| # taz.de -- „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen: Vier Quadratmeter Wahrheit | |
| > Die Bremer Logistikfirma Kühne + Nagel hat in der NS-Zeit von den | |
| > Enteignungen der Juden profitiert. Nun wird ein Mahnmal eingeweiht – auf | |
| > taz-Initiative. | |
| Bremen taz | Der gesetzte Mittfünfziger im dunklen Anzug wird allmählich | |
| ungeduldig. „Es ist gleich viertel vor zehn, da will ich doch nicht mehr | |
| über den Nationalsozialismus reden!“ Zuvor hat er, betont freundlich, für | |
| [1][ein großformatiges Bauprojekt seiner Firma geworben], in bester Bremer | |
| Innenstadtlage. Doch dann läuft die Sitzung im zuständigen Stadtteilbeirat | |
| anders als gedacht. Uwe Bielang, der nun in Rage gerät, braucht dessen | |
| Segen für die Baupläne seiner Firma, Kühne + Nagel – aber keine Debatten | |
| über einen angemessenen Umgang mit der Unternehmensgeschichte. | |
| Gibt es das überhaupt – einen „angemessenen Umgang“? Schwierige Frage. A… | |
| es gibt durchaus so etwas wie eine Not-to-do-Liste im Umgang mit der | |
| NS-Vergangenheit. Dazu gehört: Nebelkerzen werfen. Anfragen von | |
| Historiker:innen abbügeln. Und darauf zu vertrauen, dass die | |
| Standardbehauptung, alle Akten seien verbrannt, noch immer so gut | |
| funktioniert wie früher. | |
| Bielangs Firma hatte jahrzehntelang Zeit, über den Nationalsozialismus zu | |
| reden. Jahrzehnte, in denen in schöner Regelmäßigkeit Firmenchroniken | |
| erschienen, Anschauungsmaterial für selektive Geschichtsdarstellung. | |
| Allerdings gehört die Firma nicht Uwe Bielang, er ist lediglich | |
| „Regionalleiter Norddeutschland“ des drittgrößten Logistikkonzerns der | |
| Welt. Dort hatte 2016, als sich die kleine Szene im Stadtteilbeirat zutrug, | |
| nach wie vor [2][Klaus-Michael Kühne das Sagen], dessen Vater und Onkel die | |
| Firma in den 1930er und 1940er Jahren führten. | |
| ## Zurückhaltung bei Kühne | |
| Auch heute noch ist Klaus-Michael Kühne, mittlerweile 86 Jahre alt, weit | |
| mehr als bloß Mehrheitsaktionär: Er bestimmt, was geschieht, und auch, was | |
| nicht. Zur zweiten Kategorie gehört die Befassung mit der Geschichte der | |
| Firma während der NS-Zeit. Insofern ist der Fall Kühne + Nagel ein | |
| Anachronismus. Aber er verweist auf ein gesamtgesellschaftliches Problem: | |
| die sehr zurückhaltende Auseinandersetzung mit dem unangenehmen Thema | |
| „Arisierung“. | |
| „Arisierung“ – so hieß im NS-Jargon die systematische Ausplünderung der | |
| jüdischen Bevölkerung, deren „Erträge“ noch immer zur Erbmasse zahlreich… | |
| deutscher Familien gehören. Daher wurde aus dem kleinen Eklat im | |
| Stadtteilbeirat eines von zahlreichen Zwischenschrittchen auf dem Weg zu | |
| einem thematisch weit größeren und damit auch langwierigeren Projekt: dem | |
| Bremer „Arisierungs“-Mahnmal. Diesen Sonntag wird es eingeweiht. | |
| Zeitsprung, Ortswechsel: Als Otto Frank im Juni 1945 in die Prinsengracht | |
| 263 in Amsterdam zurückkehrt, ist das Gebäude komplett ausgeräumt. Zwei | |
| Jahre lang hatte er sich mit seiner Familie im Hinterhaus vor den deutschen | |
| Besatzern verborgen. Als Einziger seiner Familie überlebte Otto Frank die | |
| Verhaftung und Deportation. Seine Töchter Anne und Margot starben 1945 in | |
| Bergen-Belsen. | |
| Fünf Monate nach der Befreiung aus Auschwitz steht Otto Frank also in den | |
| leeren Räumen – und entscheidet, d[3][as Haus in genau diesem Zustand zu | |
| belassen]. „Die Leere“, schreibt die niederländische Kunsthistorikerin | |
| Aukje Vergeest, „symbolisierte für ihn den Verlust seiner Angehörigen und | |
| Freunde, die nicht aus den Lagern zurückgekehrt waren“. | |
| 70 Jahre später, im Januar 2015, feiert Kühne + Nagel ein großes Jubiläum | |
| auf dem Bremer Marktplatz. In Bremen hat der Konzern seine Wurzeln. 1890 | |
| wurde die Firma an der Weser gegründet, als Spedition vornehmlich für | |
| Getreide, Zucker – und Möbel. Zum 125. Geburtstag nimmt sich die Firma | |
| besonders viel Zeit, um History-Marketing zu betreiben: Kleine Anfänge, | |
| große Erfolge, dazwischen ehrliche Arbeit und harte Zeiten im Krieg – | |
| dieser Erzählung applaudierte auch die bremische Politprominenz. Für vieles | |
| ist in dieser Geschichts-Show kein Platz – auch nicht [4][für Adolf Maass, | |
| den 1933 aus der Firma gedrängten jüdischen Anteilseigner]. | |
| Klaus-Michael Kühne kündigt anlässlich des Jubiläums an, Bremen mit einem | |
| Neubau des Stammsitzes zu beglücken. Ein „Bekenntnis zum Standort“ sei das. | |
| 1969 hingegen hatten die Kühnes nicht lange gezögert, mit ihrer Zentrale in | |
| die Schweiz zu ziehen. Willy Brandts Kanzlerschaft drohte und mit ihr die | |
| Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. Selbstverständlich sei es auch um | |
| die günstigeren Steuersätze gegangen, erklärt Kühne freimütig – bei ande… | |
| Gelegenheit. Heute gilt Kühne als reichster Einwohner der Schweiz. Da er | |
| einen Teil der Steuerersparnisse als Mäzen ausschüttet, ernennt der | |
| Hamburger Senat Kühne 2007 zum Ehrenprofessor. Er ist auch Sponsor des HSV. | |
| Otto Frank 1945 in der Prinsengracht, Klaus-Michael Kühne 2015 auf dem | |
| Bremer Marktplatz: Es gibt keine konkret nachweisbare Verbindung zwischen | |
| den beiden Männern an den jeweiligen Orten. Aber eine strukturelle: Beide | |
| betrifft, freilich in diametral entgegengesetzter Weise, die Totalität der | |
| sogenannten „Verwertung“ jüdischen Eigentums. | |
| Diese strukturelle Verbindung beginnt unmittelbar nach der Verhaftung der | |
| Franks. Wie überall, wo die Wehrmacht der Gestapo den Boden bereitet hat, | |
| wie überall, wo jüdische Menschen fliehen müssen oder deportiert werden, | |
| wird deren Besitz restlos eingesammelt und der „Verwertung“ zugeführt. In | |
| Amsterdam ist dabei vor allem die Spedition Abraham Puls aktiv – derart | |
| aktiv, dass das Verb „pulsen“ für das Ausräumen jüdischer Wohnungen | |
| erfunden wird. | |
| Abraham Puls erhöht sein Auftragsvolumen, indem er versteckte Jüdinnen und | |
| Juden an die Besatzer verrät. Nach dem Krieg wird er zum Tod verurteilt. | |
| Ganz anders ist der Umgang in Deutschland: Puls’ Geschäftspartner, die | |
| Brüder Alfred und Werner Kühne – Parteimitglieder und mehrfach mit dem | |
| „Gau-Diplom“ für ihren „nationalsozialistischen Musterbetrieb“ | |
| ausgezeichnet – bekommen das Bundesverdienstkreuz. Auch bei Kühne + Nagel | |
| soll es Prämien für Hinweise auf jüdische Wohnungen gegeben haben. | |
| Im besetzten Amsterdam wird das Raubgut auf Binnenschiffe verladen, zum | |
| Beispiel auf die „Damco 48“. Im Landesarchiv Oldenburg befindet sich ihre | |
| Ladeliste, die alphabetisch erfasst, was zwischen dem 9. und dem 13. März | |
| 1943 an Bord geschafft wird. Es gibt Hunderte solcher Listen – diese sei | |
| hier beispielhaft zitiert: | |
| „53 Badewannen, 61 Bänke, 27 Besen, 71 Bettgestelle, 71 Stück Bettzeug, 65 | |
| Rollen Bodenbelag, 56 Buffets, 15 Bügelbretter, 14 Eimer, 69 Gartentische, | |
| 1 Gasherd, 11 Gaskocher, 9 Gasöfen, 20 Herde, 1 Kinderwagen, 101 Kissen, 63 | |
| Klubsessel, 6 Kohlenküppen, 80 Lampen, 45 Nachtschränkchen, 6 Nähkörbchen, | |
| 12 Nähmaschinen, 3 Petroleumkocher, 148 Schränke, 16 Spiegel, 103 Spiralen, | |
| 53 Ständer, 1 Staubsauger, 600 Stühle, 46 Teemöbel, 170 Teppiche, 195 | |
| Tische, 53 Trittleitern, 1 Uhr, 4 Mahane, 10 Waschkessel, 148 Wandbilder, 1 | |
| Möbelkoffer mit Töpfen und Bratpfannen“. | |
| Die „Damco 48“ hat eine Traglast von 614 Tonnen, sie fährt unter der Flagge | |
| von Kühne + Nagel. Auch die Ladeliste trägt den Firmenstempel. | |
| Eine Woche vor der Beladung beginnt die Deportation der jüdischen | |
| Amsterdamer:innen vom KZ Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor. | |
| Möglich, dass auch der Besitz der Familie Frank auf der „Damco 48“ war: | |
| Nicht die Einrichtungsgegenstände aus der Prinsengracht 263 – die werden | |
| erst im August 1944 „gepulst“. Aber die Habe der Franks aus ihrer Wohnung | |
| am Merwedeplein 37 II, die sie im Juli 1942 verließen, um unterzutauchen. | |
| Die Gütertransporte von Amsterdam ins Deutsche Reich sind Teil der „Aktion | |
| M“. „M“ steht für Möbel. Sie beginnt am 14. Januar 1942 auf Anweisung v… | |
| Reichsleiter Alfred Rosenberg. Den Verantwortlichen ist bewusst, dass es | |
| sich dabei nicht „nur“ de facto, sondern auch de jure um Raub handelte. Der | |
| deutsche Botschafter in Paris verfasst eine Aktennotiz: „Formal-juristisch | |
| ist keine Rechtsgrundlage für die Maßnahme vorhanden.“ Man müsse sich | |
| vielmehr auf deren „geschichtliche Berechtigung“ berufen. Als Rosenberg | |
| 1946 in Nürnberg zum Tod verurteilt wird, ist seine Verantwortung für das | |
| „System organisierter Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums in | |
| allen überfallenen Ländern Europas“ eine der vier aufgeführten Gründe. | |
| Bis 1944 kommen bei der „Aktion M“ 735 Züge zum Einsatz, die 29.463 | |
| Waggonladungen nach Deutschland bringen, sowie mindestens 580 | |
| Frachtschiffe. Doch so gewaltig die Mengen auch sind, die Behörden wollen | |
| mehr: Ein Prüfbericht bemängelt im September 1943 den Personalmangel, der | |
| die Arbeit insbesondere „im Bereich Abtransport“ behindere. Es gebe | |
| „erhebliche Rückstände“ bei der Räumung der bereits erfassten 70.000 | |
| jüdischen Wohnungen und Häuser, gerade in Paris. In Lüttich wird der | |
| Sicherheitsdienst angewiesen, die Verhaftung jüdischer Einwohner:innen | |
| „baldmöglichst“ zu beschleunigen, damit deren Möbel „frei werden“. | |
| Angesichts der Bombenschäden im „Reich“ gelten die Möbellieferungen als | |
| „siegwichtig“ für die Aufrechterhaltung der Kriegsmoral. | |
| Für Speditionen sind das goldene Zeiten – und Kühne + Nagel ist bei der | |
| Auftragsakquise am erfolgreichsten. Die Firma gründet Niederlassungen in | |
| Rotterdam, Amsterdam, Den Haag, Antwerpen, Paris, Bordeaux, Marseille, | |
| Roubaix, Tourcoing, Lissabon, Triest, Mailand, Genua. Nach dem Überfall auf | |
| die Sowjetunion und der Besetzung des Baltikums auch in Riga, Libau, Windau | |
| – Wachstum in den Fußstapfen der Wehrmacht. | |
| Übersetzt man die Liste der internationalen Filialen in Geschäftsfelder, | |
| ergibt sich folgendes Bild: In Genua und Triest räumt Kühne + Nagel die | |
| Wohnungen der wohlhabenden jüdischen Bevölkerung aus. Um den Auftrag, das | |
| in italienischen Häfen zurückgelassene Hab und Gut der Verfolgten „heim ins | |
| Reich“ bringen zu dürfen, bemüht sich Kühne + Nagel erfolgreich beim | |
| Reichsfinanzminister. In Frankreich und Benelux ist die Firma vor allem für | |
| den Streckentransport zuständig und erarbeitet sich dabei eine | |
| monopolähnliche Position. Das baltische Geschäftsmodell von Kühne + Nagel | |
| ist noch kaum erforscht, auf dem Balkan wiederum entwickelt Kühne + Nagel | |
| mit der Wehrmacht das Geschäftsfeld der Militärlogistik – in dem es bis | |
| heute eine führende Rolle spielt. | |
| Als die taz angesichts des Jubiläumsmarketings bei Kühne + Nagel | |
| nachfragte, ob es während der 1930er und 1940er Jahre nicht doch etwas mehr | |
| als nur Mühsal gegeben habe, lautete die Antwort dennoch: „Diesen | |
| Zeitperioden mangelt es an Relevanz für die Firmengeschichte.“ | |
| Es stellte sich also die Frage: Wie ist es möglich, mehr Aufmerksamkeit auf | |
| die sorgfältig umschifften Geschichtslücken zu lenken? Mehr Aufmerksamkeit | |
| als allein durch Artikel und Diskussionsveranstaltungen im Rahmen der „taz | |
| Salons“ generiert werden konnte? | |
| Die Gelegenheit war gegeben: Kühne brauchte öffentliche Flächen für den | |
| Neubau seines Stammsitzes. Was lag näher, als ebenfalls ein Kaufgebot | |
| abzugeben? Für nur vier Quadratmeter. Aber das zum doppelten Preis, den | |
| Kühne pro Quadratmeter zahlen sollte. Möglich war das durch ein | |
| Crowdfunding, an dem sich viele taz-Genoss:innen beteiligten und das 27.003 | |
| Euro einbrachte. Von nun an mussten sich die städtischen Gremien, mussten | |
| sich Bürgerschaft, Baudeputation und Haushaltsausschuss mit der Frage | |
| befassen: Was ist das für ein Kaufangebot der taz, was wollen die und | |
| warum? Am Ende konnte Kühne zwar das Grundstück kaufen – doch die Stadt | |
| beschloss ebenfalls, das Mahnmal zu bauen. | |
| Schon zuvor hatte die taz einen Ideenwettbewerb ausgeschrieben: Wie kann | |
| die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung visualisiert werden, wie die | |
| Verdrängung dieses Geschäfts, die Verschleierung und Diffusion von | |
| Verantwortlichkeit? | |
| Bekannte Künstler:innen beteiligten sich, Schulklassen und | |
| Privatpersonen. Der Wettbewerb löste familiäre Nachforschungen aus – denn | |
| auch das Thema war gewachsen. Wir fixierten uns keineswegs auf den | |
| renitenten Firmenpatriarchen, sondern fragten: Wer hatte all die Dinge, die | |
| Kühne + Nagel aus den besetzten Ländern herankarrte, günstig erworben oder | |
| ersteigert? | |
| Eine Fachjury unter Mitwirkung der Jüdischen Gemeinde schlug das Konzept | |
| „Leerstellen und Geschichtslücken“ von Evin Oettingshausen zur | |
| Realisierung vor. Und tatsächlich fasste die Bremische Bürgerschaft den | |
| Beschluss, den Entwurf umzusetzen. | |
| Sieben Jahre später ist das Mahnmal gebaut, vis-à-vis der neuen | |
| Deutschlandzentrale von Kühne + Nagel. Es besteht aus einem sechs Meter | |
| tiefen Schacht, der zunächst nichts als Leere zeigt: die scheinbare | |
| Abwesenheit von Geschichte, deren Vergessen und Verdrängen. Ganz unten ist | |
| jedoch seitliches Licht zu sehen. Wer daraufhin die Perspektive wechselt, | |
| zur Uferpromenade hinuntersteigt, erkennt an den Wänden des Schachtes | |
| schemenhafte Schattenrisse: Spuren von Möbeln, von Einrichtung, von | |
| zerstörten Leben. | |
| Dass die Formensprache des Bremer Mahnmals eine Kongruenz zu Otto Franks | |
| Entscheidung aufweist, die Prinsengracht 263 in der vorgefundenen Leere zu | |
| belassen, ist auf konkreter Ebene ein Zufall. In gewisser Weise bestätigt | |
| er jedoch die Angemessenheit der von Evin Oettingshausen gefundenen Chiffre | |
| für die Totalität von „Verwertung“ und Existenzvernichtung. | |
| „Das,Arisierungs'-Mahnmal füllt eine Leerstelle in der deutschen | |
| Erinnerungskultur“, sagt Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für | |
| Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Allmählich | |
| verändert sich in der Erinnerungsarbeit etwas: Nach Jahrzehnten, in denen | |
| das Gedenken vermieden, auf die Opfer fixiert und an staatliche | |
| Institutionen delegiert wurde, rückt nun die Notwendigkeit einer | |
| Täter:innen-Adressierung in den Vordergrund – die auch die private | |
| Beteiligung an der profitablen Beraubung der jüdischen Mitbürger:innen | |
| klar benennt. Dafür kann das Bremer Projekt ein Beispiel sein. | |
| Materiellen Hinterlassenschaften kommt, [5][angesichts des nahenden | |
| Lebensendes der letzten Zeitzeug:innen], ebenfalls eine neue Rolle zu. | |
| 78 Jahre nach dem Holocaust übernehmen Dinge die Funktion von Präsenz, von | |
| unmittelbarer und emotionaler Zugänglichkeit. Das Fehlen solcher | |
| Erinnerungsstücke in jüdischen Familien ist eine schmerzlich empfundene | |
| Leerstelle: die Abwesenheit von Erinnerungsankern, eine „Spurenlosigkeit“ | |
| der Ermordeten. Bei den Nachkommen der Profiteur:innen scheint das | |
| geraubte Eigentum dagegen nahtlos in die familiäre Erbmasse eingegangen zu | |
| sein oder wird auf Flohmärkten und im Antiquitätenhandel verkauft. | |
| Überall in Deutschland könnte ein „Arisierungs“-Mahnmal eingeweiht werden. | |
| In Würzburg beispielsweise musste vor der Deportation ein 16-seitiger | |
| Fragebogen ausgefüllt werden, der alle erdenklichen Habseligkeiten | |
| erkundete: Schlafzimmer mit Zahl der Bettvorleger, Brücken, Gardinen, | |
| Kopfkissen usw. – Küche mit Zahl der Kochtöpfe und Bügeleisen, das | |
| Wohnzimmer einschließlich Globus, Lexikon und Papierkorb. Auch die | |
| Servietten und Frottiertücher mussten aufgelistet werden, die Schlafanzüge | |
| und Garnituren an Unterwäsche. Für alle Familienmitglieder ab sechs Jahren. | |
| Wer zeitgenössische Zeitungen auswertet, findet Hunderte von Anzeigen, die | |
| Versteigerungen und Verkäufe in Turnhallen, Gasthöfen und Vereinslokalen | |
| bewarben. In Bremen fanden sie sogar im Weserstadion statt, dort wurden | |
| große Mengen „gebrauchter Oberbetten, Unterbetten und Kopfkissen“ | |
| angeboten. Sosehr man das Leben ihrer bisherigen Besitzer:innen | |
| entwertet hatte – vor der Aneignung auch ihres intimeren Eigentums bestand | |
| offenbar weder Scheu noch Scham. | |
| ## Renitenter Firmenpatriarch | |
| Als Hafen- und Logistikstadt hatte Bremen einen besonderen Anteil an der | |
| „Verwertung“ des beweglichen Hab und Guts – an der Spitze Kühne + Nagel … | |
| seinen europaweiten Geschäften. Zudem profitierte Bremen als | |
| Auswanderungshafen: Viele jüdische Menschen versuchten, Europa über den | |
| Seeweg zu verlassen. Mittlerweile wird das auch vom [6][Deutschen | |
| Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven] erforscht, denn die Umzugskisten mit dem | |
| letzten Besitz landeten, statt verladen zu werden, oft auf sogenannten | |
| „Juden-Auktionen“. Auch die städtischen Institutionen bedienten sich: In | |
| über 40 Prozent der Neuzugänge der Bremer Staatsbibliothek des Jahres 1942, | |
| insgesamt 1.600 Büchern, steht die entsprechende Abkürzung: „J. A.“. | |
| Und wie steht es nun mit dem renitenten Firmenpatriarchen – dessen Renitenz | |
| immerhin zu der viel größeren Frage führte, wie wir gesamtgesellschaftlich | |
| mit dem „Arisierungs“-Erbe umgehen wollen? | |
| Angesichts der fortgesetzten Recherchen räumte Kühne + Nagel irgendwann | |
| ein, für den NS-Staat „Güter jüdischer Eigentümer transportiert“ zu hab… | |
| was man auch bedauere. Allerdings sei „unklar“, ob das Unternehmen | |
| „wissentlich und willentlich“ gehandelt habe oder ob es einen | |
| „kulturpolitischen Zusammenhang“ gegeben habe. Letzteres klingt kurios – | |
| ist jedoch ein unfreiwilliger Verweis auf die Verwicklung der Firma in den | |
| Abtransport von Kulturgütern. Unter anderem brachte Kühne + Nagel wertvolle | |
| Bibliotheksbestände von Frankreich nach Frankfurt am Main. Auftraggeber: | |
| Die NSDAP, die eine „Hohe Schule“ für die Führungskader plante. | |
| Die Akten, die über derartige Geschäfte Auskunft geben, sind in | |
| öffentlichen Archiven auffindbar. Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit enthält | |
| auch das Firmenarchiv einschlägiges Material – obwohl Klaus-Michael Kühne | |
| den Topos, alles sei im Krieg verbrannt, noch heute wiederholt. | |
| Was daran stimmt: Der Bremer Firmensitz wurde 1944 zerbombt. Aber bereits | |
| 1943 hatte Kühne + Nagel sein Zentralkontor nach Regensburg, dann nach | |
| Konstanz verlagert. Auch weist das Verzeichnis Deutscher Wirtschaftsarchive | |
| ein „Firmenarchiv Kühne & Nagel“ aus: mit Beständen ab 1902 und der | |
| Inhaltsangabe „Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, | |
| Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der | |
| Geschäftsleitung“. | |
| Diese Genehmigung steht nach wie vor aus. | |
| Klaus-Michael Kühne hat eine konkrete Vorstellung vom richtigen Zeitpunkt, | |
| zu dem über den Nationalsozialismus zu sprechen sei. „Ich hätte“, sagt er | |
| in einem Interview, „dafür Verständnis gehabt, wenn man sich nach dem Krieg | |
| damit befasst hätte, in den 50er-, 60er-Jahren“. Nicht aber, „nachdem so | |
| viel Zeit vergangen war“. Seit 1963 ist er persönlich haftender | |
| Gesellschafter der Firma. | |
| Für Barbara Maass ist es, was die Bedeutung der Zeit angeht, umgekehrt. Sie | |
| lebt in Montréal und ist eine Enkelin des beim Jubiläum ausgesparten | |
| früheren Anteilseigners von Kühne + Nagel, Adolf Maass. 1944 wurde der | |
| zusammen mit seiner Frau Käthe in Auschwitz ermordet. „Ich habe viel Zeit | |
| gebraucht, bevor ich mich mit dem Schicksal meiner Großeltern | |
| auseinandersetzen konnte“, sagt sie. Nun kommt sie zur Mahnmal-Einweihung | |
| nach Bremen. Klaus-Michael Kühne wird sie dort nicht treffen. | |
| Henning Bleyl initiierte als Kulturredakteur der taz Bremen 2015 das | |
| „Arisierungs“-Mahnmal. Seit er 2016 zur Heinrich-Böll-Stiftung wechselte, | |
| engagiert er sich zusammen mit Evin Oettingshausen ehrenamtlich für die | |
| Umsetzung des Projekts. | |
| Einweihung Am 10. September wird das „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen | |
| eingeweiht. Das Programm finden Sie unter [7][taz.de/mahnmal]. | |
| 9 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neue-Firmenzentrale-in-Bremen/!5273253 | |
| [2] /Ex-Pastor-ueber-Klaus-Michael-Kuehne/!5927269 | |
| [3] https://www.annefrank.org/de/ | |
| [4] /Bremer-Protest-gegen-NS-Verdraengung/!5302261 | |
| [5] /Holocaust-Ueberlebende-als-Zeitzeugen/!5827548 | |
| [6] https://www.dsm.museum/pressebereich/dsm-bringt-datenbank-fuer-geraubtes-ju… | |
| [7] /Bremer-Mahnmal-zur-Arisierung/!t5318116 | |
| ## AUTOREN | |
| Henning Bleyl | |
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