# taz.de -- Sachbuch über Demenzerkrankung: Das enteignete Leben | |
> „Ein Lebensversuch mit Demenz“: Gerd Steffens hat ein sehr berührendes | |
> und erhellendes Buch über die schwere Erkrankung seiner Frau geschrieben. | |
Bild: Demenz schleicht sich nach und nach in das Leben ein | |
Keine Krankheit verstört uns mehr, ruft größere Ängste in einer alternden | |
Gesellschaft hervor als die Demenz, die sich nach und nach in das Leben | |
einschleicht und eine Spur der Verwüstung hinterlässt. | |
Viele neurologische Untersuchungen sind in den letzten Jahren erschienen, | |
literarische Verarbeitungen Betroffener ebenfalls, von Arno Geigers | |
poetischem Porträt seines Vaters „Der alte König in seinem Exil“, bis zu | |
Michael Buselmeiers eher zornigem Enthüllungsbuch über seine erkrankte | |
Frau, die er in seiner mitunter erschreckend schonungslosen Darstellung | |
„Elisabeth“ nennt. | |
Auch das Kino hat sich mehrfach des Themas angenommen, angefangen mit „An | |
ihrer Seite“ mit der wunderbaren Julie Christie nach einem Text von Alice | |
Munro über „Iris“ mit Judi Dench und Kate Winslet, der das Schicksal der | |
Schriftstellerin Iris Murdoch beschreibt, sowie „Still Alice – Mein Leben | |
ohne Gestern“, um nur die wichtigsten zu nennen. | |
## Eindringliche Tagebuchaufzeichnungen | |
Nun liegt ein neues, ungemein berührendes Buch des Germanisten und | |
Historikers Gerd Steffens, der in Heidelberg studiert und an der | |
Universität Kassel Politische Bildung gelehrt hat, über die | |
Demenzerkrankung seiner Frau, die er K. nennt, vor. In eindringlichen | |
Tagebuchaufzeichnungen notiert er, wie sich die Krankheit, als „ungebetener | |
Gast“ zunächst verdrängt und überspielt, allmählich in das gemeinsame Leb… | |
einnistet und alles verändert. | |
Gerd Steffens legt hierbei den Fokus weniger auf die Verluste an | |
Erinnerungen, Gemeinsamkeiten, Möglichkeiten, sondern darauf, wie es trotz | |
des „Raubzugs der Demenz“, trotz aller „kognitiven und sozialen Havarien�… | |
trotz der „Melancholie des Erlöschens“ gelingen kann, einen gemeinsamen | |
Lebenshorizont zu wahren, mit dem Alltag als „Resonanzraum“ und Ritualen, | |
die eine „in sich ruhende Balance“ schaffen. | |
Nach den anfänglichen Verstörungen gelingt es dem Autor, seiner | |
zwiespältigen Gefühle Herr zu werden, eine „Kapsel der Zweisamkeit“ zu | |
erbauen und seine Rolle als unvermeidlicher Mitgefangener der tückischen | |
Krankheit zu akzeptieren. | |
## Gemeinsamer Horizont | |
Die Einträge gehen fast immer von konkreten Beobachtungen aus und | |
versuchen, an ihnen etwas zu verstehen. Oft sind es rätselhafte | |
Verhaltensweisen, Verstörungen in Raum und Zeit, an denen sie anknüpfen. | |
Wenn es gelingt, einen gemeinsamen Zeithorizont zu erhalten, kann trotz des | |
Fortschreitens der Krankheit in einem liebevollen Miteinander ein | |
gemeinsamer Lebenshorizont erhalten werden. | |
Wenn es darüber hinaus gelingt, den „Rückzug der Zeit ins Jetzt“ anzunehm… | |
und die Beziehung im Austausch von Gefühlen, Gesten, Blicken und vor allem | |
Berührungen in einem „unendlichen Vertrauen“ zu leben, kann die personale | |
Bindung bis zuletzt erhalten werden. | |
Das Berührende an dieser Darstellung ist, wie es dem Autor gelingt, eine | |
neue, andere Stufe des Verstehens zu erreichen: Er schafft es immer wieder, | |
seine Frau in das „Schattenreich der Erinnerung“ zu begleiten, zu erkennen, | |
dass auch ihr dementes Selbst noch ein selbstreflexives Selbst ist: „Sie | |
rekonstruierte andauernd ein Selbst, das über sich Bescheid wissen wollte“. | |
## Momente des Glücks | |
Am „Geländer“ seiner Begleitung gelingt ein „ruhiges Alltagsgleichgewich… | |
das der erkrankten Frau im Erlöschen eine „eigentümliche und berührende | |
Würde“ verleiht. Er bietet ihr unentwegt „Sicherungsseile für ihre | |
Klettertour durch den Tag“ und findet auf diese Weise wieder zu sich und | |
immer wieder erlebbaren gemeinsamen Glücksmomenten. | |
Trotz aller Enteignung des eigenen Lebens entsteht über alle Abgründe | |
verschwundenen Wissens und der versagenden Erinnerung für das Paar eine | |
Oase der Emotionalität, indem selbst inhaltsleere Worte einen miteinander | |
geteilten Horizont öffnen können. So wird gerade die letzte, schwerste | |
Phase des Selbstverlustes zu einem innigen Miteinander. | |
Auch wenn ein solches Erleben wohl nur einem Paar möglich ist, das davor | |
Jahrzehnte in glücklicher Verbundenheit verbracht hat, kann dieser Bericht | |
aus dem Darkroom des Lebens Mut machen, mit der zerstörerischen Krankheit | |
besser umzugehen, standzuhalten anstatt zu flüchten. | |
Denn, so Thomas Fuchs von der Universität Heidelberg in seinem Geleitwort, | |
„die Demenz ist kein Verlöschen der Person, im Gegenteil: Sie kann uns | |
zeigen, was uns im Kern als Personen ausmacht, nämlich die Fähigkeit, Wärme | |
und Liebe zu geben und selbst zu empfinden.“ | |
23 Dec 2023 | |
## AUTOREN | |
Barbara von Machui | |
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