseur selbst ist, mit drolliger | |
Selbstironie. In seinen besten Momenten erinnert der Film an die | |
zwiespältige Angst vor dem Ende des Lockdowns: einerseits davor, dass etwas | |
vorbeigeht, das man in Teilen auch genossen hat – wie zum Beispiel das | |
Gefühl, nichts zu verpassen –, und andererseits davor, dass das Schlimmste | |
danach erst beginnt. Was auf den ersten Blick als leicht angreifbares | |
vanity project über Privilegiertheit und Lockdown daherkommt, entwickelt | |
sich auf den zweiten zur leisen Hommage an eine kurze Zeit, in der man noch | |
nichts wirklich besser wusste. | |
19 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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