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# taz.de -- Spielfilm „Janet Planet“ auf Berlinale: Aus dem Orbit der Mutter
> Annie Bakers atmosphärisches Debüt ist ein kleines Filmjuwel. Er folgt
> der Selbstsuche einer Mutter und den Observationen ihrer Tochter.
Bild: Nicht besonders süß und vor allem etwas seltsam ist die 11-jährige Lac…
Zuletzt gibt es sie immer öfter: Filme, die mit besonderer Behutsamkeit die
Perspektive junger Mädchen auf die Welt in den Fokus rücken. Das sanfte
Debüt des irischen Filmemachers [1][Colm Bairéad, „The Quiet Girl“], fäl…
etwa in diese Kategorie. Ebenso [2][Charlotte Wells nostalgischer
„Aftersun“], der durch den Schleier von Urlaubserinnerungen auf eine
liebevolle, aber von stiller Schwere geprägte Vater-Tochter-Beziehung
blickt. Im Wettbewerb der Berlinale vergangenen Jahres fanden sich mit dem
Sterbedrama „Tótem“ und „20.000 Arten von Bienen“ um ein trans* Mädch…
das ihre geschlechtliche Identität auslotet, gleich zwei weitere Beispiele.
In der „Panorama“-Sektion schließt die vor allem in Theatersphären bekann…
Annie Baker dieses Jahr eine Lücke, die diese neuerlichen filmischen
Annäherungen an kindlich-weibliche Lebenswelten bislang ließen. Ihr
Spielfilmdebüt ergänzt den Reigen um den Typus eines jungen Mädchens, das
gerade nicht durch ihr Charisma oder ihren Charme begeistert und weder
sonderlich süß noch auffallend schön ist. Die 11- jährige Lacey (eine echte
Entdeckung: Zoe Ziegler), meist in übergroße Klamotten gekleidet, ist smart
und auch etwas seltsam, was sie an der Schwelle zur Pubertät zur
Eigenbrötlerin macht.
Wie diese Sonderbarkeit zum Ausdruck kommt, zeigt gleich die nächtliche
Auftaktsequenz: In einer langen Einstellung streift die Protagonistin über
einen dunklen Hügel, hinein in eine kleine Hütte, wo sie zum Hörer eines
Münztelefons greift. „Ich werde mich umbringen,“ verkündet sie stoisch, u…
fügt hinzu: „Wenn du mich hier nicht rausholst!“ Erst nach dem Schnitt wird
klar, dass Lacey schlicht aus dem Sommercamp abgeholt werden wollte, was
ihre Mutter Janet auch tut. Janet (Julianne Nicholson), die gelassen auf
sie wartet, dürfte über die Übertreibungen ihrer Tochter schon Bescheid
wissen.
Dass Lacey hingegen keine Ahnung davon hat, dass sie bei Gleichaltrigen
Anklang finden könnte, würde sie sich nicht die meiste Zeit über in ihren
eigenen Gedanken aufhalten, beweist ihre erstaunte Reaktion auf die
liebevolle Verabschiedung durch zwei Zimmergenossinnen. Die Reue über ihren
vorschnellen Schluss ist umso größer, als sie Wayne (Will Patton), den
grummeligen Freund ihrer Mutter, im Auto erblickt. Auch das kennt Janet
schon: Die Anhänglichkeit ihrer Tochter und ihre Versuche, die Mutter ganz
für sich alleine zu haben.
## Genaue Alltagsbeobachtungen, schwüle Tage, dichte Atmosphäre
Damit ist der Rahmen für ein Drama, das gänzlich ohne dramatische Wendungen
auskommt und stattdessen durch genaue Alltagsbeobachtungen und eine dichte
Atmosphäre erzählt, gesetzt. Durch stille Vignetten schwüler Tage im Sommer
1991, irgendwo im ländlichen Massachusetts, schaut „Janet Planet“ auf diese
eigentümliche Mutter-Tochter-Beziehung, das Augenmerk im Besonderen auf
Lacey gerichtet. Genauer: Darauf, wie das Mädchen ihr besonderes Augenmerk
auf die Menschen und Beziehungen um sie herum richtet, bisweilen
anprobiert, was sie dabei beobachtet – und wieder abstreift.
Gegenstand der Observationen, die sie zwischen Pianostunden und dem Spielen
mit ihrem Puppenschrein anstellt, sind die drei Personen, die Janet
nacheinander in ihren Orbit lässt: Auf Wayne, der sich bald durch sein
herrisches Auftreten disqualifiziert, folgt Regina (Sophie Okonedo). Die
alte Freundin der Mutter, die wie sie in allem Esoterischen nach einem
höheren Sinn sucht, will sich von der örtlichen „New Age“-Gemeinde und
dessen Kopf, ihrem Ex Avi (Elias Koteas), lösen und zieht kurzerhand zu
ihnen ins heimelige Holzhaus. Ehe es natürlich exakt dieser Avi ist, dem
sich Janet als Nächstes annähert.
Wie in einem alchemistischen Prozess scheint sich Lacey darüber allmählich
von ihrer Mutter zu lösen. Vorangetrieben durch den Anblick der Tränen, die
Janet während eines ausgedehnten Gesprächs mit Regina vergießt, und sich
eingesteht, dass sie stets auf Validierung durch ihre Mitmenschen aus ist.
Aber auch durch ihre eigenen, wortkargen Dialoge mit ihr, in denen Lacey
geplant wirkende Spitzen setzt, die eine Reaktion der Mutter
heraufbeschwören sollen. Etwa wenn sie davon spricht, dass jeder wache
Moment die Hölle sei, und die Mutter dazu bringt, von ihrem eigenen Unglück
zu sprechen.
## Außenseiterin wird ihren Weg finden
Annie Baker, die für ihr Theaterstück „The Flick“ mit dem Pulitzer-Preis
ausgezeichnet wurde, vereindeutigt in ihrem reizvoll vielsinnigen Debüt
nichts davon. Während der sorgsam komponierten Kameraeinstellungen von
Maria von Hausswolff, die das junge Mädchen immer wieder nachdenkend am
Bildrand zeigen, kann man sich aber meist eine Vorstellung von dem machen,
was in Lacey arbeitet. „Janet Planet“ und die in sich gekehrte Stimmung
dieses kleinen Filmjuwels wirken durch sie umso länger nach.
Einzig die letzte Szene wird in ihrer Lesart, dass sie es anders machen
will als ihre Mutter, sehr deutlich: Nach einem kurzen Zeitsprung ist Janet
bei einem Tanzabend zu sehen, über das ganze Gesicht strahlend, als sie von
einem Partner zum nächsten wechselt. Ihre Tochter sitzt am Rand. Als sie
gefragt wird, ob sie nicht mitmachen wolle, verneint sie – und lächelt
dabei. Diese Außenseiterin wird ihren Weg finden.
15 Feb 2024
## LINKS
[1] /Spielfilm-ueber-Kindheit-in-Irland/!5969817
[2] /Spielfilmdebuet-Aftersun-im-Kino/!5898575
## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
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