| # taz.de -- Die Natur hat Rechte: Wenn das Wattenmeer uns verklagt | |
| > Einzelne Ökosysteme sind in Ecuador, Neuseeland und Spanien als | |
| > juristische Person anerkannt. Für Deutschland liegen Optionen auf dem | |
| > Tisch. | |
| Bild: Sandstrand an der spanischen Küste | |
| Weltweit jubelten Klimaaktivist:innen nach dieser revolutionären | |
| Entscheidung: Im September 2022 wurde das Mar Menor, eine Salzwasserlagune | |
| an der Ostküste Spaniens, als erstes Ökosystem Europas zur Rechtsperson | |
| erklärt. Wie andere juristische Personen auch hat die Lagune nun direkten | |
| Zugang zur staatlichen Gerichtsbarkeit. Der [1][Erfolg in Spanien] zeigt, | |
| dass es höchste Zeit wird, dass wir uns auch in Deutschland mit dem | |
| Gedanken auseinandersetzen. Ist es wirklich eine Option für uns, der Natur | |
| Rechte zu übertragen? | |
| Ursprünglich kommt der Gedanke aus den USA. Dort setzte sich der | |
| Rechtsexperte Christopher Stone 1972 mit dem Walt-Disney Konzern | |
| auseinander. Das Unternehmen wollte ein neues Schneeresort in den Bergen | |
| Kaliforniens errichten. Stone fehlte vor Gericht vor allem die Perspektive | |
| der unmittelbar betroffenen Partei, also der Natur selbst. Deshalb schlug | |
| er vor, das Tal, in dem das Schneeresort gebaut werden sollte, zur | |
| Rechtsperson zu erklären. Nur so könne die Natur ihre Interessen vor | |
| Gericht einklagen. | |
| Fast vierzig Jahre später, im Jahr 2008, wurden [2][in Ecuador] die Rechte | |
| der Natur in die Verfassung aufgenommen. Ein weltweites Novum. Möglich | |
| machte den Schritt die Zusammenarbeit von Politiker:innen und | |
| indigenen Aktivist:innen. Die ecuadorianische Verfassungsreform wandte sich | |
| damals gegen ein kapitalistisches Wachstumsverständnis, also gegen die Idee | |
| grenzenlosen Wachstums. Teil der Reform war es, jedem ecuadorianischen | |
| Staatsbürger zu erlauben, die Interessen der Natur einzuklagen. | |
| Leider blieb die Möglichkeit zunächst weitgehend ungenutzt. Es gelang den | |
| ecuadorianischen Gerichten kaum, die Rechte der Natur gegenüber der | |
| wirtschaftlichen Entwicklung zu verteidigen. So wurden etwa die | |
| Bergbau-Aktivitäten des Condor Mirador-Projektes genehmigt, obwohl das | |
| Projekt erhebliche Schäden für lokale Ökosysteme und einheimische Tierarten | |
| bedeutete. Seit einigen Jahren häufen sich allerdings Gerichtsprozesse, in | |
| denen die Natur das Gerichtsverfahren gewinnt. | |
| ## Wie sieht es in Deutschland aus | |
| In den 2010er-Jahren erklärte Neuseeland einen Nationalpark, einen Fluss | |
| und einen Berg zu Rechtspersonen. Auch dieses Mal waren indigene | |
| Gemeinschaften in den politischen Prozessen federführend. Nach | |
| jahrzehntelangem Kampf gelang es Māori-Aktivist:innen, ihr eigenes | |
| Verständnis der Natur als Lebewesen und Vorfahre in geltendes Gesetz | |
| umzuwandeln. So steht nun im Gesetzestext, dass der Whanganui Fluss „ein | |
| unteilbares und lebendiges Ganzes“ bildet. | |
| Die Entscheidung löste eine Flut an ähnlichen Gerichtsverfahren und | |
| Gesetzesinitiativen überall auf der Welt aus. In Kolumbien bekam der Atrato | |
| Rechte, in Indien der Ganges und der Yamuna und in Kanada der Magpie. | |
| Doch wie sieht es mit der Umsetzung in Deutschland aus? Könnte Deutschland | |
| das Wattenmeer oder den Hambacher Forst zur Rechtsperson erklären, sodass | |
| Meer und Wald vor Gericht ziehen können? | |
| Für viele mag das zunächst abwegig klingen. Dabei lässt unser Gesetz schon | |
| längst nicht-menschliche Rechtspersonen zu. Wirtschaftsunternehmen und | |
| Stiftungen können vor Gericht ziehen. Sie werden dabei als Rechtspersonen | |
| anerkannt, das heißt, dass sie rechtlich eigenständig gegenüber ihren | |
| Besitzern und Shareholdern sind und dass sich eine Klage gegen das | |
| Unternehmen nicht auf die Eigentümer oder Anteilseigner erstreckt. Allein | |
| schon, damit die Natur mit Wirtschaftsunternehmen „auf Augenhöhe“ | |
| verhandeln kann, scheint es vernünftig, sie vor dem Gericht zu ermächtigen. | |
| Wie die Eigenrechte der Natur in Deutschland konkret aussehen könnten, hat | |
| Jens Kersten, Rechtsexperte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, | |
| erörtert. Er empfiehlt eine umfassende ökologische Grundgesetzreform, | |
| Umweltschutz soll zum obersten Staatsprinzip erhoben werden. So stünde | |
| Umweltschutz im Grundgesetz auf gleicher Höhe wie etwa das Demokratie- und | |
| Rechtsstaatsprinzip. | |
| ## Mehr als ein Gedankenspiel | |
| Ein weiterer Teil dieser Reform wäre es, der Natur Rechte zu verleihen, | |
| sodass sie ihre Interessen vor Gericht einklagen kann. Kersten schlägt | |
| zudem vor, dass die ökologische Transformation des Grundgesetzes durch ein | |
| eigenes Bundesministerium für Natur unterstützt wird. Außerdem soll der | |
| Bundestag eine:n gewählte:n Naturbeauftragte:n stellen. | |
| Der Vorschlag ist mehr als nur ein interessantes Gedankenspiel. Eine | |
| Grundgesetzreform würde die Natur als Ganzes schützen, wie in Ecuador, und | |
| nicht nur einzelne Ökosysteme, wie in Neuseeland. Sie könnte in einem | |
| einzigen Vorgang gesetzlich verabschiedet werden. | |
| Es gäbe aber auch Hindernisse. Etwa erfordern Grundgesetzreformen eine | |
| Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Und das Thema bleibt | |
| abstrakt: Bürger:innen identifizieren sich mit einzelnen Flüssen, Bergen | |
| und Wäldern, aber nicht unbedingt mit dem Begriff der Natur als Ganzes. | |
| Einen vergleichbaren Vorschlag gibt es bereits auf Landesebene. [3][Die | |
| bayerische Initiative] „Rechte der Natur – Das Volksbegehren!“ möchte | |
| genügend Unterschriften sammeln, um durch einen Volksentscheid die Rechte | |
| der Natur in der bayerischen Verfassung zu verankern. Anders als bei einer | |
| Grundgesetzreform ist bei einem Volksbegehren die Bevölkerung selbst der | |
| Initiator. | |
| Die Alternative dazu ist, einzelne Ökosysteme zu Rechtspersonen zu | |
| erklären. Der Whanganui-Fluss in Neuseeland oder die Lagune Mar Menor in | |
| Spanien sind Beispiele hierfür. Die Gerichte könnten den im Grundgesetz | |
| verankerten Begriff der Rechtsperson breiter auslegen, sodass auch | |
| Ökosysteme als Rechtspersönlichkeiten in Frage kämen. | |
| Dieses Modell hätte zahlreiche Vorteile. Ökosysteme wie der Hambacher Forst | |
| und das Wattenmeer unterscheiden sich voneinander – Die Gesundheit eines | |
| Waldes bemisst sich anders als die Gesundheit eines Küstenstreifens. Wenn | |
| einzelne Ökosysteme geschützt werden, könnte die Gesetzgebung auf das | |
| entsprechende Ökosystem angepasst werden. | |
| Außerdem bekämen die Ökosysteme permanente gesetzliche Repräsentant:innen. | |
| Für das Wattenmeer könnte ein Komitee aus Umweltorganisationen und | |
| Anwohner:innen die Repräsentation übernehmen. So würden sich mehr | |
| Bürger:innen mit dem Wattenmeer identifizieren. Wer möchte schon eine | |
| bis zur Unkenntlichkeit verschmutzte Küste? | |
| Auch wäre es nicht mehr nötig, Gerichtsprozesse mühsam jedes Mal aufs Neue | |
| zu initiieren. Tatsächlich hätten Wirtschaftsunternehmen einen starken | |
| Anreiz mit den Repräsentant:innen in Kontakt zu treten, bevor sie an | |
| die Projektplanung gehen, da sie ansonsten Gerichtsprozesse befürchten | |
| müssten. So könnten die Repräsentant:innen entscheidenden Einfluss auf | |
| die Umweltverträglichkeit eines Projektes nehmen. | |
| Die Rechte der Natur etablieren sich in Europa als Option für effektiven | |
| Naturschutz. Kerstens Grundgesetzreform, das bayrische Volksbegehren, oder | |
| die Idee, einzelnen Ökosystemen Rechtspersönlichkeiten zu geben, sind | |
| konkrete Vorschläge, wie das Konzept eingeführt werden könnte. Die Rechte | |
| der Natur können den Planeten nicht im Alleingang retten. Aber sie machen | |
| die Umwelt juristisch wehrhafter. Es wird höchste Zeit, dass sich | |
| Deutschland mit dem Thema auseinandersetzt! | |
| 24 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Matthias Kramm | |
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