# taz.de -- Fischsterben in der Oder: Auch Flüsse brauchen Liebe | |
> In der Oder sterben Fische, im Rhein fehlt Wasser: Höchste Zeit unser | |
> Verhältnis zu Flüssen zu überdenken, sonst werden sie sich weiter rächen. | |
Bild: Naturbelassene Idylle: Fluss San im Bieszczady-Gebirge | |
Anfang Juli war ich einige Tage in den Bieszczady, ein Gebirgszug im | |
Südosten Polens. Der San, den hierzulande nur wenige kennen, bildet dort | |
auf 50 Kilometern die Grenze zur Ukraine. Ein freier, wilder Fluss, der | |
nach 433 Kilometern unterhalb der alten Königsstadt Sandomierz in die | |
Weichsel mündet. Ich war vom San beeindruckt. Auf Facebook habe ich einige | |
Fotos gepostet, sie zeigen den Fluss in einer naturnahen Landschaft, an | |
manchen Stellen muss man ihn mit der Fähre überqueren, weil Brücken fehlen. | |
Der San ist ein Bild von einem Fluss – eines Flusses zumindest, wie ich ihn | |
liebe. | |
Kurz darauf fand ich auf Facebook einen Post. Da hieß es, Polen werde von | |
vielen deutschen Politikern vorgeworfen, ein Ökosünder zu sein, | |
insbesondere wenn es um den Ausbau und die Sanierung der Oder gehe. Eine | |
Art Doppelmoral sei das, beklagte sich der Autor und schrieb: „Ich glaube, | |
kein anderes Land in Europa hat so viele ausgebaute Flüsse wie | |
Deutschland.“ Vielleicht sollten die Deutschen etwas mehr vor der eigenen | |
Haustür kehren, schlug er vor. Damit etwa der Rhein in Zukunft wie die | |
Weichsel, der San oder andere polnische Flüsse aussehe. | |
Seit Juli ist mal mehr, meistens aber weniger Wasser den San hinunter | |
geflossen, und in der Oder [1][starben 100 Tonnen Fische]. Warum, weiß | |
immer noch keiner so ganz genau. Derweil fiel der Rhein bei Emmerich unter | |
den Pegel Null. Die indirekte Frage, die mein Facebook-Freund aufgeworfen | |
hat, scheint aktueller denn je: Welches Verhältnis haben wir zu unseren | |
Flüssen? | |
Ein gar nicht so schlechtes, könnte man meinen, schließlich wenden sich | |
viele Städte wieder ihren Flüssen zu. Vorbei die Zeit, in der diese nur als | |
Kloake, zur Stromgewinnung oder zur Kühlung von Atomkraftwerken dienten. | |
Stattdessen werden die Flussufer wiederentdeckt. Wird da nicht gerade an | |
einem neuen Kapitel an der aus biblischer Zeit stammenden Erzählung von | |
Mensch und Fluss geschrieben? | |
## Flussblick schafft Betongold | |
Schön wäre es. Doch nicht selten verbirgt sich hinter der Wiederentdeckung | |
nur ein neuer Trend. Gerade in den Städten sind Flüsse zu Standortfaktoren | |
geworden. In Hamburg ist die [2][Hafencity] nicht ohne die Elbe zu denken, | |
in Breslau sind am Oderufer neue, schicke Wohngebiete entstanden. | |
Flussblick schafft Betongold. Flüsse schaffen Mehrwert nicht nur für | |
Erholungssuchende, sondern auch für [3][Immobilienhaie]. | |
Auch ich muss mir da an die Nase fassen. Wenn ich in eine Stadt reise, | |
schaue ich als erstes, ob es vielleicht ein Hotel mit Flussblick gibt. Und | |
natürlich suche ich am Abend gerne eine Stelle am Fluss auf, wo ich mich | |
setzen und dem Wasser hinterherschauen kann. Ohne es zu wollen, bin ich | |
damit Teil einer Stadtentwicklungspolitik, in der auch an jenen | |
Uferabschnitten, die die Stadt den Investoren abringt, nichts sich selbst | |
überlassen wird. | |
Aufwändig gestaltete Parkanlagen wie im Berliner Regierungsviertel oder | |
inszenierte Landmarks wie die Hubbrücke über die Elbe in Magdeburg, sind | |
ein Hinweis darauf, dass Flüsse eine Funktion haben: Sie sollen uns dienen | |
oder im besten Fall das Leben leichter machen. Der Domfelsen in der Elbe, | |
ein Hungerstein, also eine Wasserstandmarkierung unterhalb der Hubbrücke, | |
ist dagegen ein Hindernis. Immer wieder wird davon gesprochen, ihn | |
wegzusprengen. | |
Denn im Zweifel hat die [4][Binnenschifffahrt] Vorfahrt. Um die Flüsse zu | |
Wasserstraßen zu machen, wurden in Deutschland der Rhein, der Neckar oder | |
der Main staureguliert. Aus den meisten deutschen Flüssen, da hat mein | |
Facebook-Freund recht, wurden Kanäle. In Polen dagegen gibt es neben dem | |
San noch viele wilde Flüsse. | |
## Der Fluss muss dem Menschen dienen | |
Wie wenig wir über uns und die Flüsse nachdenken, zeigt sich auch in der | |
Begrifflichkeit. Wie nennen wir dieses Verhältnis, wenn der Fluss uns | |
dienen soll? Ist es instrumentell? Eines zwischen Herr und Knecht? Oder gar | |
ein patriarchales Gewaltverhältnis, dann etwa, wenn der Fluss mit aller | |
Macht in ein anderes Bett gezwängt werden soll? | |
Der widerspenstigen Flüsse Zähmung ist jedenfalls Legende. Schon im 12. | |
Jahrhundert haben die nach Osten ziehenden Germanen die Elbe eingedeicht | |
und die Elbslawen, die bis dahin im Einklang mit dem Fluss lebten, | |
vertrieben. Wo der Fluss sich nicht recht zähmen ließ, sprach man wie in | |
Lenzen ganz unverblümt von einem „Bösen Ort“. | |
Und dann ist da noch die Trockenlegung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert. | |
Um die von slawischen Fischern besiedelte Flussniederung fruchtbar zu | |
machen, ließ Preußens König Friedrich II. den Lauf der Oder um mehr als 20 | |
Kilometer verkürzen. Auf dem fruchtbaren Ackerland, das er gewann, siedelte | |
er Kolonisten aus ganz Europa an. Noch immer gilt diese Urbarmachung als | |
Großtat der Moderne. Nur wenige, wie der britische Historiker [5][David | |
Blackbourn], sehen darin auch einen Sündenfall – als Beispiel der Eroberung | |
der Natur durch den Menschen. | |
Womöglich ist der nationale Hinweis, den mein Facebook-Freund in seinem | |
Post untergebracht hat, gar nicht so verkehrt. Die Indienststellung der | |
Flüsse unter die Bedürfnisse der Menschen erfolgte in Europa tatsächlich in | |
West-Ost-Richtung. | |
Doch die Trockenlegung des Oderbruchs war nicht nur eine Eroberung der | |
Natur, wie es Blackbourn nennt, sondern auch eine Form der Kolonisation. Im | |
eigentlichen Sinne des Wortes zunächst, weil die neuen Siedler in | |
Kolonistendörfern unterkamen. | |
Eine Kolonisierung war die Trockenlegung aber auch im Verhältnis zwischen | |
Mensch und Fluss selbst. Friedrich soll einmal davon gesprochen haben, mit | |
dem Oderbruch eine Landschaft nicht wie sonst im Krieg, sondern im Frieden | |
erobert zu haben. Diese Eroberungsmetapher lässt sich auch auf andere | |
Beispiele übertragen: den Bau von Staudämmen, die Zerstörung von Brücken in | |
Kriegen, die von meinem Facebook-Freund angesprochene Kanalisierung der | |
Flüsse in Deutschland. | |
Nur noch ein Drittel aller Flüsse weltweit, so lautete die Warnung von | |
Forscherinnen und Forschern 2019 in der [6][Zeitschrift Nature], fließen | |
ungehindert von der Quelle bis zur Mündung. Die anderen wurden aufgestaut | |
oder zurechtgebogen. 2,8 Millionen Staudämme und Staustufen gibt es | |
inzwischen weltweit. | |
Höchste Zeit also für eine Dekolonisierung. Oder, weniger politisch | |
formuliert: Hören wir auf, die Flüsse weiter zum Objekt zu machen, sie zu | |
bändigen und zu zähmen. Behandeln wir sie nicht wie Untertanen, sondern wie | |
Freunde und geliebte Menschen. Denn auch Flüsse brauchen Liebe. Unsere | |
Liebe. | |
Vielleicht gehört dazu auch, dass wir uns wieder etwas zurückziehen, die | |
Flüsse nicht immer neu entdecken müssen, sondern sie auch in Ruhe lassen. | |
Noch radikaler wäre es, da hat mein Facebook-Freund natürlich recht, sie | |
rückzubauen, aus den Kanälen wieder frei fließende Ströme zu machen, ganz | |
egal, was die Binnenschifffahrtslobby sagt. | |
Denn wie sehr wir uns vom Fluss abhängig gemacht haben, zeigt sich in | |
diesen Tagen mit aller Wucht: Niedrigpegel lassen – nicht nur am Rhein – | |
die Binnenschifffahrt zusammenbrechen. Kohle muss auf Züge verladen werden, | |
[7][in Frankreich stehen die Atomkraftwerke still], weil die Flüsse wegen | |
des niedrigen Wasserstands nicht mehr kühlen können. Höchste Zeit also, | |
umzudenken. Nicht nur in Sachen Energie und Sicherheit braucht Deutschland | |
eine Zeitenwende, sondern auch im [8][Umgang mit seinen Flüssen]. | |
Denn wenn wir das nicht tun, werden sie sich rächen. Mit | |
[9][Umweltkatastrophen und] Überschwemmungen, wie beim so genannten | |
Jahrhunderthochwasser an der Oder vor 25 Jahren. Dabei zeigen schon die | |
Hochwasser an der Elbe 2002, 2006 und 2013, dass diese | |
„Jahrhunderthochwasser“ in immer kürzeren Abständen auftreten. Auch der B… | |
neuer Deiche hat das nicht verhindert, werde ich dem Freund sagen, wenn wir | |
uns demnächst auf einen Kaffee treffen. | |
Und auch, dass es natürlich keine gute Idee ist, wenn die Regierung in | |
Warschau nun ausgerechet die noch immer größtenteils frei fließende Oder zu | |
einem weiteren Kanal machen möchte. Wenn Flüsse nur noch Kanäle sind, ist | |
die Hemmschwelle für skrupellose Unternehmer vielleicht niedriger, Gifte | |
einzuleiten. | |
Zum San werde ich wieder zurückkehren. Welche Rolle die Flüsse in Polen für | |
die Menschen spielen, habe ich gerade in einem [10][Buch über den Tourismus | |
der Dreißigerjahre] gelesen. Fast jeder Ort im Osten Polens, der damals bis | |
in die heutige Ukraine reichte, warb in Zeitungsannoncen mit dem | |
dazugehörenden Fluss und den Stränden, die an ihm liegen. | |
Vor allem aber ging aus den Interviews hervor, welches Verhältnis die | |
Menschen zu diesen Flüssen hatten: eines mit Liebe und Respekt. | |
21 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Fischsterben-in-der-Oder/!5871650 | |
[2] /Baustart-fuer-neuen-Hamburger-Stadtteil/!5781164 | |
[3] /Politik-muss-Immobilienmarkt-einhegen/!5844554 | |
[4] /Alternative-Transportwege/!5642718 | |
[5] https://www.penguinrandomhouse.de/Paperback/Die-Eroberung-der-Natur/David-B… | |
[6] https://www.nature.com/articles/s41586-019-1111-9 | |
[7] /Marode-Meiler-sorgen-fuer-hohe-Preise/!5863990 | |
[8] /Austrocknung-der-Fluesse/!5867391 | |
[9] /Hochwasser-in-Deutschland/!5787157 | |
[10] https://histmag.org/Marcin-Wilk-Pokoj-z-widokiem.-Lato-1939-recenzja-i-oce… | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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