# taz.de -- Spielfilm von Éric Gravel: Keine Atempause | |
> Das Gebäude ihrer Existenz ist wacklig: Der Spielfilm „Julie – Eine Frau | |
> gibt nicht auf“ folgt seiner Hauptfigur durch einen anstrengenden Alltag. | |
Bild: Sie wird durch ihr Leben gehetzt: Julie (Laure Calamy) | |
Busse, Bahnen, Metro: Alles streikt, tagelang. Klingt vertraut, Grüße gehen | |
raus an Claus Weselsky, allerdings ist dieser Film schon drei Jahre alt und | |
spielt in Paris. Alles dreht sich hier um die rund vierzigjährige Julie | |
(Laure Calamy), in ihrem eng getakteten Leben droht mit dem Streik im | |
Verkehr alles zusammenzubrechen. | |
Sie lebt alleinerziehend, eine Tochter, ein Sohn, in einem Häuschen in | |
einem Vorort, der nur mit der Bahn erreichbar ist. Ihren Job aber hat sie | |
im Zentrum von Paris, sie leitet eine Reinigungskolonne in einem | |
Luxushotel, wo sie auch mal die Scheiße, die ein Promi im Bad an die Wand | |
geklatscht hat, mit dem Hochdruckreiniger wegkärchert (sehr effektiv, aber | |
nicht wirklich state of the art). | |
Angesichts des Streiks steht sie morgens vor dem Problem, rechtzeitig nach | |
Paris zur Arbeit zu kommen, und abends vor dem Problem, die Kinder | |
rechtzeitig oder überhaupt bei der Tagesmutter auslösen zu können. Hier wie | |
da, auf allen Wegen, auch im Hotel, ist sie immerzu unter Druck. Die | |
Vorgesetzte stellt recht bald bedrohliche Ultimaten, die schon ältere und | |
überforderte Betreuerin der Kinder verkündet, dass ihre eigene Tochter das | |
Jugendamt einschalten wolle. | |
Es kommen dazu: der Vater der Kinder, irgendwo in der Welt unterwegs, per | |
Telefon nicht erreichbar; die Bewerbung auf einen besseren, Julies | |
Qualifikation angemesseneren Job (sie hat Wirtschaft studiert), nur dass | |
das Vorstellungsgespräch in die Arbeitszeit fällt; der Geburtstag des | |
Sohns, beim Kauf des Geschenks muss Julie fürchten, dass das Geld auf dem | |
Konto nicht reicht, schließlich kamen schon mehrfach Anrufe von der Bank. | |
## Am Rande des Nervenzusammenbruchs | |
Kurzum: Das Gebäude dieser Existenz ist wacklig, nur unter Aufbietung | |
sämtlicher Kraft von Julie zusammengehalten, zusätzlicher Stress wie der | |
Verkehrsmittelstreik droht es zum Einsturz zu bringen. | |
Als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs rast Julie von hier nach da, | |
sucht den Ersatzbus (Ostausgang? Ostausgang!), quetscht sich mit knapper | |
Not zwischen die andern, an einem Morgen findet sie einen freundlichen | |
Nachbarn, der sie mit dem Auto mit in die Stadt nimmt. Er erweist sich | |
später als Vater eines Klassenkameraden des Sohnes, repariert dann auch | |
noch im Keller den Durchlauferhitzer, ein unerwarteter Kuss, hier könnte | |
eine andere Geschichte beginnen. | |
Tut sie jedoch nicht, auch der Film muss immer gleich weiter. An einem | |
anderen Abend fährt kein Zug und kein Ersatzbus und so führt kein Weg | |
zurück in die Banlieue, Julie mietet sich ein Zimmer in einem Hotel – | |
Profi, der sie ist, checkt sie als Erstes den Staub auf der Oberkante der | |
Lampe. Schön, dass sich der Film bei aller Hetze für derart genaue | |
Beobachtungen Zeit nimmt. | |
## Ihr Tunnelblick bestimmt die Wahrnehmung | |
„A plein temps“ heißt der Film im Original, „Full Time“ in der englisc… | |
Version, beides ist treffender als der deutsche Untertitel „Eine Frau gibt | |
nicht auf“, denn auf den Zeitdruck legt Regisseur und Drehbuchautor Éric | |
Gravel es die ganze Zeit und sehr grundsätzlich an. Julie, die gegen die | |
Widerstände ihrer Wirklichkeit anrennt, ist das Zentrum des Films, ihr | |
Tunnelblick bestimmt die Wahrnehmung, jede Regung, jede Bewegung. | |
Die Kinder, die Kolleginnen, die Bekannten, die Stadt, das Land, das | |
hilflose Bahnpersonal, einmal ein aufdringlicher Mann im Dunkel der Nacht – | |
alles vor allem Hürden beim Hindernislauf, als den Gravel das Leben Julies | |
während des Streiks inszeniert. | |
Es wird dabei so einiges an filmischen Mitteln mobilisiert. Da ist, | |
durchaus aufdringlich, ein pulsierender Soundtrack. Schlösse man die Augen, | |
sähe man einen Actionfilm vor sich abrollen. Da sind die Kamera, kaum je | |
kommt sie zur Ruhe, und der Schnitt, immer am Rand des Atemlosen entlang. | |
Zweimal geht es sogar hinab in Julies Träume, irgendwie unter Wasser, ein | |
verschwimmendes Bild, hier kommt die Sehnsucht Gravels, seiner | |
Protagonistin nicht nur durch die Straßen der Stadt und der Vorstadt, | |
sondern noch bis ins Innerste folgen zu können, ganz und gar zu sich. Es | |
ist eine Stärke, aber es ist auch eine Grenze des Films, der die | |
materiellen Kontexte, die [1][Care-Arbeit- und | |
Arbeitswelt-Struktur-Hintergründe] immer nur streift. | |
Es ist, keine Frage, die Methode, die er gewählt hat, er will das | |
Alltagsdrama als Spannungsstück, da ist der Streik als das, was Druck | |
macht, eher Mittel zum Zweck. Und ja, manches streift der Film sehr | |
insistent, etwa die Hierarchien unter den Kolleginnen im Hotel, hier | |
buckelt Julie nach oben und tritt, wenn es sein muss, auch brutal nach | |
unten. | |
Bei aller Identifikation mit der Figur, bei aller Anerkennung für das, was | |
sie leistet, wird klar: Als schöne Seele wirst du in dieser Welt kentern. | |
Mit der Moral seiner Geschichte hält Gravel sich aber nie lange auf. Er | |
macht lieber einen Thriller daraus: Wird Julie es rechtzeitig schaffen? Was | |
wird aus der Bewerbung? Wächst, wo so viel Gefahr ist, das Rettende auch? | |
6 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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