# taz.de -- Auftakt Berlinale 2024: Gerade viel los | |
> Mit der 74. Berlinale beenden Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek ihre | |
> Festival-Leitung. Die Festspiele starten unter stürmischen Vorzeichen. | |
Bild: Wieder an die Fassade montiert: Bär am Zoo-Palast | |
Internationale Filmfestspiele Berlin. Damit wäre eigentlich schon viel | |
gesagt. Zur Frage, was die national orientierte AfD auf diesem Festival | |
verloren hat, aber auch zu den vorab erfolgten Aufrufen, das Festival zu | |
boykottieren, weil es als Kulturveranstaltung des Bundes stellvertretend | |
für die Politik der Bundesregierung an den Pranger gestellt wird – von | |
Personen, die gegen Solidarität mit Israel sind. | |
Im Vorfeld hatte es mithin hier und da schon gerumst, und das nicht der | |
Filme wegen. So gab es in Verbindung mit der Boykottaktion „Strike Germany“ | |
drei Absagen von Filmemachern, die in der freien Sektion „Forum Expanded“ | |
ihre Arbeiten vorstellen sollten. | |
Doch auch das [1][Bekanntwerden von Einladungen an AfD-Abgeordnete zur | |
Eröffnungsfeier der Berlinale] hatte vorübergehend zu einer Absage geführt: | |
Der [2][Künstler Lawrence Lek] zog seine Teilnahme an einer | |
Podiumsveranstaltung der Reihe „Berlinale Talents“ zunächst zurück. Nachd… | |
die beiden AfD-Abgeordneten, die zur Eröffnung kommen wollten, von der | |
Festivalleitung wieder ausgeladen worden waren, machte Lek seine | |
Entscheidung rückgängig. | |
Es erscheint ein wenig unübersichtlich, was da alles an Ungemach auf die | |
Berlinale zuzukommen droht. Die Proteste gegen die Anwesenheit der AfD etwa | |
haben sich mit deren Ausladung selbstverständlich noch nicht erledigt. So | |
haben Filmemacher angekündigt, zur Eröffnung auf dem Roten Teppich eine | |
Protestaktion gegen die rechtsextreme Partei zu veranstalten. | |
## Der Film „Shikun“ über einen israelischen Wohnkomplex | |
Auch ansonsten dürften Proteste aller Art, zumindest aber heftige | |
Diskussionen diese Berlinale begleiten. Der israelische Filmregisseur Amos | |
Gitai wird zum Beispiel zu Gast sein und seinen Film „Shikun“ vorstellen, | |
der in einem israelischen Wohnkomplex gleichen Namens spielt und unter | |
anderem von Eugène Ionescos Theaterstück „Die Nashörner“ inspiriert ist. | |
Einfach bloß über Filme sprechen wäre das Schönste bei dieser anstehenden | |
74. Berlinale. Allerdings beginnt sie nicht allein unter bewegten Umständen | |
unabhängig von ihr selbst, auch die Berlinale als solche startet in eine | |
noch näher auszubuchstabierende Zukunft. Für den künstlerischen Leiter | |
Carlo Chatrian und die Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek wird es die | |
letzte Ausgabe sein, Rissenbeek hatte im vergangenen Frühjahr | |
bekanntgegeben, dass sie ihren Vertrag über 2024 hinaus nicht verlängern | |
wird. | |
[3][Bei Chatrian war es die Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die | |
verkünden ließ, dass die Berlinale fortan nach einem Intendantenmodell | |
wieder von einer Person geleitet wird]. Für Chatrian war diese Position de | |
facto nicht vorgesehen, er sah sich stets rein als künstlerischen Leiter | |
und teilte im Sommer mit, dass er über 2024 hinaus nicht bei der Berlinale | |
arbeiten wird. Zu Beginn dieses Jahres war dann die [4][künftige Leiterin | |
der Berlinale, Tricia Tuttle], in Berlin vorgestellt worden. Sie leitete | |
zuvor das London Film Festival. | |
Die fünf Jahre, in denen Chatrian das Programm der Berlinale verantwortete, | |
brachten ein schlankeres Festival, in dem vor allem die von seinem | |
Vorgänger Dieter Kosslick eingeführte Sektion „Kulinarisches Kino“ wegfiel | |
und es insgesamt weniger Filme gab als zuvor. Mit dem neugeschaffenen | |
Parallelwettbewerb „Encounters“ kamen andererseits Beiträge hinzu, die sich | |
vom konventionellen Erzählkino entfernten und nicht selten mit Entdeckungen | |
aufwarteten. | |
## Die schwankende Qualität der Wettbewerbsfilme | |
An der schon vor Chatrian oft vorgebrachten Kritik an der schwankenden | |
Qualität der Wettbewerbsfilme konnte allerdings auch er wenig ausrichten. | |
Das Öffnen des Wettbewerbs für Filme, die zuvor beim Sundance Film Festival | |
gelaufen waren, darunter [5][Eliza Hittmans großes Abtreibungsdrama | |
„Niemals selten manchmal immer“] von 2020, brachte ihm ebenfalls Vorwürfe | |
ein. Hinzu kamen die schwierigen Berlinale-Jahrgänge während der Pandemie, | |
bei denen das eigentliche Festival 2021 sogar ohne Kinos und unter | |
Ausschluss der Öffentlichkeit über die heimischen Bildschirme von | |
Pressevertretern und Branchenangehörigen ging. Das anschließende | |
Freiluftkino im Sommer war dann immerhin ein frischer Ersatz. | |
Eigentlich, so hatte man den Eindruck, lief sich Chatrian in den | |
vergangenen Jahren immer noch ein bisschen warm, war die Berlinale im | |
Begriff, weiter umgebaut zu werden. Nicht unbedingt zum Schlechteren, | |
ungeachtet der nötigen Einsparungen, die im letzten Frühjahr bekannt | |
wurden. Mit der Folge, dass die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ | |
aufgelöst wurde und die Filme deutscher Nachwuchsregisseure seither auf die | |
anderen Sektionen verteilt werden müssen. | |
Auch Programme wie die „Hommage“ für den Ehrenbärpreisträger entfielen | |
weitgehend. Bekam 2023 der Regisseur Steven Spielberg noch eine ansehnliche | |
Werkschau kredenzt, muss sein in diesem Jahr zu feiernder Kollege Martin | |
Scorsese mit einem auf drei Filme eingeschrumpften Programm Vorlieb | |
nehmen. Darunter immerhin der Dokumentarfilm „The Films of Powell and | |
Pressburger“ von David Hinton, in dem Scorsese als Sprecher erzählt, wie | |
die üppig inszenierten Werke des britischen Duos ihn als Kind und später | |
als Regisseur prägten. | |
Den Filmen darf man, allem Ärger zum Trotz, auch dieses Mal freudig | |
entgegensehen. Im Wettbewerb stehen neue Arbeiten vom mauretanischen | |
Regisseur Abderrahmane Sissako, den Franzosen Olivier Assayas, Bruno Dumont | |
und Mati Diop oder dem russischen Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky an, | |
ebenso von den iranischen Regisseuren Maryam Moghaddam und Behtash | |
Sanaeeha, dem südkoreanischen Autorenfilmer Hong Sangsoo und aus | |
Deutschland zum Beispiel von Andreas Dresen. | |
## Das Drama „Ivo“ über eine Palliativpflegerin | |
Sollte der Wettbewerb nicht den Erwartungen entsprechen, gibt es in den | |
übrigen Sektionen genug Auswahl für das Berlinale-Publikum, die sich lohnt. | |
In den Encounters hat die [6][österreichische Filmemacherin Ruth | |
Beckermann] einen neuen Dokumentarfilm, „Favoriten“, über eine Wiener | |
Schulklasse. Die [7][deutsche Regisseurin Eva Trobisch] wiederum begleitet | |
in ihrem Drama „Ivo“ eine Palliativpflegerin bei der Arbeit. | |
In der Sektion „Panorama“ gibt es Satirisches von Josef Hader („Andrea | |
lässt sich scheiden), Dramatisches von Nora Fingscheidt („The Outrun“) oder | |
Sozialkritisches von André Techiné („Les gens d’à côté“). Und in der | |
Sektion „Forum“, die zum ersten Mal von ihrer neuen Leiterin und | |
taz-Autorin Barbara Wurm verantwortet wird, kann man in einem | |
Beobachtungsfilm von Kazuhiro Soda „The Cats of Gokogu Shrine“ bewundern: | |
freilebende Katzen, die von freiwilligen Helfern versorgt werden. | |
Mit „Kottukkaali“ von Vinothraj PS gibt es einen tamilischen Film aus | |
Indien über Zwangsehen im Programm. Der südkoreanische Horrorfilm „Pa-myo“ | |
von Jang Jae-hyun verspricht zudem stilistisch die Rückkehr zum sogenannten | |
„Mitternachtskino“, in dem asiatische Genrefilme einst ihren großen | |
Auftritt auf der Berlinale hatten. Und mit „Ellbogen“ von Aslı Özarslan | |
bietet die Sektion „Generation“ eine Adaption des Debütromans der früheren | |
taz-Kollegin Fatma Aydemir. | |
Bei 239 Filmen gibt es so wenige Filme wie lange nicht mehr, ein | |
Publikumsfestival bleibt die Berlinale dennoch. Wobei bisher unklar ist, an | |
welcher Stelle in der Stadt die Berlinale in Zukunft ihren zentralen Ort | |
haben wird. Aus dem Filmhaus am Potsdamer Platz weichen alle dort | |
versammelten Institutionen, vom Kino Arsenal, das die Sektion Forum | |
betreibt, über die Deutsche Kinemathek und das Filmmuseum bis hin zur | |
Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). | |
2025 endet schließlich der Vertrag für den Premierenspielort, den in einem | |
Musicaltheater untergebrachten Berlinale Palast. Zumindest das muss dann | |
nicht mehr die Sorge von Chatrian und Rissenbeek sein. | |
14 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Berlinale-und-die-AfD/!5988645 | |
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[4] /Neue-Berlinale-Intendantin-Tricia-Tuttle/!5979079 | |
[5] /Regisseurin-Eliza-Hittman-ueber-Abtreibung/!5713309 | |
[6] /Film-als-soziales-Experiment/!5831338 | |
[7] /Deutscher-Spielfilm-Alles-ist-gut/!5536301 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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