| # taz.de -- Theaterstück über Integration und Demenz: Das innere Exil überwi… | |
| > Vor der Bundestagswahl nimmt sich das Theater Heidelberg des Themas | |
| > Migration an. Auch Demenz ist Bestandteil in Thomas Deprycks Text „Unter | |
| > euch“. | |
| Bild: Christian Crahay spielt den an Demenz erkrankten Fernand | |
| Was könnte, wo sich die meisten Parteien im Bundestagswahlkampf mit | |
| Verschärfungen in der Asyl- und Grenzpolitik überboten haben, brisanter, ja | |
| dringlicher sein als ein Stück über Migration? Nur weniges. Am Theater und | |
| Orchester Heidelberg hat man daher die Gunst oder Ungunst der Stunde | |
| genutzt und unmittelbar vor der Bundestagswahl ein Auftragswerk in den | |
| Spielplan aufgenommen, das das Schicksal einer Auswanderin ins Zentrum | |
| rückt. | |
| Et voilà, es geht um die (ebenso wie ihre Darstellerin: Sophie Frérard) | |
| belgischstämmige Manon. Nachdem sie mit ihrem Mann (Thorsten Hierse) und | |
| Kindern nach Deutschland übersiedelt, stellen sich die erwartbaren | |
| kulturellen und sprachlichen Missverständnisse ein. Mal selbstironisch, oft | |
| melancholisch klagt die Eingewanderte über ihre Fremdheitserfahrungen: | |
| „Dieses Deutsch wehrt sich immer noch gegen mich, leistet Widerstand“; „A… | |
| Deutsch sage ich immer Dinge, die nicht ganz Ich sind“; „Du denkst, du | |
| kommst von hier, fühlst dich aber dort wohl.“ | |
| Neben diesem Ringen der Heldin mit sich und der Umwelt, das Depressionen, | |
| Schlafstörungen und Arztbesuche zur Folge hat, erzählt Thomas Deprycks Text | |
| „Unter euch: Je promène ma mélancolie parmi vous“ noch von Manons Vater | |
| Fernand (Christian Crahay). Er verliert sich auf ganz andere Weise als | |
| seine Tochter. Ihn, mittlerweile im Pflegeheim untergebracht, hat nämlich | |
| die Demenz aus dem Haus des eigenen Bewusstseins vertrieben. | |
| Um das Gefühl der Entwurzelung dieser beiden Charaktere zu | |
| veranschaulichen, spielt Regisseurin Suzanne Emond von Anfang an mit einem | |
| Sprachwechsel zwischen Deutsch und Französisch. Wenn manches Mal eine Figur | |
| letzteres spricht, vernimmt man stellenweise und nicht ohne Witz eine | |
| falsche Übersetzung aus dem Off. Bisweilen wird auch ein deutscher Dialog | |
| nur mimisch interpretiert, während man den Text als Voiceover hört. | |
| Absurde Komik macht sich jedoch nicht nur in der Kommunikation bemerkbar. | |
| Spätestens mit dem Auftauchen eines Darstellers mit Fischkopf nimmt das | |
| Setting surreale Züge an. Steht er für eine andere Art Sensenmann, der am | |
| Schluss den Vater aus dem Leben führt? Oder verbirgt sich hinter dem | |
| stillen Tier die Chiffre für die Unmöglichkeit, sich auszudrücken? Es ist | |
| ein kryptisches Bild, aber immerhin eines in einem weitestgehend bildarmen | |
| Setting. | |
| ## Aus der Mehrsprachigkeit resultierende Herausforderungen | |
| Sichtlich tut sich die Regie schwer mit diesem wendungs- wie | |
| entwicklungsarmen Werk. Die Figuren erzählen eben vor sich hin, meistens in | |
| Richtung des Publikums. Hier und da werden noch passende Gesten und | |
| Positionen genutzt. So etwa in einem gemeinsamen Vortrag über die aus der | |
| Mehrsprachigkeit resultierenden Herausforderungen für Belgien. Ineinander | |
| verkeilt steht die Gruppe da, sobald der Konflikt zwischen Flamen und | |
| Wallonen aufs Tapet kommt. | |
| Ansonsten ruht sich diese Inszenierung auf der statischen Kulisse, | |
| entworfen von Lana Ramsay, aus. Wir blicken dazu auf eine Art | |
| weiß-grünliche Eisfläche, in die bereits Regale, ein Stuhl und Bett halb | |
| eingesunken sind. Dieser Boden erweist sich zum einen als rutschig, zum | |
| anderen als brüchig. Es ist der sinnbildliche Grund, auf dem | |
| Migrant:innen ins Schlittern geraten können, in den sie sogar, wenn | |
| ihnen der Halt in der Ankunftsgesellschaft fehlt, einzubrechen drohen. | |
| Sicherlich, ein bestechendes und kluges Bühnenarrangement! Doch so dünn es | |
| metaphorisch anmutet, so dünn fällt der monothematische Text aus, dem auch | |
| Emond nicht zum Drive verhelfen kann. Fast zwei Stunden tritt das Geschehen | |
| daher auf der Stelle und verschenkt jedwedes Potenzial, das in dem derzeit | |
| virulente Sujet steckt. | |
| Bemerkenswert und durchaus ergreifend mutet indessen einzig der davor lang | |
| ersehnte Schluss an: Als Fernand stirbt, tritt er noch einmal an ein mit | |
| blauem Himmel und Wolken bemaltes Pult und verabschiedet sich von der Welt | |
| und seiner Tochter. Davor richten sich mittels Luftdruck weiße | |
| Stoffbuchstaben auf. „Heim“ lesen wir, und etwas kleiner darauf „weh“. … | |
| im Jenseits scheint also das innere Exil überwunden zu sein. | |
| Dass diese Szene berührt, steht außer Frage. Vom Publikum, worunter sich | |
| auch einige französischsprachige Besucher:innen befinden, gibt es dafür | |
| reichlich Applaus. Immerhin! Aber soll das die Botschaft für ein | |
| Einwanderungsland oder ein zunehmend von Nationalisten in die Zange | |
| genommenes Europa sein? Kann so eine progressive Vision für Versöhnung, | |
| Integration und Annäherung aussehen? Man mag es nicht hoffen. Ratloser und | |
| zugleich uninspirierter kann man ein Theater wohl kaum verlassen. | |
| 24 Feb 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Björn Hayer | |
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