# taz.de -- Teilhabe bei Demenz: Gegen das Vergessen | |
> Immer mehr Menschen erkranken an Demenz. Gerade im frühen Stadium wollen | |
> Betroffene noch an der Gesellschaft teilhaben. Wie kann das gelingen? | |
Bild: Hohlräume und die weißen Regionen weiten sich bei Menschen mit Alzheime… | |
BERLIN/KÖLN taz | Dass wir Dinge vergessen, sieht man uns ja nicht an“, | |
sagt Franz an einem Montag im Februar 2023 im Stadtteilzentrum | |
Berlin-Friedenau. Vier Frauen, zwei Männer sitzen in einem nüchternen | |
Mehrzweckraum. Sie gehören zu einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit | |
beginnender Demenz. Franz redet weiter: „Ich will lernen, damit in der | |
Öffentlichkeit umzugehen. Damit man sich nicht schämen muss.“ Er ist erst | |
Ende 50, hat eine vaskuläre Demenz, nicht Alzheimer, er sucht eine Gruppe | |
mit Jüngeren und wird die nächsten Male nicht mehr kommen. | |
Auch Christian wird wegbleiben, den Franz jetzt fragt: „Bist du noch in | |
anderen Gruppen unterwegs?“ Christian schüttelt den Kopf. Franz: „Du sagst | |
keinen Ton. Reden ist das A und O.“ Hilde: „Man muss unter Leute gehen. | |
Christian, kann es sein, dass du ein Hörgerät brauchst?“ – „Was? – �… | |
fragst zu viel nach. Das ist dein Gehör, nicht Alzheimer. Du trainierst das | |
Hirn nicht, wenn du nichts hörst.“ – Katia, heute zum ersten Mal da: „N�… | |
Gedächtnistraining?“ | |
Außer Franz und einer Sozialpädagogin sind alle Anwesenden über 80. Franz | |
versucht es stets mit einem freundlichen Scherz. Christian hört schlecht | |
und fühlt sich zurechtgewiesen. Katia, Hilde, Gerda und Agathe tauschen | |
sich über Medikamente, Expertenvorträge und Ernährungsfragen aus. Sie | |
frotzeln, fragen nach, geben Infos weiter. Regina Werk von der | |
Kontaktstelle Pflegeengagement leitet die Gruppe. Wer teilnehmen will, muss | |
noch so weit räumlich orientiert sein, um allein kommen und gehen zu | |
können, erklärt sie. „Ich kann keine Heilung bieten“, sagt Werk, „aber | |
sozialen Austausch auf Augenhöhe.“ Niemand in der Gruppe entspricht dem | |
Bild, das wir mit Alzheimer oder Demenz assoziieren: das einer hilflosen, | |
orientierungslosen Person. | |
„Uns gibt es eben auch“, sagt Hilde, 82, Menschen, die am Anfang ihrer | |
Erkrankung stehen und aktiv an der Gesellschaft teilhaben wollen. Die sechs | |
Menschen im Raum haben zugestimmt, dass eine Journalistin zuhört. Ihre | |
echten Namen wollen sie nicht preisgeben, auch wenn sie für mehr | |
Sichtbarkeit und soziale Teilhabe der Menschen mit Demenz sind. Sie duzen | |
sich, ihre Vornamen sind geändert. Dreimal hat die taz an ihren Treffen | |
teilgenommen. | |
1,8 Millionen Menschen mit Demenz leben in Deutschland. Umgangssprachlich | |
werden die Begriffe Demenz und Alzheimer oft synonym gebraucht. Morbus | |
Alzheimer ist eine hirnorganische Erkrankung, die zu einer Zerstörung von | |
Nervenzellen im Gehirn führt und vor allem ältere Menschen trifft. | |
Prinzipiell gilt: Nicht jede Form von Demenz ist Alzheimer, aber alle, die | |
an Alzheimer erkranken, werden irgendwann dement. Andere Demenz-Typen wie | |
die frontotemporale, die vaskuläre und die Lewy-Körper-Demenz äußern sich | |
in den Symptomen ähnlich und sind schwer zu unterscheiden. Etwa 70 Prozent | |
der Menschen mit Demenz haben die Alzheimer-Demenz. | |
In den nächsten 30 Jahren könnte die Zahl der Demenz-Betroffenen auf 2,8 | |
Millionen steigen. Nicht weil prozentual mehr Menschen an Alzheimer | |
erkranken, sondern die geburtenstarken Jahrgänge das kritische Alter | |
erreichen und diese Generation älter wird als vorige Generationen. Frauen | |
sind stärker betroffen, auch weil sie immer noch etwas älter werden als | |
Männer, möglicherweise gibt es andere Faktoren, die noch nicht ausreichend | |
erforscht sind. | |
„Es geht lange, dass man nur selbst merkt, dass etwas nicht stimmt“, sagt | |
Hilde, 82, bei einem Treffen in einem Berliner Café. Die pensionierte | |
Ärztin ist groß, fit, schlank. Die rote Lesebrille hebt sich markant von | |
den kurz geschnittenen, dichten, weißen Haaren ab. 2008 bemerkte sie das | |
erste Mal, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. Sie ließ ein MRT machen – | |
keine Auffälligkeiten. Acht Jahre später ließen sich die Symptome nicht | |
mehr ignorieren: zunehmende Vergesslichkeit, Orientierungsschwierigkeiten. | |
„Ich ahnte, was los ist.“ Erneut MRT und eine Lumbalpunktion – eine | |
Untersuchung des Hirnwassers –, die gängigen Verfahren, um eine Demenz- | |
oder Alzheimererkrankung zu klären. „Es war ein Schock. Das MRT zeigte: Das | |
Großhirn war deutlich geschrumpft.“ | |
Sie verfiel zunächst in eine Depression. Im Laufe der nächsten Monate | |
verschlechterte sich Hildes Zustand. „Ich konnte schon am Morgen meine | |
Pillenration nicht mehr ausrechnen. Und wenn ich an einer Ampel stand, | |
wusste ich zwar, was Grün bedeutet, aber nicht, wie ich über die Kreuzung | |
komme.“ Eine endgültige Diagnose bekam sie damals nicht, die Lumbalpunktion | |
blieb ohne Befund. Hilde hat seither keinen Neurologen mehr aufgesucht. | |
Stattdessen las sie sich durch die Alzheimer-Fachliteratur, entschloss sich | |
zu einem höchst rigiden Ernährungsplan, schrieb sich trotzig für einen | |
Englisch-Konversationskurs ein. „Monat für Monat verbesserte sich mein Kopf | |
bis zu dem Zustand, in dem er jetzt wieder ist.“ Im Gespräch ist ihr nichts | |
anzumerken. „Noch gehen die Dinge. Meistens.“ Bürokram und Schriftverkehr | |
mit den Versicherungen falle ihr „phasenweise“ schwer. Englisch lässt sie | |
jetzt sein. | |
Die richtige Ernährung spielt eine wichtige Rolle bei der | |
Alzheimer-Prävention, die Frauen in der Selbsthilfegruppe, darunter mehrere | |
Mediziner:innen, fachsimpeln. Katia interessiert sich für die ketogene | |
Diät, fettreich, kaum Kohlehydrate, gar kein Zucker; Hilde schwört auf | |
ihren eigenen rigiden Ernährungsplan: wenig Kohlehydrate, keine | |
Milchprodukte, Transfette oder Zucker. Gerda hat nicht mal eine Kochplatte | |
zu Hause und kann sich nichts selbst zubereiten. „Wenn ich Diätfehler | |
mache, merke ich das sofort und verwusele mich wieder im Kopf“, sagt Hilde. | |
Hilde liegt innerlich nicht ständig auf der Lauer. Sie besucht Museen und | |
Konzerte, macht Fitness und Yoga. „Das Wichtige ist nicht der Sport, | |
sondern [1][das soziale Drumherum].“ Ihre Vormittage sind gefüllt. In der | |
Handtasche trägt die 82-Jährige, die allein lebt, einen Zettel mit | |
Kontaktdaten. Sie hat sich früh einen Heimplatz gesichert, der betreutes | |
Wohnen und später Pflege bietet. „Ich informiere mich und lese Sachbücher, | |
so gut ich sie verstehe. Sonst lege ich sie weg. Ich habe gelernt, dass ich | |
nicht alles zu Ende lesen muss.“ Hilde hofft, rechtzeitig einen | |
Schlaganfall oder Herzinfarkt zu bekommen. „Man hat gelebt. Ich sage immer: | |
Ich bin satt.“ | |
Hilde sagt: „Die Zeit fließt ineinander.“ Das geht vielen so, wenn sie | |
älter werden. Namen oder Filmtitel, die einem auf der Zunge liegen, aber | |
nicht einfallen. Verabredungen oder Begebenheiten, die vergessen werden. | |
Kleine Wortfindungsstörungen. Eine Schusseligkeit, die manche schon ein | |
Leben lang begleitet und andere im Alter erschrocken zunehmend bei sich | |
feststellen. Das Gedächtnis lässt nach, lässt uns im Stich. Das Gedächtnis | |
räumt zugleich auf, schafft Platz. Beides sind normale physiologische und | |
psychologische Vorgänge. Was ist gutartige Vergesslichkeit, und welches | |
sind die ersten Anzeichen einer beginnenden Demenz? | |
„Es gibt einen großen Graubereich“, sagt Oliver Peters, Leiter der | |
[2][Gedächtnisambulanz] der Charité in Berlin. „Alzheimer ist eine | |
chronische Erkrankung, die über lange Zeitverläufe hinweg aktiv ist“, | |
erklärt er. Erst im Endstadium führt sie zu schweren kognitiven, | |
psychischen und motorischen Einschränkungen. Eine Alzheimererkrankung | |
dauert durchschnittlich zwischen 7 und 12 Jahren. Was viele nicht wissen: | |
„Alzheimer ist dank der modernen Labordiagnostik inzwischen nachweisbar, | |
viele Jahre, bevor die Symptome überhaupt auftreten.“ | |
Das Gehirn aktiviert in dieser, dem Ausbruch vorhergehenden Phase „eine | |
kognitive Reserve“, erklärt Peters. Schaltkreise mit noch intakten | |
Nervenverbindungen übernehmen die Aufgabe anstelle der geschädigten | |
Nervenzellen. Doch irgendwann ist auch diese Reserve aufgebraucht. Dies ist | |
ein möglicher Grund, warum Menschen, die geistig sehr aktiv waren und oft | |
einen höheren Bildungsgrad aufweisen, erst später von den Folgen von | |
Alzheimer betroffen sind. | |
Rund 20 ratsuchende Menschen kommen pro Woche neu in Peters’ | |
Gedächtnisambulanz an der Charité, in ganz Deutschland gibt es ein Netzwerk | |
von etwa 100 Gedächtnissprechstunden. Alzheimer ist bisher nicht heilbar. | |
Aber es gibt einen Unterschied zwischen nicht heilbar und nicht | |
beeinflussbar. Es gibt Medikamente, die Symptome lindern und noch aktive | |
Nervenzellen im Gehirn unterstützen, es gibt Verhaltensweisen, die | |
vorbeugend wirken, medizinisch-pharmakologische Forschung, die Fortschritte | |
macht. Außerdem muss sich unser Bild von Menschen mit Demenz ändern: | |
weniger Stigma, mehr Beachtung und ein Quantum Bewunderung täten gut. | |
Hilde empfiehlt, bei den ersten Anzeichen Rat zu suchen. Desorientierung, | |
kognitive Einbußen oder Gedächtnisverlust sind klassische Symptome, die auf | |
Alzheimer, aber auch andere Ursachen hinweisen können. Dies abzuklären, | |
dafür sind die Gedächtnissprechstunden an den großen Kliniken die richtige | |
Anlaufstelle. | |
Frank Jessen, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie und Direktor der | |
Psychiatrischen Klinik, leitet die Gedächtnisambulanz an der Uniklinik | |
Köln. „Wir wissen seit etwa 10 Jahren, dass das Auftreten einer Demenz bis | |
zu 40 Prozent vom Lebensstil und potenziell modifizierbaren Risikofaktoren | |
abhängt“, sagt Jessen. „Das heißt, man kann etwas tun im Bereich | |
Prävention.“ | |
Was jeder individuell als Disposition mitbringt, sind: Genetik, Alter und | |
Geschlecht. Beeinflussen lässt sich dagegen bei Alzheimer, was auch gegen | |
Krebs, Schlaganfälle oder Diabetes hilft: gesund essen und Sport, außerdem | |
auch guter Schlaf und kein negativer Stress. „Das sind die üblichen | |
Verdächtigen“, sagt Jessen im Besprechungsraum der Psychiatrischen Klinik | |
Köln. Bei Demenz spräche sich das erst langsam herum. „Das Charmante daran | |
ist, dass man bei Demenzprävention einen erweiterten Benefit nicht nur für | |
den Kopf hat.“ | |
Eine [3][Studie aus der Zeitschrift The Lancet] von 2020 listet 12 | |
Risikofaktoren auf, zu denen neben den Komponenten Bewegungsmangel, | |
Blutdruck, Übergewicht auch psychosoziale Faktoren zählen wie Depression, | |
Einsamkeit, also fehlende soziale Interaktion, und schlechtes Hören. | |
Trotzdem müsse man sehr vorsichtig formulieren, sagt auch Jessens Kollege | |
Oliver Peters von der Charité Berlin: „Viele Menschen, die unter Alzheimer | |
leiden, haben nichts falsch gemacht. Die Möglichkeiten durch eine | |
Lebensstiloptimierung sind begrenzt.“ Es kann den Ausbruch hinauszögern | |
oder den Krankheitsverlauf bremsen, aber stoppen lässt sich die | |
Alzheimerdemenz nicht. | |
Sie ist eine neurodegenerative Erkrankung, die nur in den wenigsten Fällen | |
auf Vererbung zurückzuführen ist. Die genauen Ursachen und biochemischen | |
Prozesse im Gehirn sind nicht geklärt. Kennzeichnend ist die | |
kontinuierliche Zerstörung von Nervenzellen und Zellverbindungen durch | |
veränderte Eiweiße, die sich – durch sogenannte Fibrillen mit Tau-Protein | |
und Plaques aus Beta-Amyloiden – innerhalb und außerhalb von Nervenzellen | |
ablagern. Sie führen dazu, dass die Nervenzellen nicht mehr untereinander | |
kommunizieren können und am Ende absterben. | |
Wenn jüngere Menschen an Alzheimer erkranken, liegt meist die seltene | |
monogenetische Variante vor. Heute weiß man, dass es sich so bei der ersten | |
Alzheimer-Patientin verhielt. 1901 bemerkte der Psychiater und | |
Neuropathologe Alois Alzheimer bei der erst 51-jährigen Auguste Deter | |
geistige Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Aggressivität. Nach ihrem | |
Tod 1906 ließ er Gewebeproben ihres Gehirns untersuchen und stellte eine | |
geschrumpfte Hirnrinde und Eiweißablagerungen fest. Lange hat man diese | |
Krankheit, die seither den Namen ihres Entdeckers trägt, nicht weiter | |
erforscht und ihren Fall nicht mit Altersdemenz in Verbindung gebracht. | |
Heute weiß man, dass beide Formen der Demenz die gleichen | |
neuropathologischen Charakteristika aufweisen. | |
Der größte Risikofaktor für Alzheimer ist das Alter. Je älter man wird, | |
desto höher das Risiko. Was nicht den Umkehrschluss zulässt, dass Alter | |
automatisch zu Alzheimer führt. Die meisten, die es trifft, sind über 80 | |
Jahre alt – etwa 15 Prozent der über Achtzigjährigen bezogen auf die | |
deutsche Gesamtbevölkerung. Bei den über 90-Jährigen sind es schon um die | |
35 Prozent. In der Berliner Selbsthilfegruppe diskutieren sie im März, ob | |
Demenz eine Erkrankung oder, wie eine Teilnehmerin meint, ein | |
Alterungsprozess ist. Die anderen widersprechen. Hilde erwähnt die berühmte | |
„Nonnenstudie“ des Epidemiologen David Snowdon, der in den USA eine | |
Langzeitstudie zu Alzheimer durchgeführt hatte. | |
678 Ordensschwestern eines Klosters wurden dafür ab 1986 über 15 Jahre bis | |
zu ihrem Tod begleitet. Sie starben hoch betagt, ohne je Anzeichen von | |
Alzheimer gezeigt zu haben. Eine Obduktion nach ihrem Tod ergab, dass zwei | |
Drittel der Nonnen dennoch die für Alzheimer typischen Eiweißablagerungen | |
im Hirn aufwiesen. Die sinnstiftende Einbindung in eine Gemeinschaft und | |
lebenslange geistige Aktivität mögen zu ihrer besonders ausgeprägten | |
„kognitiven Reserve“ beigetragen haben. | |
Die fortschreitende Medizin und ihre Diagnostik ist seit gut zwanzig Jahren | |
mittels Biomarkern – also mit Labordiagnostik – in der Lage, das für | |
Alzheimer charakteristische Eiweiß Beta-Amyloid in Hirnwasser frühzeitig | |
festzustellen. Wichtig sind auch zusätzliche Proteintypen wie zum Beispiel | |
das Tau-Protein. Vielleicht können in Zukunft sogar [4][Biomarker im Blut] | |
die aufwändigeren bildgebenden Verfahren durch MRT, CT oder | |
nuklearmedizinische Substanzen zum Teil verzichtbar machen. Auch die | |
pharmakologische Forschung kommt voran. In den USA wurde im Januar ein | |
neues Präparat zur Behandlung zugelassen. „Wir setzen große Hoffnung | |
dahinein, diese Ansätze auch in Europa zu bekommen“, sagt Frank Jessen von | |
der Uniklinik Köln. | |
Lecanemab, so der Name des Wirkstoffs, basiert – vereinfacht gesagt – auf | |
der Gabe von speziellen Antikörpern, die sich an die Eiweiß-Kaskaden | |
anlagern und diese, vom körpereigenen Immunsystem angeregt, zerstören. Dies | |
führt, erklärt der Kölner Demenzexperte, „zu einer signifikanten | |
Verlangsamung der Symptome, leider aber nicht zum völligen Stillstand oder | |
zur Heilung“. Für die Forschung sei es dennoch „ein Meilenstein“, da man | |
zeigen konnte, dass eine Reduktion der Eiweißplaques grundsätzlich möglich | |
ist und damit die Krankheit verzögert werden kann. | |
Sein Kollege von der Berliner Charité ist vorsichtig optimistisch. „Es ist | |
eine durchaus realistische Vision in der klinischen Forschung“, sagt er, | |
„dass, wenn die Alzheimererkrankung früh genug erkannt und früh genug | |
behandelt wird, es gar nicht zur Demenz kommt. Allerdings sind die | |
Laufzeiten der klinischen Studien aufgrund des langsamen Fortschreitens von | |
Alzheimer sehr lang.“ Für die EU ist die Erprobung des neuen Medikaments | |
bei der Europäischen Arzneimittelagentur beantragt, mit einer Entscheidung | |
wird im Frühjahr 2024 gerechnet. | |
Bis dahin heißt es nicht warten, sondern singen. Hilde aus der | |
Selbsthilfegruppe des Stadtteilzentrums Friedenau geht zweimal im Monat zum | |
Chor. Mit einer Freundin hatte sie sich außerdem für das „[5][Musik und | |
Demenz“-Projekt] Resonare angemeldet. Seit ersten Presseberichten ist das | |
Interesse daran groß, die Warteliste lang und Hilde zu ihrem großen | |
Bedauern nicht dabei. | |
Resonare bringt Menschen mit Demenz mit Gesang zusammen. Das Projekt wird | |
privat gefördert von der Manfred Strohscheer Stiftung und wissenschaftlich | |
begleitet von Oliver Peters und seinem Team an der Charité. Beheimatet ist | |
Resonare an der Komischen Oper Berlin. Anders als die Selbsthilfegruppe in | |
Friedenau ist Resonare für Erkrankte und ihre Angehörigen konzipiert. Auch | |
sie brauchen Erleichterung, genießen Ablenkung und Spaß. Andererseits | |
bedeutet dies, dass die Teilnehmenden einen Angehörigen oder vertrauten | |
Menschen haben müssen, der sie regelmäßig in die Komische Oper begleitet. | |
An einem Nachmittag im April sitzen knapp ein Dutzend Paare im Foyer des | |
ersten Stocks des Opernhauses mit seinem langen Tresen, den dunkelgrün | |
gestrichenen Wänden, dem roten Fußboden, den kugelrunden Lampen, den großen | |
Fenstern und bogenhaften Wanddurchbrüchen. Ein stilvolles Ambiente. Ein | |
Pianist begleitet die Gruppe am Klavier. Wie in jedem Chor gibt es moderate | |
Lockerungsübungen. Schulterkreisen, Arme fallenlassen, dem Partner oder der | |
Partnerin kurz den Nacken massieren. | |
„Der Dienstag ist wie ein Magnet“, sagt ein Mann, der mit seiner Frau bei | |
der Begrüßungsrunde im Stuhlkreis sitzt. „Er hebt sich von den anderen | |
Tagen der Woche ab.“ – „Kann nicht immer Dienstag sein?“, fragt ein | |
anderer. – „Schon auf dem Weg von der U-Bahn fällt der Alltag von mir ab�… | |
sagt jemand Drittes. – Einem Mann fehlen die Worte. „Dabei hat er doch | |
heute im Tischtennis gewonnen“, sagt seine Frau für ihn. – „Wir schweben | |
noch“, erzählt Anouk Kopps, die betreuende Musikpädagogin. In der Woche | |
zuvor waren der britische König Charles III. und seine Frau Camilla zu | |
Besuch. | |
„Was wollt ihr singen?“, fragt Kopps. Zur Auswahl stehen knapp 100 Lieder | |
aus einem Reader. Von „Alle Vögel sind schon da“ bis zu „Mamma Mia“ ist | |
alles dabei. Volkslieder, die sich nach der Jahresuhr ordnen lassen. In | |
jedem Lied steckt Material für biografische Anknüpfungspunkte. Es ist | |
April, Osterzeit, Frühjahr. „Habt ihr einen Lieblingsmonat?“, fragt Kopps. | |
November, sagt ein Mann; es stellt sich heraus, dass das sein Geburtsmonat | |
ist. Für eine Frau ist es der Mai. „Welche Insekten zeigen sich?“, fragt | |
Kopps. Hummeln, Wespen, Bienen, Mücken. Die Gruppe singt „Summ, summ, summ, | |
Bienchen summ herum“. Dabei kraulen sie einander den Rücken. Nicht alle | |
machen mit, nicht alle singen immer mit. Die Atmosphäre ist herzlich, | |
zugewandt. | |
Manche finden im Verlauf der anderthalb Stunden ihre Stimme wieder. „Jetzt | |
kann ich wieder sprechen“, sagt Christine Merkel, 85 Jahre alt. Sie ist mit | |
ihrer Tochter da. „Oft bin ich vorher verstummt.“ Nicht nur der Verlust von | |
Orientierung, sondern auch der zunehmende Verlust von Sprache macht | |
Menschen mit Demenz zu schaffen. Musik spielte in Merkels Familie eine | |
große Rolle. „Wir hatten ein Klavier zu Hause und haben immer mehrstimmig | |
gesungen. Aber jetzt sind die Noten davongeflogen, wenn ich spiele. Nur die | |
Hände erinnern sich.“ | |
Musik emotionalisiert und kann Unausgesprochenes oder Verschüttetes | |
verbalisieren helfen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die die positive | |
Wirkung von Musik für Menschen mit Demenz aufweisen. Das liegt daran, dass | |
das musikalische Gedächtnis weit verzweigt im Gehirn angelegt ist und daher | |
viel länger geschützt bleibt vor den zerstörerischen Auswirkungen von | |
Alzheimer. Außerdem ist das musikalische Empfinden eng verknüpft mit | |
positiven Emotionen aus der Kindheit, die ebenfalls im Langzeitgedächtnis | |
abgespeichert sind und lange intakt bleiben. In der musiktherapeutischen | |
Praxis wird deswegen das Arbeiten mit individualisierten Musikstücken | |
angewandt. Doch Singen ist mehr als Hören: Es trainiert das Kurzzeit- und | |
das Arbeitsgedächtnis, aktiviert das Areal für räumliches Denken und | |
Sprache und stimuliert die Großhirnrinde, wo die Motorik sitzt. | |
Christine Merkel sitzt da, die Hände im Schoß gefaltet, und lächelt. | |
Schüchtern, zufrieden. Seit 2019 ist sie mit Alzheimer diagnostiziert. Ihre | |
Tochter Christine, 53, die genauso heißt wie ihre Mutter – „eine Laune des | |
Vaters“ –, erzählt, die Anzeichen hätten sich schon früher deutlich | |
gezeigt. „Als wir vor zehn Jahren einmal vor dem KaDeWe verabredet waren | |
und meine Mutter nicht auftauchte, wusste ich, dass etwas nicht stimmt.“ | |
Das Kaufhaus kennt in Berlin jede. „Wir haben jetzt vertauschte Rollen, das | |
Mutter-Kind-Verhältnis dreht sich um“, sagt die Tochter. „An manchen Tagen | |
spure ich nicht“, sagt die Mutter mit leisem verschmitztem Lächeln, die mit | |
Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes noch allein lebt. Und an | |
anderen Tagen vergisst sie zum Beispiel zu essen. | |
Gegenüber den Merkels haben Helga Weber und Wolfgang Schneidt Platz | |
genommen, sie gehen im Anschluss an das Singen im Kasino der Komischen Oper | |
essen. „Wir hatten von Anfang an das Gefühl, hier entspannt sein zu | |
können“, sagt Weber, 86. „Wir wissen alle, wie es um uns steht.“ Wenn ihr | |
Partner auch sonst die Tage durcheinanderbringe, sagt sie, „den Dienstag | |
nicht“. Schneidt, drei Jahre jünger, ist an Alzheimer erkrankt. „Ja“, sa… | |
er nur. | |
Wie lebt es sich mit fortschreitender Demenz? Schneidt und Merkel können | |
beide noch gut rechnen, erzählen sie. Lesen sie noch? Merkel liest, wenn | |
auch viel langsamer als früher, Schneidt fast nur noch laut. Die beiden | |
Merkels telefonieren täglich. „Am Telefon nehme ich dich anders wahr“, sagt | |
Tochter Christine. Alle vier nicken. „Dann leuchtet deine Seele wie | |
früher.“ Helga Weber kennt das Phänomen. „Das bewirkt die Distanz, weil m… | |
die veränderte Mimik nicht sieht.“ Nur in besonderen Momenten schimmere | |
manchmal die alte Persönlichkeit des Menschen mit Demenz durch. „Ich bin | |
oft zu schnell“, sagt Weber und man sieht, dass sie sich die Ungeduld nur | |
schwer verzeiht. „Ich sehe dann den Menschen, wie er vor 40 Jahren war und | |
nicht, wie er heute ist.“ | |
Musik machen oder hören – das sind Aktivitäten, die eine Demenz nicht | |
aufhalten können. Aber sie haben erheblichen Einfluss auf die | |
Lebensqualität des Erkrankten. Zwischen Händen und Hirn, Füßen und Kopf | |
werden Nervenverbindungen stimuliert. In Hildes Selbsthilfegruppe ist das | |
Buch „Daumenyoga“ populär. Hilde macht eine Übung vor. Daumen und kleiner | |
Finger berühren sich, dann kommen nacheinander Ring-, Mittel- und | |
Zeigefinger an die Reihe. „Wichtig ist: Die Übung langsam zu machen und | |
ruhig atmen“, erklärt sie. | |
Lebensqualität bemisst sich nicht nur an kognitiver Funktionalität, sondern | |
auch daran, ob Menschen mit Demenz ein Umfeld haben, das sie auffängt. Die | |
Teilnehmer:innen von Resonare haben ein wohlgesonnenes Umfeld, es ist | |
ein Pilot- und Vorzeigeprojekt. „Wir arbeiten an der Frage, inwiefern | |
Resonare als Modell auf andere Orte übertragbar ist“, sagt Oliver Peters | |
von der Charité. Die langfristige wissenschaftliche Auswertung steht noch | |
aus. „Wir sehen aber schon jetzt“, sagt er, „dass die Teilnehmenden | |
ausgeglichener sind, mehr selbst tun können und weniger Unterstützung | |
brauchen.“ Manche litten dann auch weniger unter den typischen | |
neuropsychiatrischen Merkmalen der Alzheimererkrankung wie Unruhe, | |
Aggressivität oder Angstzustände. Gerade in der Generation der Kriegskinder | |
kommen verschüttete Traumata und verdrängte Ängste wieder hoch. | |
Christine Merkel, 53, sagt: „Meine Mutter gehört zu einer sehr | |
bescheidenen, dankbaren Generation. Wir Jüngeren können von ihnen lernen. | |
Für uns wird das im Alter härter zu ertragen sein.“ | |
Wolfgang bedanke sich jeden Abend bei ihr, erzählt seine Partnerin Helga. | |
Morgens studiert er die Wolkenformationen des Himmels und beschreibt ihr en | |
détail Balkone und Fassaden auf der anderen Straßenseite. Farben zu | |
erkennen, fällt ihm dagegen schwerer. Die Welt entzieht sich langsam. | |
Christine Merkel, die Jüngere, sagt: „Die Welt wird kleiner. Aber wenn das | |
Außen drumherum keine Angst macht, dann kann es auch gemütlich sein in | |
dieser kleinen Welt.“ Ihre Mutter lächelt und sagt: „Ich bin glücklich.“ | |
Singen ist gut, tanzen tut gut, und manchmal machen sie bei Resonare | |
beides. Ende April tanzen sie in den Mai. Statt wilder Party: Tanztee am | |
Nachmittag im Foyer der Komischen Oper. Draußen scheint die Sonne, einige | |
haben sich schick gemacht. Es gibt Erfrischungsgetränke und Salzstangen. | |
Zwei Tanzlehrerinnen sind gekommen, kleine Aufwärmübung, sie beginnen mit | |
langsamem Walzer. Ein Schritt vor, zwei zurück. Die Tanzhaltung, sagt die | |
Lehrerin, ist wichtig. In die Augen gucken, sein Gegenüber anlächeln und | |
fragen: Darf ich bitten? | |
Es sind einfache Schrittfolgen, die für alle eine Herausforderung sind, für | |
Menschen mit und ohne Demenz. Welches Bein, welcher Schritt als nächstes? | |
Die Tanzlehrerinnen springen ein und helfen aus, wenn Paare feststecken. | |
Nach einer Stunde öffnet sich der Tanztee zum Freestyle. Der Pianist spielt | |
Boogie-Woogie, alle twisten. Helga und Wolfgang wogen bedächtig in der | |
Menge. Früher haben sie auch getanzt, aber nicht Standard wie heute. | |
Die Selbsthilfegruppe trifft sich auch im April wieder im Stadtteilzentrum | |
in Berlin-Friedenau. Die vier Anwesenden fragen: „Kommt Christian nicht | |
mehr?“ Hilde: „Ich vermute, er klinkt sich aus.“ – Regina Werk, die | |
Sozialpädagogin: „Ich hatte das Gefühl, es geht ihm nicht gut. Ich rufe ihn | |
nachher an.“ – Gerda hat einen stressigen Morgen hinter sich. Ihr Auto | |
sprang nicht an, dreimal musste sie überlegen, ob sie ihre Tablette | |
genommen und die Tür abgeschlossen hat. „In solchen Situationen frage ich | |
mich: Ist es Stress oder ist es nun so weit?“ – Hilde: „Das geht uns allen | |
so.“ | |
Katia: „Was macht ihr, damit der Alzheimer besser wird?“ – Agathe: „Ich | |
lebe mein Leben normal weiter. Im Alltag unterlaufen mir kleine Fehler. Das | |
ist dann so.“ – Regina Werk: „Habt ihr einen Pflegegrad beantragt?“ –… | |
und Agathe schütteln energisch den Kopf. „Wir würden ohnehin keinen | |
bekommen.“ – Regina Werk: „Dann wärt ihr aber aktenkundig, und wenn sich | |
euer Zustand verschlechtert, geht es schneller mit Haushaltshilfe und | |
Begleitdienst.“ – Hilde: „Ich würde mich schämen, jetzt einen Pflegegra… | |
beantragen.“ | |
Die Sozialpädagogin hat Christian angerufen, Hilde ihm geschrieben. Er | |
zieht sich zurück. Mit seinen Söhnen will er ein Heim anschauen, erklärt er | |
am Telefon. „Der Prozess geht immer schneller bei mir.“ Hilde tut es leid, | |
dass sie ihn möglicherweise verschreckt hat, als sie ihn auf sein | |
schlechtes Hören ansprach. „Ich bin nicht immer sehr diplomatisch.“ Dafür | |
geradeheraus. | |
Sie hat einen Weg gefunden, mit ihrer Situation umzugehen. Im Café erzählt | |
sie von einem Gespräch mit einer Freundin, die gefragt wurde, warum sie | |
denn noch Bücher lese, wenn sie alles sofort wieder vergesse. Die Antwort: | |
Weil es in dem Moment einfach schön ist. | |
29 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dzne.de/aktuelles/pressemitteilungen/presse/soziale-kontakte-st… | |
[2] https://psychiatrie.charite.de/leistungen/ambulanzbereich/gedaechtnissprech… | |
[3] https://www.thelancet.com/article/S0140-6736(20)30367-6/fulltext | |
[4] https://www.aerztliches-journal.de/medizin/neurologie-psychiatrie/demenz/bi… | |
[5] https://www.musik-und-demenz.de/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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