# taz.de -- Internationale Klimapolitik: Menschenrechte und Natur | |
> Klimaschutz ist Voraussetzung für mehr Gleichberechtigung. Er birgt aber | |
> auch die Gefahr, bestehende Armut zu vergrößern. | |
Bild: Klimaschutz ist eine grund- und menschenrechtliche Verpflichtung des Staa… | |
Das Bundesverfassungsgericht hat es im Frühjahr 2021 festgehalten: | |
[1][Klimaschutz ist eine grund- und menschenrechtliche Verpflichtung des | |
Staates]. Weltweit hatten zuvor schon oberste Gerichtshöfe, beispielsweise | |
in Pakistan, Kolumbien oder den Niederlanden, ähnlich entschieden. Dieses | |
Klimaurteil ist ein wichtiger – längst überfälliger Schritt. Grund- und | |
Menschenrechte haben in der klimapolitischen Debatte viel zu lange keine | |
Rolle gespielt. | |
Das Gericht war bereit, traditionelle Konzepte des Verfassungsrechts bis zu | |
einem gewissen Grad den Herausforderungen der Klimakrise entsprechend | |
anzuwenden und die Grundrechte in einer intertemporalen Dimension zu | |
denken. Die Klimapolitik der Gegenwart muss nach Auffassung der Karlsruher | |
Richter*innen die Grundrechte zukünftiger Generationen berücksichtigen | |
und bereits heute ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen ergreifen, um die | |
Freiheitsrechte der Menschen morgen zu schützen. | |
Einigen Autor*innen zufolge eröffnet das Urteil sogar eine neue | |
Perspektive auf die Freiheitsrechte: Es erlaube, die Rechte der wenigen | |
zugunsten der vielen zu beschränken und beispielweise den persönlichen | |
Konsum heutiger Generationen zugunsten der Nutzung von Gemeingütern in der | |
Zukunft einzuschränken. | |
Aber hier können wir nicht stehen bleiben. Wenn die Transformation unserer | |
Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems hin zu echter Nachhaltigkeit | |
und Klimaneutralität gelingen soll, dann braucht die gesamte Klima- und | |
Wirtschaftspolitik einen Menschenrechtsansatz. Dabei kann es nicht nur um | |
Freiheitsrechte gehen. Vielmehr müssen insbesondere auch die | |
wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte einbezogen werden, und | |
Menschenrechte müssen im Zusammenspiel mit den Rechten der Natur begriffen | |
werden. | |
Es liegt eigentlich auf der Hand: Der Mensch ist Teil der Ökosysteme, und | |
die Realisierung der Menschenrechte – wie beispielsweise das Recht auf | |
Wasser, Nahrung, Gesundheit und angemessenes Wohnen – hängt wesentlich von | |
einer intakten Umwelt ab. Diese Interdependenz bedeutet, dass der Genuss | |
der Menschenrechte von der Qualität der Ökosysteme abhängt, aber auch | |
umgekehrt die Ökosysteme davon beeinflusst werden, unter welchen | |
menschenrechtlichen Voraussetzungen Menschen leben. | |
## Ausbeutung von Rohstoffen | |
Ein umfassender menschenrechtlicher Ansatz muss aber auch die historischen | |
Ursachen des Klimawandels berücksichtigen. Der Klimawandel resultiert aus | |
der Industrialisierung und dem mit ihr sprunghaft angestiegenen Verbrauch | |
fossiler Energie. Koloniale Expansion und damit einhergehende Verbrechen | |
und Zerstörungen von Lebensräumen waren auch von der Erschließung neuer | |
Rohstoffquellen motiviert. | |
Diese Dynamik setzte sich bekanntlich auch nach der Unabhängigkeit | |
ehemaliger Kolonien fort: Viele Länder des globalen Südens sind bis heute | |
wichtige Rohstofflieferanten für den globalen Markt. Die Geschichte des | |
Klimawandels ist also auch eine Geschichte des extraktiven Kapitalismus, | |
und beides geht seit jeher mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher. | |
Die massive und dauerhafte Verschmutzung des Nigerdeltas durch die | |
[2][Ölförderung von Konzernen wie Shell] verletzt bekanntermaßen das Recht | |
auf sauberes Trinkwasser und das Recht auf angemessene Nahrung der | |
örtlichen Bevölkerung. Hinzu kommt eine weitere typische Dynamik: Lokale | |
Aktivisten, die sich wie Ken Saro-Wiwa in Nigeria hiergegen zur Wehr | |
setzen, werden verfolgt, kriminalisiert oder gar extralegal hingerichtet. | |
Eben weil die extraktive Logik unseres Wirtschaftssystems so problematische | |
Auswirkungen auf die Menschenrechte haben kann, müssen bei der Frage, mit | |
welchen Mitteln die Erderhitzung abgewendet werden kann, menschenrechtliche | |
Maßstäbe angesetzt werden. Es gilt, die aktuelle Umwelt- und Klimakrise | |
auch als ein Symptom bestehender sozialer und wirtschaftlicher | |
Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen zu verstehen. | |
Umgekehrt sind die Bemühungen um Klimaschutz letztlich eine notwendige | |
Voraussetzung für die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit wie für die | |
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte. Die Klimakrise | |
wird bestehende soziale Ungleichheit verschärfen. Dieser Umstand wird in | |
der hiesigen Diskussion noch immer deutlich zu wenig beachtet. Wir sitzen | |
eben nicht alle in einem Boot. Manche sitzen auf einer Luxusyacht, während | |
andere sich auf Holzplanken über Wasser halten. | |
## Drohende Klima-Apartheid | |
Laut dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut, Philip | |
Alston, droht ein Zustand der „Klima-Apartheid“, wie Alston es nennt: Die | |
ohnehin reichen Menschen, die bisher am meisten vom fossilen | |
Turbokapitalismus profitert haben, werden sich mit technischem Know-how so | |
gut wie möglich absichern und trotz dramatischer Umweltschäden ein halbwegs | |
komfortables Leben organisieren und finanzieren können. | |
Die Armen hingegen müssen sehen, wo sie bleiben. Heute schon leiden arme | |
und marginalisierte Gruppen – sowohl innerhalb eines Landes als auch im | |
globalen Vergleich – wesentlich stärker an den Folgen des Klimawandels als | |
reiche Menschen. [3][Diejenigen, die am wenigsten zum drohenden | |
Klimakollaps beigetragen haben, müssen schon jetzt am meisten darunter | |
leiden.] | |
Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte sind von | |
entscheidender Bedeutung für die Verteilung der Lasten der Klimakrise und | |
für die Gestaltung von Klimaschutzmaßnahmen: Ein menschenrechtsbasierter | |
Ansatz wird immer fragen, wen und wie bestimmte Klimaschutzmaßnahmen | |
betreffen. | |
Soziale und wirtschaftliche Rechte oder die Rechte indigener Gruppen halten | |
als kollektive Rechte Staaten dazu an, die vulnerablen Gruppen einer | |
Gesellschaft zu erkennen, diese als Rechtsinhaber*innen zu verstehen, | |
sie stärker zu schützen und die Lasten des Klimaschutzes eher sozial und | |
ökonomisch starken Bevölkerungsgruppen aufzubürden. | |
Dass gerade in Lateinamerika die grüne Energiewende in Europa und | |
Nordamerika zu Recht kritisch diskutiert wird, geht hierzulande oft unter. | |
Dabei werden jene [4][Rohstoffe, die für die „grüne“ Energie] hierzulande | |
notwendig sind, in Lateinamerika derzeit mit den gleichen negativen | |
menschenrechtlichen Konsequenzen und der gleichen Zerstörung natürlicher | |
Lebensgrundlagen abgebaut wie zuvor fossile Rohstoffe. | |
Entsprechend befürchten viele Lateinamerikaner*innen, dass sie weiterhin | |
die erheblichen Umweltbelastungen des Rohstoffabbaus tragen müssen, es also | |
für sie keine Transition hin zu „sauberen“ Energiequellen geben wird. Immer | |
mehr Stimmen weisen darauf hin, dass Klimaschutzmaßnahmen schwere | |
Menschenrechtsverletzungen genau wie im fossilen Wirtschaftsmodell mit sich | |
ziehen können. So werden zurzeit beispielsweise Wälder aufgeforstet, um CO2 | |
zu binden. | |
## Golfplätze bleiben verschont | |
Dafür müssen aber nicht etwa Golfplätze oder Luxus-Wohngebiete weichen, | |
sondern indigene und ländliche Gemeinschaften verlieren ihr Land und ihre | |
Existenzgrundlage. Windparks werden – etwa in Mexiko – auf dem Land | |
indigener Menschen gebaut, ohne deren Verfahrensrechte zu respektieren, | |
geschweige denn die Betroffenen an der Gewinnung grüner Energie zu | |
beteiligen. | |
Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte bieten hier | |
Ansätze, die Perspektive und die Forderungen jener Menschen, die besonders | |
stark von den Folgen des Klimawandels betroffen sind und zugleich die | |
Konsequenzen der Klimaschutzmaßnahmen mittragen müssen, in die Gestaltung | |
von Klimaanpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen einzubeziehen. | |
Die Menschenrechte bieten Maßstäbe für inkludierende und demokratische | |
Aushandlungsprozesse, die im Rahmen der Energiewende geführt werden müssen. | |
Ein glaubhafter menschenrechtlicher Ansatz muss zudem die mächtigen Akteure | |
in die Verantwortung nehmen. Gerade bei der Frage eines wirklich gerechten | |
Ausgleichs der Schäden des Klimawandels und der Kosten von | |
Klimaanpassungsmaßnahmen muss die historische, (post)koloniale | |
Verantwortung westlicher Staaten, aber insbesondere auch der Konzerne in | |
den Blick genommen werden. | |
Doch auch eine Fokussierung auf soziale und wirtschaftliche Menschenrechte | |
allein reicht nicht aus. Um die notwendigen tiefgreifenden Veränderungen | |
auf dem Weg in eine klimaneutrale Welt fair gestalten zu können, gilt es, | |
auch die Rechte der Natur ins Auge zu fassen. Dazu muss die | |
wissenschaftlich belegte Tatsache, dass Mensch und Natur auf das Engste | |
miteinander verwoben sind und die Wahrung der Menschenrechte in hohem Maße | |
von einer intakten Natur abhängt, in die Dogmatik der Menschenrechte | |
aufgenommen werden. | |
Auf diesem Feld sind außereuropäische Gerichte Vorreiter: Ob in Indien, | |
Neuseeland, Guatemala, Ecuador oder Kolumbien – immer mehr Gerichte | |
erkennen inzwischen eine Rechtspersönlichkeit der Natur an. Insbesondere | |
der kolumbianische Oberste Gerichtshof hat die Interdependenz zwischen | |
Mensch und Natur betont: Es sind die am Ufer des Atrato lebenden indigenen | |
Gemeinschaften, die die Rechte des Flusses geltend machen und bewahren. | |
Die Rechte der Natur sollen also gerade nicht gegen die Rechte der von ihr | |
abhängigen Menschen durchgesetzt werden, wie es bei manchen | |
Naturschutzprojekten den Anschein haben kann. Mittlerweile hat das auch der | |
UN-Menschenrechtsrat anerkannt und im Oktober 2021 [5][eine Resolution] | |
verabschiedet, mit der er das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt | |
anerkennt und einen Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Klima | |
ernannt hat. | |
Fest steht: Menschenrechte sind für eine gerechte Umsetzung des | |
Klimaschutzes von zentraler Bedeutung. Damit sich diese wichtige Erkenntnis | |
auch hierzulande durchsetzt, sind wir alle aufgerufen. | |
15 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/0… | |
[2] /Oelkatastrophe-vor-Nigeria/!5104638 | |
[3] /Kolonialismus-und-Klimakrise/!5638661 | |
[4] /Lithiumgewinnung-in-Argentinien/!5821885 | |
[5] https://www.un.org/Depts/german/menschenrechte/a-hrc-res-48-13.pdf | |
## AUTOREN | |
Miriam Saage-Maaß | |
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