# taz.de -- Flüsse in bayerischer Landesverfassung: Ach, Loisach! | |
> Ein Volksbegehren will Flussrechte in der bayerischen Verfassung | |
> verankern. Die Loisach soll als Präzedenzfall dienen. Eine | |
> Erkundungsfahrt. | |
Bild: Die Loisach beim Kochelsee, Bayern | |
Mit sanftem Nachdruck quillt es aus dem Hang heraus, ein Tümpel hier, ein | |
Rinnsal da, und so füllt sich ein langgestreckter Weiher, waldumsäumt und | |
schilfbestanden: die Loisachquellen. Forellen kreuzen über dem sandigen | |
Grund, darüber Libellentanz, Schmetterlingstaumel, Käfergesums. Am | |
östlichen Ende tritt ein Bach aus. Doch schon nach wenigen Schritten | |
versperrt ihm eine Doppelstaustufe den Weg, und hinter der nächsten Biegung | |
folgt eine ausgewachsene Talsperre. Wer setzt der Loisach schon in zartem | |
Alter derart zu? Die Biber sind’s. Mit armdicken Ästen, Laub und Matsch | |
verbarrikadieren diese gewieften Öko-Ingenieure den Bach und fluten den | |
Wald. Das nächste Dorf heißt denn auch Biberwier. | |
Wenn die Loisach dort hinaus ins Ehrwalder Becken tritt, ragt die Zugspitze | |
vor ihr auf. Hier auf Tiroler Gebiet präsentiert sie sich von ihrer | |
Schokoladenseite, während sie Bayern nur die kalte Schulter zeigt. Mag sie | |
mit ihren 2.962 Metern auch Deutschlands Nonplusultra bilden, in Österreich | |
wird sie von mehr als siebenhundert anderen Gipfeln überragt. Sie kann froh | |
sein, dass sie überhaupt einen Namen bekommen hat. Den Grund des Talkessels | |
füllt ein verlandeter See, das erste von vielen [1][Moorgebieten], das die | |
Loisach auf ihrem gut hundert Kilometer langen Weg speist. Hier stockt sie | |
mehr, als dass sie vorwärts flösse, zusätzlich entschleunigt durch weitere | |
Bollwerke der Biber, dieser schlammbraunen Nixen, die selbst am | |
Fußballplatz noch ihrer Bauwut frönen. | |
Noch ist sie ein einfacher Bach, kalt und klar und leise plätschernd. Noch | |
ahnt die Loisach nicht, dass sie drüben in Bayern zum Politikum werden | |
wird, dass ihr dort, stellvertretend für alle Wasserläufe, eine eigene | |
Rechtspersönlichkeit zugesprochen werden soll, und dass sie im Begriff | |
steht, einem exklusiven Klub beizutreten, auf Augenhöhe mit dem | |
neuseeländischen Whanganui, dem indischen Ganges oder dem kolumbianischen | |
Atrato. | |
Moore sind nicht nur Wasser-, sondern auch Zeitspeicher, und so kommen hier | |
entlang der alten Route über den Fernpass immer wieder stumme Zeugen | |
versunkener Epochen zum Vorschein. Nach den römischen Alpenfeldzügen wurde | |
die Via Claudia Augusta zu einer der wichtigsten Heer- und Handelsstraßen | |
des Imperiums ausgebaut. Sie führte vom Po bis an die Donau, und die Reste | |
eines Teilstückes kann man hier heute noch bestaunen: den Prügelweg, einen | |
Damm aus tausenden von Knüppeln, die Direttissima durchs Moos. Besser | |
hätten ihn die Biber auch nicht bauen können. | |
Früh schon wurde das Außerfern, also von Tirol aus gesehen das Land | |
jenseits des Fernpasses, auch selbst zum Ziel – der Fremdenverkehr begann. | |
Das Hotel Mohr in Lermoos etwa blickt auf eine über zweihundertjährige | |
Geschichte zurück. Während Tina Mantl-Künstner die Anlage mittlerweile zum | |
schicken „life resort“ umgestaltet hat – mondän, amerikanisch, spektakul… | |
–, hütet ihre Mutter Brigitte im hauseigenen Museum „lauter schöne Dinge | |
aus einer anderen Welt“, von der nostalgischen Espressomaschine bis zum | |
Grammophon. | |
## Das Geschiebe des Wassers | |
Hinab in Richtung Garmisch rauschend, sucht die Loisach einen Ausweg aus | |
dem alpinen Labyrinth. Zahlreiche Wasserläufe eilen von allen Seiten | |
herbei, einer stürzt in einer schäumenden Kaskade sechzig Meter tief herab. | |
Wanderer und Radfahrer, die nichtsahnend daran vorbeikommen, bleiben wie | |
angewurzelt stehen – einen solch erhabenen Anblick würde man eher im | |
Yosemite-Park vermuten. | |
Als Leiter der Wildbach- und Lawinenverbauung im Bezirk Reutte ist | |
Christian Ihrenberger für diese Zubringer mit zuständig. „Meine Bäche | |
nähren alle die Loisach“, erklärt er mit glucksender Stimme, ganz wie ein | |
Lehrer, der befriedigt feststellt, dass seine Schützlinge es zu etwas | |
gebracht haben. Auch wenn die Arbeit seines Teams primär dem Schutz von | |
Siedlungsraum dient, so werden ökologische Maßnahmen doch immer wichtiger. | |
Wenn er auf Kongressen vom Rückbau der Sperranlagen drüben am Lech | |
berichtet, so hängen die Zuhörer an seinen Lippen, denn bisher hat man | |
damit in Europa kaum Erfahrung. | |
Nach schweren [2][Hochwassern] waren diese Barrikaden vor gut hundert | |
Jahren errichtet worden, um das Geschiebe zurückzuhalten und die Sohle | |
einzutiefen. Nun werden sie nach und nach abgesenkt, so dass der Lech | |
wieder mehr Schotter und Steine mitführen kann. Doch wozu braucht so ein | |
Fluss das Geschiebe? „Zum Bremsen. Sonst wär das Wasser viel zu schnell.“ | |
So entstehen vielfältige Lebensräume, ruhige Laichgewässer etwa, so | |
reguliert er seinen Energiehaushalt: „Das Geschiebe ist das Brot des | |
Baches.“ | |
In Garmisch ist die Loisach dann zum ersten Mal befestigt und begradigt | |
worden, hier speist sie auch das erste Kraftwerk. Während der Abschnitt bis | |
Eschenlohe zuletzt mehrfach mit Hochwassern zu kämpfen hatte, säumen danach | |
großflächige Moore ihren Lauf. Sie wirken wie Schwämme und saugen noch die | |
stärksten Fluten stoisch auf. | |
## Der Loisach eine Stimme geben | |
Das Ramsachkircherl am Nordrand des Murnauer Mooses bietet einen Logenplatz | |
im Naturtheater des Alpenvorlands. Das Moor bildet die Bühne, die Vorberge | |
die Kulissen. Claus Biegert, Initiator der [3][Loisach-Kampagne], erzählt, | |
was ihn mit dieser Landschaft verbindet. „Ich hatte das Glück, Ingeborg | |
Haeckel als Biologielehrerin zu haben.“ Eine Enkelin des großen | |
Naturforschers Ernst Haeckel, der auch den Begriff der Ökologie geprägt | |
hat. Sie unternahm mit ihren Schülern nicht nur Exkursionen durchs Moos, | |
sie kämpfte auch zu einer Zeit für dessen Erhalt, als man es allenthalben | |
trockenlegen oder zweckentfremden wollte. „Nach dem Unterricht fuhr sie oft | |
nach München ins Ministerium. Sie war eine Aktivistin, bevor das Wort | |
erfunden wurde.“ | |
Als Filmemacher, Radiojournalist und Autor hat Biegert viel über indigene | |
Völker gearbeitet, insbesondere in Nordamerika. Irgendwann übertrug er | |
deren ganzheitliche Weltanschauung auf seine Heimat: Besaß nicht auch das | |
Oberland schützenswerte Naturgüter? Waren nicht auch die bajuwarischen | |
Indigenen aufs Engste damit verbunden? So entstand die Initiative „Der | |
Loisach eine Stimme geben“, die ihrerseits einmündete in ein gleichzeitig | |
anlaufendes Volksbegehren für „Rechte der Natur“, das „die natürliche U… | |
und Mitwelt als juristische Person“ in die Bayerische Verfassung | |
einschreiben lassen will. Als Vorbilder dienen das Volksbegehren „Rettet | |
die Bienen“ sowie ähnliche Bestrebungen für Eigenrechte der Natur in | |
anderen Ländern. So sollen die Interessen von Landwirtschaft und Industrie | |
eingeschränkt, die der Umwelt gestärkt werden. Als dynamische Systeme | |
eignen Flüsse sich dafür besser als Berge oder Seen. | |
Freilich ergeben erst alle Komponenten zusammen jene beglückende Ganzheit, | |
die wir Landschaft nennen. Die des Murnauer Mooses hat sogar | |
Kunstgeschichte geschrieben. Um die Jahrhundertwende verhalfen [4][Wassily | |
Kandinsky, Franz Marc] und Gabriele Münter der Poesie zum Sieg über die | |
bloße Wirklichkeit. Wobei die Sumpfgräser hier tatsächlich rot und die | |
Berge blau erscheinen können, umglänzt von einem magischen Schimmer. Liegt | |
es am Föhn? Am Ozon? An den Moorgasen? An den vielen Wasserflächen? Über | |
der Welt schwebt ein irisierendes Licht, das paradoxe Empfindungen von | |
Fernweh und Heimat, Weite und Geborgenheit hervorruft. | |
Marcs Tierstudien gerieten zu Stillleben im Freien. Pferde malte er | |
obsessiv. Sie waren im Murnauer Land allgegenwärtig, auch weil das spätere | |
Staatsgestüt Schwaiganger im weiten Umkreis Pferde stehen hatte. Bis heute | |
prägen sie das Landschaftsbild. Hier rauscht ein Zweispänner durch die | |
Felder, dort schleift ein Kaltblüter einen Fichtenstamm aus dem Wald – | |
nostalgische Szenen, wie man sie sonst eher bei den Amischen erwarten | |
würde. Doch hier sind sie Teil der Ausbildung für Mensch und Tier, und seit | |
das Gestüt ökologisch bewirtschaftet wird, hat naturschonende Arbeit weiter | |
an Wert gewonnen. | |
## Ein weiß-blaues Ökotopia | |
Mit seinen 860 Hektar dürfte es einer der größten Bio-Betriebe in Bayern | |
sein. „Wir als Staatsgestüt müssen vormachen, dass es auch mit solchen | |
Flächen geht“, erklärt Cornelia Back, die Leiterin. „Indem wir jungen | |
Leuten diese Grundlagen mitgeben, investieren wir in zukunftsträchtige | |
Landwirtschaft.“ Manche Parzellen liegen direkt an der Loisach, andere an | |
ihren Zubringern oder im Moos. „Dank ihr haben wir hier noch keine Probleme | |
mit der Trockenheit. Sie bettet sich so schön ins Gelände ein, dass sie gar | |
nicht wegzudenken ist.“ | |
Wächst da an den Gestaden der Loisach ein weiß-blaues Ökotopia heran? Ist | |
Bayern unterwegs in eine bessere Welt? In der die Flüsse eine Stimme | |
bekommen und dazu noch Geschiebe nach Herzenslust, in der Nachhaltigkeit | |
regiert und „Habgier und Hetze“ in die Schranken gewiesen werden? Ein | |
weiteres Glied in dieser Kette ist Nantesbuch, ein gut 300 Hektar großes | |
Landgut unweit von Bad Heilbrunn. Seit die Stiftung Kunst und Natur es vor | |
zehn Jahren übernommen hat, werden auch hier Renaturierung und Ökolandbau | |
großgeschrieben. Dazu widmet sich ein umfangreiches Programm den Künsten | |
und der Umweltbildung. | |
Anhand napoleonischer Karten wurde kürzlich der alte Lauf des Haselbachs | |
wiederhergestellt. Dadurch fließt er nun langsamer, die Biodiversität hat | |
sich erhöht, Überschwemmungsflächen sind hinzugekommen. Parallel werden | |
Moore wieder vernässt. „Je mehr davon in der Region renaturiert werden, | |
desto weniger tritt die Loisach über die Ufer“, meint Sinan von | |
Stietencron, Philosoph und Kurator des Programmbereiches Natur. Auch hier | |
gehen handfeste Erdarbeiten mit utopischen Idealen Hand in Hand. „Wir sind | |
ein Ort, der immer wieder versucht, darauf hinzuweisen, dass es doch schön | |
wäre, wenn es schön wäre.“ | |
Bei Führungen und Veranstaltungen baut Stietencron stets auch einen der | |
kostbarsten Rohstoffe unserer Zeit ein: Stille. Zuletzt bei der | |
spätsommerlichen Nacht der Perseiden, diesem Gala-Feuerwerk der | |
Sternschnuppen, zu dem sich alljährlich eine bunte Pilgerschar auf der | |
weltabgeschiedenen Kuppe einfindet und in Liegestühlen den Wundern der | |
Nacht überlässt. Mit solchen Veranstaltungen wirkt Nantesbuch als ein | |
geistiges Kraftwerk, sind doch „auch Natur- und Kunsterlebnisse eine Form | |
der Energiegewinnung“. | |
Hinter Wolfratshausen mündet die Loisach dann in die Isar; bis ins Schwarze | |
Meer haben ihre Wasser nun noch 2.500 Kilometer vor sich. Erklimmt man eine | |
verschwiegene Stelle des Hochufers, so reicht der Blick bis tief hinein | |
nach Montana. Oder vielleicht auch Alberta. Jedenfalls würde niemand diese | |
Urlandschaft in Mitteleuropa verorten, ein Panorama, das seit Ende der | |
Eiszeit unverändert scheint. Von Südosten her kriecht die Isar in weiten | |
Schleifen heran, tritschelt zwischen den Inseln und Kiesbänken der | |
Pupplinger Au herum. Die Loisach hingegen rauscht mit voller Wucht in sie | |
ein, blaugrün, mächtig, tatendurstig. Wälder erstrecken sich bis zum | |
Horizont, der Himmel erstrahlt in obligatorischem weiß-blau. Eine solch | |
archaische Szenerie wäre es wert, weitere zehntausend Jahre bewahrt zu | |
werden. | |
20 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Beduerfnis-nach-Naturerfahrungen/!5849296 | |
[2] /Plan-des-Umweltministeriums/!5841674 | |
[3] https://www.derstandard.de/story/2000125844411/der-kampf-der-natur-eine-eig… | |
[4] /Kunst-und-Landschaft/!5721935 | |
## AUTOREN | |
Stefan Schomann | |
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