# taz.de -- Saarbrücker Theaterstück über Demenz: Wasser des Vergessens | |
> „Lethe – ein Abend verlorener Erinnerungen“ von Anna-Elisabeth Frick | |
> inszeniert Gedächtnisverlust grotesk und liebevoll zugleich. | |
Bild: Gleich wird Beethoven geköpft: Szene aus „Lethe“ am Saarländischen … | |
Es kann nur eine Verschwörung sein, eine der übelsten Sorte. Erst wollen | |
sie die Menschen im Publikum nicht erkennen, und dann planen auch noch ihre | |
eigenen Kinder, sie irgendwohin abzuschieben. | |
Dabei war sie, die Mutter (Gaby Pochert), doch früher eine begabte, | |
souveräne Tänzerin, die auch jetzt im Alter keinerlei Hilfe bedürfe. Selbst | |
ist die Frau, immer noch, und nimmt sich kurzerhand ein Metronom als | |
Sexspielzeug. Aber auch das verspricht wenig Freude. Besser erscheint es | |
ihr, einem ihrer Söhne wie im Wahn in die Lippen zu beißen. | |
[1][Diese verrückte Szene klingt nach hartem Tobak und entspringt doch in | |
ähnlicher Weise dem Alltag vieler Menschen.] Gemeint sind Demenzerkrankte | |
und deren Angehörige, denen Anna-Elisabeth Frick mit „Lethe – ein Abend | |
verlorener Erinnerungen“ eine so groteske wie liebevolle Uraufführung am | |
Saarländischen Staatstheater Saarbrücken widmet. | |
## Komplex, ehrlich und ungetrübt | |
Fricks Blick auf das komplexe Thema ist ehrlich und ungetrübt. Bestreiten | |
lässt sich daher diese Tatsache nicht: Die erwähnte Frau, die Intrigen um | |
sich herum wittert, verfügt zwar noch über ein lautes Organ, aber ihr Geist | |
und ihre Orientierung sind bereits schwach geworden. | |
Ohne Schuhe verlässt sie die Wohnung und wandert durch die Nacht. Nur was | |
kann man bei derart tragischen Umständen unternehmen? Die | |
Familienmitglieder, die im Laufe des Abends immer wieder ihre Rollen | |
wechseln, verfolgen eine doppelte Strategie: einerseits Zuhören, | |
andererseits das retten, was an Erinnerungen verloren zu gehen droht. | |
Die gesteigerte Variante zeigt sich indessen bei einem Vater (Sébastien | |
Jacobi). Als er durch die Wohnungstür hereinkommt, erkennt er kaum noch | |
seine Kinder. Stattdessen wähnt er sich als Dirigent, der alle Anwesenden | |
als faule Orchestermitglieder anbrüllt. | |
## Chaos im Kopf | |
Dass solche eine Szene Disruptionen erfordert, liegt auf der Hand. Fricke | |
wählt dafür ein Durcheinander von Instrumenten als irren Hintergrundsound. | |
[2][So könnte sich also Chaos im Kopf anhören. Es steigert sich, je | |
aggressiver der Demenzkranke wird, bis er erschöpft in sich zusammenfällt.] | |
Dann treten seine Frau und Kinder zärtlich an ihn heran und decken ihn zu, | |
während er mittlerweile den Tränen nahe klagt: „Ich will doch nur nach | |
Hause.“ | |
Es ist genau jene Mischung aus aufgedrehtem und schrillstem Dada und | |
wenigen Augenblicken eines melancholischen Innehaltens, die Fricks | |
Inszenierung Virtuosität und Wärme verleihen. [3][Für manche mag | |
verblüffend sein, über diese ernste Thematik Witze zu machen.] Darf man | |
lachen, wenn jemand einen Telefonhörer auf der Bühne zum Blumengießen | |
nutzen will? Ja, und die Zuschauer:innen tun es mit sichtlichem Genuss, | |
eben weil der Gedächtnisverlust nicht nur ein trauriges Schicksal mit sich | |
bringt. Die Absurdität birgt auch im echten Leben Komik und schafft einen | |
eigenen Erzählraum mit teils surrealer Anmutung. | |
Letztere überträgt sich ebenfalls in der von Martha Pinsker entworfenen | |
Kulisse. Wir blicken auf eine große Regalwand, darin: Beethovenbüsten und | |
Imitationen berühmter Skulpturen. Auch asiatische Winkekatzen und ein | |
Spielzeugklavier dürfen nicht fehlen. Überhaupt knüpfen viele Requisiten an | |
die Kindheit und eine Puppenstube an. Vor der zumindest zu Beginn noch | |
aufgeräumten Wand befinden sich auch weiße Tierfiguren wie ein Krokodil | |
oder ein Schaf. Dazwischen allerlei Scherben. | |
## Mythologischer Strom | |
Indem die Bühne bis zum Ende des Stücks mehr und mehr in Unordnung | |
versinkt, spiegelt sie die Auflösung der Identität der | |
Protagonist:innen wider. Wie der Titel verrät, haben sie längst vom | |
Wasser des Vergessens, dem mythologischen Strom Lethe, getrunken. Als | |
spätmodernes, ironisches Sinnbild ist er sogar sichtbar: als | |
Getränkeautomat. | |
Wenn er sich in der Abschlussszene zur Mitte der Bühne bewegt und eine | |
Computerstimme zu hören ist, werden wir der wenig einladenden Zukunft des | |
Pflegesystems gewahr. Für die Alten, so diese dystopische Zuspitzung, auf | |
die der Vater noch mit passenden Zitaten aus Franz Kafkas „Der Prozess“ | |
reagiert, sorgt dann nur noch die Künstliche Intelligenz. | |
Zugegeben, eines vermisst man an diesem bildstarken Abend schon. Denken wir | |
an die intensive Auseinandersetzung mit Demenz in der Gegenwartsliteratur, | |
wie etwa bei Arno Geiger, Ron Segal oder Walter Jens, so eröffnet Frickes | |
Inszenierung keine Meta-Perspektive. Ihrem Werk wohnt weder eine | |
philosophische noch eine politische Dimension inne. | |
Trotzdem überzeugt es mit Bravour. Denn die Regie übersetzt das schwierige | |
Los der Betroffenen in wildes, flippiges Theater, das zumindest für die | |
Spanne eines Abends einen Ausbruch aus einer ansonsten leider unumkehrbaren | |
Realität ermöglicht. | |
31 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Björn Hayer | |
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