| # taz.de -- Bedürfnis nach Naturerfahrungen: Ab in die Natur? | |
| > Kulturlandschaften wurden über Jahrhunderte von Menschen geprägt und | |
| > ziehen heute Naturliebhaber an. Über das Verhältnis von Mensch und | |
| > Landschaft. | |
| Bild: Die Lüneburger Heide ist schon lange Teil des deutschen Landschaftskanon… | |
| Über die Weiten der Hügel zu streifen liegt in der Natur des Menschen. | |
| Genau wie durch den Wald zu laufen, am Flussufer die Strömung zu | |
| betrachten, im Wasser unter schattigen Bäumen nach Forellen zu schauen. | |
| Nicht erst seit der Coronapandemie ist das so, sondern seit mindestens | |
| 315.000 Jahren. So alt sind Schädelknochen aus einer Höhle in Marokko, die | |
| dem Homo sapiens zugeordnet werden. | |
| Seitdem unsere Vorfahren über Gräser und durch Büsche streunten, seien | |
| Menschen genetisch programmiert, ein lebendiges, natürliches und damit | |
| lebenserhaltendes Umfeld zu suchen, schreibt der amerikanische Biologe und | |
| Ameisenforscher Edward O. Wilson in seinem Buch „The Biophilia Hypothesis“. | |
| Der moderne Mensch brauche Natur und Landschaft wie vor ewigen Zeiten, denn | |
| schließlich habe die Spezies die meiste Zeit ihrer Entwicklung in und mit | |
| der Natur verbracht. Zwei Millionen Jahre haben Menschen in den Savannen | |
| Afrikas gelebt, bevor sie sich vor 120.000 bis 135.000 Jahren von dort | |
| aufgemacht haben und die Erde als Jäger und Sammler bevölkerten. | |
| Vor 6.000 bis 7.000 Jahren ließen sich die Europäer nieder, sie | |
| domestizierten Tiere und Pflanzen, bauten Hütten und Zäune und entwickelten | |
| eine Lebensform, die sie schließlich vor 200 Jahren bewog, scharenweise vom | |
| Land in die Städte zu ziehen. Die Fähigkeit in einer Industriegesellschaft | |
| zu leben haben Menschen – geschichtlich betrachtet – also gerade erst | |
| entwickelt. Und nun fehlen ihnen die Natur und die Landschaft, wie | |
| Touristikexpert:innen in Deutschland von Berchtesgaden bis Usedom | |
| wissen. | |
| ## Bedürfnis nach Natur | |
| Sie erzählen vom steigenden Bedürfnis nach Naturerfahrungen, je mehr Zeit | |
| die Leute vor Monitoren am Schreibtisch verbringen. Die Menschen suchen | |
| nach besonderen Eindrücken und Landschaften. Was sie dabei finden, ist in | |
| Deutschland aber keine unveränderte Natur. Es sind Kulturlandschaften, von | |
| Menschen über Jahrhunderte geprägt. Mit ihnen verbinden sich neben | |
| Naturerlebnissen für viele Heimatgefühle, es sind Tourismusziele, sie haben | |
| aber auch eine wichtige Funktion bei der Bewahrung der [1][Biodiversität] | |
| und im Kampf gegen den Klimawandel. | |
| Mit wadenhohen, lila blühenden Heidesträuchern und dunkelgrünen | |
| Wacholderbüschen gehört die Lüneburger Heide zu den ikonischen Landschaften | |
| Deutschlands. So wie die Kreidefelsen auf Rügen. Oder die Blumenwiesen des | |
| Allgäus. Fotografiert, gemalt, in Heimatfilmen der 1950er Jahre wie „Grün | |
| ist die Heide“ verewigt und daher seit Generationen im Landschaftskanon der | |
| Deutschen verankert. | |
| „Der Fernblick, der beruhigt massiv“, hört Ulrich von dem Bruch von den | |
| Besuchern und Wanderinnen in der Lüneburger Heide oft. „Die Menschen fühlen | |
| sich geerdet und sagen, hier kriegen sie den Kopf frei.“ Von dem Bruch ist | |
| Geschäftsführer der Lüneburger Heide GmbH. Er war vorher beim Reisekonzern | |
| TUI und versteht etwas von Marketing. Regelmäßig lässt er die Besucher der | |
| Lüneburger Heide befragen und weiß, was die über 30 Millionen Tagesgäste im | |
| Jahr hier suchen. „Sehr viel Landschaft.“ | |
| Die meisten Besucher kommen aus den Großstädten Hamburg, Bremen, Hannover | |
| und den Orten dazwischen. Hinzu kommen ein paar Millionen aus Berlin und | |
| Nordrhein-Westfalen, die auch mal zwei, drei Nächte bleiben. 1,5 Milliarden | |
| Euro lassen sie für Übernachtungen, Essen, die Fahrt im Planwagen, ein Glas | |
| Heidehonig und Halligalli im Heidepark in der Region Lüneburger Heide. | |
| Vor 3.000 Jahren haben Viehherden der Bronzezeitbauern die heutige | |
| Lüneburger Heide kahl gefressen. Von Natur aus würden Rotbuchen und | |
| Hainsimsengräser die feuchtkalten Wälder der norddeutschen Tiefebene | |
| bilden. Wenn sich nicht vor rund 1.000 Jahren dauerhaft Menschen in der | |
| Gegend niedergelassen hätten, wären wohl auch wieder kathedralenartige | |
| Buchenwälder gewachsen. | |
| Doch Jahr für Jahr haben die Bauern des Mittelalters und der folgenden | |
| Jahrhunderte die obere Pflanzendecke abgeschabt, in den Stall gebracht und | |
| dann den Mist wieder auf den Sand gekarrt, um auf dem kargen Boden Roggen, | |
| später auch Kartoffeln anzubauen. Mit der Zeit haben die Menschen den Boden | |
| systematisch zerstört, und lila blühende Landschaften der Besenheide | |
| Calluna vulgaris sind entstanden. | |
| Damit das auch im 21. Jahrhundert so bleibt, ziehen Tausende Heidschnucken | |
| in vierzehn Herden durch die Nord- und die Südheide. Was die Schafe nicht | |
| fressen, stutzen, schneiden und brennen Arbeiter ab. Gras macht sich breit, | |
| Birken bereiten in der natürlichen Abfolge eigentlich den Boden für Buchen. | |
| Die Heide würde ohne die Landschaftspflege von Schaf und Mensch brusthoch | |
| zu einem knorzeligen Gestrüpp heranwachsen. Nur geschorene Heidesträucher | |
| blühen und verwandeln die Landschaft im Spätsommer in ein leuchtend lila | |
| Blütenmeer, das Millionen Besucher sehen wollen. | |
| Die Lüneburger Heide ist eine klassische Kulturlandschaft, was eigentlich | |
| eine Tautologie ist, ein weißer Schimmel, denn alles, was nicht Landschaft | |
| ist, ist Natur und Wildnis – also ein Ökosystem, in dem Tiere, Mikroben, | |
| Pflanzen, Pilze, Algen und all die anderen Lebensformen ohne den Menschen | |
| machen können, was sie wollen. In Deutschland ist das Gleichgewicht aus | |
| Natur und Landschaft, Kultur und Wildnis, industrieller Nutzung und Ökotop | |
| aber verrutscht. | |
| Die Deutschen leben mit ihrem Bodenverbrauch seit Jahrzehnten über ihre | |
| Verhältnisse. Sie planieren, asphaltieren, betonieren und bebauen täglich | |
| mehr als 50 Hektar. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche hat sich in den | |
| vergangenen 60 Jahren in Deutschland verdoppelt, [2][schreibt das | |
| Umweltbundesamt]. | |
| Endlose Maisäcker verwandeln die Landschaft in etwas Monotones, mit | |
| Glyphosat besprühte Felder veröden das natürliche Leben. Die Masse der | |
| Insekten ist in den vergangenen 30 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen. Die | |
| Mehrzahl der Frösche, Singvögel, Fledermäuse und Fische steht auf der Roten | |
| Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten. Nur noch 1 Prozent der Flüsse | |
| fließen natürlich, 1 Prozent der natürlichen Auen sind erhalten, lediglich | |
| 2,8 Prozent der Wälder in Deutschland gelten als natürlich, also nicht von | |
| Menschen gepflanzt und unbeeinflusst. | |
| Da natürliche Ufer, Seen, Wälder und andere Naturlebensräume hierzulande | |
| nur in Resten erhalten sind, haben Naturschützer die naturnahe Landschaft | |
| zur Natur erklärt. Aus der Lüneburger Heide wurde so 1921 eines der ersten | |
| Naturschutzgebiete Deutschlands. Bürokraten unter den Naturschützern | |
| ordneten Anfang der 1990er Jahre die verschiedenen Landschaften in | |
| Lebensraumtypen. So wurde aus der Lüneburger Heide der Lebensraumtyp | |
| „Trockene Sandheiden mit Calluna“, der in der Europäischen | |
| Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie geschützt ist. Aus Landschaft wurde also | |
| Natur. | |
| Die Aneignung der Natur hat eine neue Art der Natur hervorgebracht. Erst | |
| durch das menschliche Pflügen, Holzen, Mähen, Schürfen sind | |
| Landschaftselemente entstanden, die Insekten, Vögel oder auch bestimmte | |
| Pflanzenarten nutzen und besiedeln konnten. So wie die Blauflügelige | |
| Ödlandschrecke aus der Familie der Feldheuschrecken auf den kargen | |
| Sandböden der Heide einen ihrer letzten Lebensräume in Deutschland hat. | |
| Deswegen ist Landschaft eben auch Natur, so wie die savannenartige | |
| Landschaft des ehemaligen Tempelhofer Flughafens in Berlin, auf dem | |
| Feldlerchen eine seltene Brutgelegenheit finden. | |
| „Weite ist ein Trend“, sagt der Touristikmanager Ulrich von dem Bruch. Da | |
| der Homo sapiens die Weiten Afrikas quasi erst gestern verlassen hat, | |
| schätzen Menschen auch heute die offene, mit einigen Bäumen bestandene | |
| Landschaft am meisten. | |
| Das haben Experimente der amerikanischen Psychologen Rachel und Stephen | |
| Kaplan gezeigt. Sie haben einigen hundert Freiwilligen in den USA, | |
| Argentinien und Australien Bilder von natürlichen und künstlichen | |
| Landschaften präsentiert. Das Ergebnis: Die Menschen auf allen drei | |
| Kontinenten bevorzugten Landschaften, die „man als parkähnlich oder als | |
| Steppe oder Savanne bezeichnen kann“. Abgelehnt haben die meisten dicht | |
| bewachsenes Unterholz im Vordergrund der gezeigten Bilder. Die Leute | |
| bewerteten die Landschaften so, als würden sie sich selbst hindurchbewegen. | |
| Sie wollten sie deswegen verstehen, sich darin zurechtfinden und bei Gefahr | |
| schnell wieder zum Ausgangspunkt finden können. | |
| Andererseits mögen die Leute auch eine Natur, die die Kaplans als mystery, | |
| als Geheimnis, bezeichnen, also eine wilde und undurchsichtige Natur – | |
| jedenfalls dann, wenn sie über einen Pfad, einen Flusslauf entlang und über | |
| helle Lichtungen erkundet werden kann, um dann auf demselben Weg auch | |
| wieder sicher zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung gelangen zu können. | |
| Stephen und Rachel Kaplan deuteten das so, dass die bevorzugten | |
| Landschaften einen Teil der evolutionären Entwicklung des Menschen erklären | |
| können. Es sei möglich, dass die frühen Menschen, um ausreichend Nahrung | |
| und sichere Siedlungsorte zu finden, immer wieder neue Gebiete erkunden | |
| mussten, in denen sie nur dann sicher waren, wenn sie sich nicht zu weit | |
| von der ihnen bekannten Gegend fortbewegten – also im übersichtlichen und | |
| verständlichen Teil blieben. | |
| ## Menschen siedeln auf Hügeln | |
| Demnach sind die Ideallandschaften in unserem Unbewussten so etwas wie die | |
| archetypischen Erfahrungen der Menschheit, sind wir doch in diesen | |
| Landschaften evolutionär vorangekommen. | |
| Und noch etwas haben Evolutionsbiologen und Paläopsychologinnen | |
| herausgefunden: Menschen siedeln im kollektiven Unbewussten am liebsten auf | |
| einem Hügel, von dem sie auf einen See oder einen Fluss in weitem Grasland | |
| schauen. Kinder und Erwachsene jeden Alters, ob in den USA oder in | |
| Deutschland, zeichnen und erzählen von derselben Landschaft, wenn sie ihre | |
| Vorstellung von Natur beschreiben: eine Wiese, durch die sich ein kleiner | |
| Fluss schlängelt, sie selbst stehen erhöht und sehen hinter der Wiese in | |
| erreichbarer Nähe einen Wald. Manchmal sehen sie vor ihrem geistigen Auge | |
| auch einen See inmitten der leicht hügeligen Landschaft und Gras fressende | |
| Tiere, die über eine Wiese ziehen. | |
| Im Unterallgäu bleiben die meisten Kühe heutzutage im Stall. Sanft hügelig | |
| ziehen sich die Anfang April schon dunkelgrünen Wiesen durch das | |
| Voralpenland, unterbrochen mal von einem Fichtenforst und einem Rest Moor | |
| in einer Senke. Die Bauern zwischen Memmingen, Bad Wörishofen und | |
| Mindelheim füttern ihre Kühe seit Jahrzehnten im Stall mit Silage, also mit | |
| gehäckseltem Mais, Sojaschrot und eingemachtem Gras von den Unterallgäuer | |
| Wiesen. Anfang April sind die dicken Halme noch zu kurz, doch ab Mitte Mai | |
| können die Landwirte mähen, das Gras in hellgrüne oder rosafarbene | |
| Plastikfolien verpacken und in der Landschaft stapeln. | |
| Die schweren Mähmaschinen verdichten den Boden, sodass Maulwürfe und | |
| Regenwürmer kaum durchkommen. Wenn die Kühe das Hochleistungsfutter aus | |
| Gras, Mais und Soja gefressen und verdaut haben, verteilen die Bauern die | |
| stickstoffreiche Gülle aus den Ställen auf den Wiesen, damit ertragreiche, | |
| stärkehaltige Grasarten fette Ernte bringen. | |
| „Nährstoffe werden importiert, die Scheiße bleibt hier, der Stickstoff | |
| läuft ins Grundwasser“, fasst Jens Franke, Geschäftsführer des | |
| [3][Landschaftspflegeverbands Unterallgäu], den Kreislauf aus | |
| Naturzerstörung und Landschaftsübernutzung zusammen. | |
| In kniehohen Gummistiefeln und Anorak steht Franke auf einer Anhöhe des | |
| Unterallgäus, durch das Grau des Regentages erscheinen am Horizont die von | |
| der Sonne grauorange angeleuchteten schneebedeckten Alpen. Nur wenige | |
| Grasarten und Wiesenblumen können die stickstoffhaltige Düngung mit Gülle | |
| verarbeiten. Löwenzahn, Gänseblümchen, Weidelgras, Knäuelgras und | |
| vielleicht noch vier, fünf weitere Stickstoff liebende Pflanzenarten | |
| wuchern dann auf den Wiesen. Eigentlich könnten da 50 oder 60 verschiedene | |
| Kräuter, Blumen und Gräser wachsen, und die mit ihnen verbundenen | |
| Schmetterlinge, Bienen, Grashüpfer würden über die Wiese summen. | |
| „Die Landschaft hat ja ein paar hundert Jahre Landwirtschaft auf dem | |
| Buckel,“ sagt Franke, der den Beginn der Vernichtung der natürlichen | |
| Lebensräume von Tapezierbienen und Goldenem Scheckenfalter bis zum Anfang | |
| des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt hat, als die Zeit der gemeinschaftlich | |
| bewirtschafteten Wiesen endete. | |
| Vor rund 200 Jahren wurden die Kirchengüter aufgelöst und die Bauern | |
| erhielten kleine landwirtschaftliche Parzellen, die sie künftig einzeln | |
| nutzten und zu oft übernutzten, weil die gemeinschaftliche Fürsorge für das | |
| Land der Allmende fehlte. Nachdem der Stickstoffdünger erfunden worden war, | |
| konnten Wiesen gedüngt und Kühe gemästet werden. Die Bauern wollten kein | |
| Heu von artenreichen Streuobstwiesen mehr, sondern Hochleistungsgras für | |
| Hochleistungsmilchkühe. | |
| Franke hat historische Landkarten und Gemeindebücher durchforstet. Mit | |
| seinem historischen Wissen verhandelt er mit Landräten, Bürgermeisterinnen | |
| und Bauern über den Erhalt der Natur von heute. Sein Ziel ist, die | |
| größtmögliche biologische Vielfalt aus dem Gegebenen rauszuholen. Sein | |
| Kompass der biologischen Vielfalt ist die Rote Liste, die zeigt, welche | |
| Tier- und Pflanzenarten in der von Menschen geprägten Landschaft lebten. | |
| „Vor dreitausend Jahren, als hier ein paar Kelten rumliefen, waren Moor und | |
| Wald bestimmt auch megatoll“, sagt Franke. „Dafür haben wir jetzt die | |
| Menschen, die die Natur nutzen, und wir müssen Menschen und Natur | |
| miteinander vereinbaren.“ | |
| Die Landschaftspflegeverbände bringen vom bayerischen Allgäu bis zur | |
| Uckermark in Brandenburg die Natur wieder in die Landschaft. Sie versuchen, | |
| Landwirte für eine naturverträgliche Bewirtschaftung zu gewinnen, was erst | |
| mal nichts mit Ökolandbau zu tun hat, sondern mit Landnahme – später im | |
| Jahr mähen, ein paar Meter am Ackerrand nicht pflügen und nicht bepflanzen, | |
| die nasse Senke matschig lassen, den Bach nicht länger stauen. | |
| Für Städter hört sich das einfach an, doch wer je versucht hat, Landwirten | |
| einen Ackerrandstreifen abzuluchsen, weiß, wie langwierig solche | |
| Verhandlungen sind. Die Landschaftspflegeverbände holen auch die Kommunen | |
| und die Landkreise sowie die Naturschützerinnen in den Verein und | |
| beratschlagen gemeinsam, wie sie die Lebensräume von Azurjungfer, | |
| Kreuzotter, Feldlerche und Erdhummel erhalten können. Und woher das Geld | |
| für den Naturschutz in der Landwirtschaft kommt. Denn ohne Geld geht nix im | |
| Landschaftsschutz. | |
| Die Idee zur naturfreundlichen Landnutzung hatte Josef Göppel, Forstwirt | |
| aus der Nähe von Ansbach in Mittelfranken und von 2002 bis 2017 | |
| Bundestagsabgeordneter der CSU. In den 1980er Jahren begann er die | |
| Landwirte vom Sinn der Natur in der Landschaft zu überzeugen und gründete | |
| den ersten Landschaftspflegeverband, um Naturschützer und Landwirte in | |
| einer Organisation zu vereinen und im Gespräch zu befrieden. | |
| Bei einem Besuch der Autorin in Ansbach führte Göppel 2002 begeistert durch | |
| Streuobstwiesen, die dank seines Einsatzes und einer alten Mostpresse | |
| erhalten geblieben waren. Er erklärte, warum die winzigen | |
| Bläulings-Schmetterlinge struppige Magerwiesen brauchen, und hatte zwei | |
| Landwirte überzeugt, eine naturfreundliche Mahd vorzuführen. Anstatt die | |
| Wiese von einer Seite zur anderen durchzumähen, mähten die Bauern mal | |
| links, mal rechts, mal in der Mitte, damit die im Gras lebenden Tiere | |
| fliehen können. Göppel hatte sich das mit ihnen ausgedacht. | |
| Als wahrer Naturfreund und überzeugter Klimaschützer wich Göppel mehrfach | |
| von der Parteimeinung der CSU und dem Fraktionszwang ab. 2010 stimmte er | |
| gegen die von der Union beschlossene Laufzeitverlängerung von | |
| Atomkraftwerken. 2018 reichte Göppel zusammen mit anderen Umweltschützern | |
| die Klimaklage beim Bundesverfassungsgericht gegen den mangelhaften | |
| Klimaschutz der Bundesregierung ein. Und erwirkte damit das Urteil vom März | |
| 2021, in dem das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu mehr Klimaschutz | |
| aufforderte, um das Leben der nachfolgenden Generationen zu schützen. | |
| Während der Recherche zu diesem Text ist [4][Josef Göppel überraschend am | |
| 13. April 2022 gestorben]. | |
| Im Unterallgäu bringt Jens Franke seit 20 Jahren die Bauern, Bürgermeister | |
| und Landräte des Bezirks an einen Tisch, um ihnen den Wert der Natur in der | |
| Landschaft zu vermitteln. Viele hat er überzeugt, eine Wiese später zu | |
| mähen, wenn seltene Große Brachvögel, Bekassinen oder Kiebitze dort brüten. | |
| Die Vögel bauen ihr Nest am Boden. Sind die Küken geschlüpft, flüchten sie | |
| aus dem Nest und suchen mit ihren Eltern nach Würmern und Insekten am | |
| Boden. Sie brauchen dann niedrig wachsende Pflanzen, um sich zu verstecken. | |
| ## Wiesenvögel als Indikator | |
| Jahrhundertelang haben Bauern mit der Sense um Johanni, um den 21. Juni, | |
| das erste Mal gemäht. Dann sind die Küken der verschiedenen | |
| Wiesenbrütervögel geschlüpft. Danach haben die Bauern noch einmal im | |
| September gemäht, wenn die Vögel wieder auf dem Zug in ihre Wintergebiete | |
| waren. Franke sorgt dafür, dass die Bauern für den wirtschaftlichen Ausfall | |
| entschädigt werden, wenn sie später mit der Bewirtschaftung der Wiesen | |
| beginnen. Das Geld für den Vertragsnaturschutz kommt von den jeweiligen | |
| Bundesländern, aus den Etats der Landkreise für den Erhalt der biologischen | |
| Vielfalt oder auch mal von der Bundesregierung. | |
| „Im letzten Jahr haben wir zwanzig junge Kiebitze hochgebracht“, erzählt | |
| Franke, und er klingt wie ein stolzer Vater. Dem Großen Brachvogel konnten | |
| Franke und die Landschaftspflegerinnen im Unterallgäu aber nicht helfen. | |
| Drei Pärchen brüteten jahrelang im Tal der Mindel bei Mindelheim, | |
| irgendwann waren es nur noch zwei Paare, dann kam noch ein Paar aus dem | |
| Winterquartier zurück. Im vergangenen Jahr flog nur das Weibchen an die | |
| Mindel. | |
| „Wiesenvögel sind Indikatorarten für intakte Landschaften“, sagt Franke, | |
| dessen Herz als Botaniker vor allem für Pflanzen wie den Großen | |
| Wiesenknopf, den zart lila blühenden Sumpf-Storchschnabel und die Riednelke | |
| schlägt. Die Riednelke ist ein Überbleibsel der kalten Zeiten am Rande der | |
| Alpen und blieb wohl nach der letzten Eiszeit vor 10.000 bis 12.000 Jahren | |
| im Flachland. Sie stammt aus kälteren Zonen. Biologinnen sprechen von einem | |
| „Glazialrelikt“. | |
| Wo die Riednelke sonst wachsen könnte, können die Biologen nicht sagen, | |
| denn nur im Moor des Benninger Rieds bei Memmingen hat sie überlebt. Sie | |
| braucht bestimmte Kalkablagerungen, die sich ausschließlich hier bilden, | |
| wenn wie zu Zeiten des Illergletschers kohlensäurehaltiges Wasser aus dem | |
| Untergrund durch den Kalkboden nach oben drückt. | |
| Der Gletscher ist mit dem Ende der Eiszeit geschmolzen, und nach der | |
| Landnahme der Menschen im 20. Jahrhundert drückt sich das Wasser nicht mehr | |
| durch die Poren des kalkigen Untergrunds. Das Benninger Ried, zwischen | |
| einer Bundesstraße und einer Fabrik für Autowaschanlagen, sieht auf den | |
| ersten Blick aus wie ein Moor. Tümpel haben sich gebildet, Weidenbüsche | |
| wachsen, aus dem matschigen Grund beginnen Sauergräser zu sprießen. Ein | |
| Kiebitz fliegt rufend auf. Doch schon ein Graben verrät, dass Menschen die | |
| Landschaft gestaltet haben. | |
| Um die lange Geschichte der Trockenlegung kurz zu machen: Nachdem | |
| Einfamilienhäuser und ein Gewerbegebiet auf dem ehemals riesigen Benninger | |
| Ried gebaut waren, fiel auch das unter Naturschutz stehende Rest-Ried | |
| trocken. Mit Rohren und Kanälen unter der Siedlung und der Fabrik wurde | |
| dann wieder Wasser in das Moor gepumpt. „Wir müssen die Urverhältnisse | |
| simulieren“, sagt Franke. Aber die Riednelke lässt sich offensichtlich | |
| nicht täuschen. Sie merkt, dass das Wasser nicht durch den Kalk nach oben | |
| gestiegen ist. Und im Boden sind zu wenige Samen übrig, aus denen die | |
| Riednelke selbst heranwachsen könnte. | |
| Biologen des Botanischen Gartens Ulm und Jens Franke ziehen Riednelken | |
| daher mit Wasser aus dem Ried nun im Blumentopf und setzen sie im Frühjahr | |
| aus. Auch im Benninger Ried haben Menschen aus Landschaft so wieder ein | |
| Stück Natur gemacht. Das gestaltete Gebiet rund um das zarte Relikt mit den | |
| fliederfarbenen Blüten steht unter Naturschutz und wird von der | |
| Europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie geschützt. | |
| Landschaftspflege mutet manchmal museal an, doch gerade die | |
| wiedervernässten Moore weisen den Weg in die Zukunft im Kampf gegen den | |
| Klimawandel. Nasse Moorböden speichern riesige Mengen Treibhausgase im | |
| Torf. Wenn der Boden nicht länger von Wasser bedeckt ist, entweichen sie. | |
| Der Torfboden selbst drückt sich dann zusammen und sinkt Jahr um Jahr ein | |
| bis zwei Zentimeter ab. Je tiefer der Boden, je niedriger der Wasserstand, | |
| desto höher sind die Emissionen. | |
| „Die entwässerten Moorböden sind für 7 Prozent der gesamten | |
| Treibhausgasemissionen Deutschlands verantwortlich“, haben | |
| Wissenschaftler:innen des Greifswald Moor Centrums der Succow Stiftung | |
| errechnet. Zusammen mit dem Deutschen Verband für Landschaftspflege haben | |
| die Moor-Expertinnen ein deutschlandweites Programm für Landwirt:innen | |
| entwickelt, damit sie wieder mehr Wasser in die Landschaft lassen. | |
| Auch das Unterallgäu ist von Natur aus nass. Die Landschaft wäre von Mooren | |
| geprägt, doch nur 500 Hektar Moor von ehemals 12.000 Hektar haben im | |
| Landkreis Unterallgäu überlebt. In einer Gegend im Kreis, im Hundsmoor, hat | |
| Jens Franke den Bauern mal 300 Quadratmeter, mal einen halben Hektar | |
| abgeschwatzt und die schmalen Streifen zu 12 Hektar zusammengefügt. | |
| Mit den Landschaftspflegern unter den Bauern hat er das Schilf aus dem Moor | |
| geholt, Kiefern und Faulbaum-Sträucher entwurzelt. „Das Moor ist noch | |
| klein, aber wenn ich nicht anfange, passiert gar nichts“, sagt Franke. Er | |
| hofft, dass er dank des Generationenwechsels in der Landwirtschaft und dem | |
| Geld aus dem Artenschutz- und Biodiversitätsetat des Freistaats Bayern das | |
| Hundsmoor bald auf 22 Hektar bis zur Günz erweitern kann. | |
| Biber haben die dicken Weiden am kurvenreichen Ufer benagt. Im Moor blühen | |
| wieder fingerhohe Orchideen. Seggen und andere Sauergräser breiten sich | |
| aus, seitdem nicht mehr Schilf und Faulbäume das Moor verbuschen. Durch die | |
| Wiesen entlang des Moores läuft der „Glücksweg“, ein so beschilderter | |
| Wanderweg der „Wandertrilogie“, die sich die Allgäu GmbH ausgedacht hat. | |
| Die Orchideenwiese im Hundsmoor wird wieder zur Landschaft, die Menschen | |
| neu nutzen. Sie wandern, genießen den Blick in die Weite und Natur. | |
| ## Der gute Wanderweg | |
| „Wandertrilogie“ steht für die drei Landschaften des Allgäus, die von | |
| Wiesen, Wasser und Felsen geprägt sind, erklärt Christa Fredlmeier am | |
| Telefon. Sie entwickelt seit 20 Jahren deutschlandweit Wanderwege – von der | |
| Ostsee bis an die Alpen. | |
| „Ein guter Wanderweg ist schmal, auf keinen Fall asphaltiert, maximal | |
| geschottert, er ist abwechslungsreich mit Kurven und geraden Strecken und | |
| bietet schöne Aussichten.“ | |
| Das Allgäu hat Fredlmeier für die Tourismusagentur Allgäu GmbH von Bayern | |
| und Baden-Württemberg in neun „Erlebnisräume“ aufgeteilt. Rund um das | |
| landschaftsprägende Schloss Neuschwanstein ist der Erlebnisraum | |
| „Schlosspark“ samt Wanderrouten entstanden. Vom alpinen Sonthofen bis zum | |
| Nebelhorn wurde die Landschaft zu „Alpgärten“ zusammengefasst. Und weil der | |
| Name Unterallgäu in der Vermarktung nicht so zieht, wurden die Wiesen und | |
| Moore zu „Glückswegen“ erklärt. | |
| Aber warum diese theoretische Überhöhung von Bergen, Wäldern, Wiesen und | |
| den letzten natürlichen Flüssen, wenn Wandern ein Megatrend ist? „Die | |
| Landschaftsvielfalt wird dann besser erlebbar“, sagt Fredlmaier. „Mit dem | |
| Storytelling machen wir die Landschaft verständlich.“ | |
| „Landschaft ist angeeignete Natur“, sagt Kenneth Anders, der die Kultur der | |
| Landschaft im Oderbruch nordöstlich von Berlin erforscht und das Oderbruch | |
| Museum in Altranft mit seinem Kollegen Lars Fischer leitet. Die beiden | |
| betreiben zudem das Büro für Landschaftskommunikation, eine von ihnen | |
| erfundene Disziplin. | |
| Als die Biosphärenreservate im Südosten Rügens oder in der | |
| Schorfheide-Chorin eingerichtet wurden, haben sie Menschen über die | |
| Landschaft ins Gespräch gebracht. „Es gibt verschiedene Aneignungsweisen, | |
| die sich im Raum miteinander arrangieren müssen“, sagt Anders. „Landschaft | |
| ist immer an die Möglichkeit gebunden, Perspektivvielfalt einzunehmen und | |
| unterschiedliche Aneignungsweisen zu finden, die sich miteinander | |
| arrangieren müssen.“ | |
| Landschaft ist also weit mehr als Heimat oder der erwartete Blick auf | |
| Heideflächen, Almwiesen, Kreidefelsen. Landschaft ist der Spiegel der | |
| Gesellschaft in der Natur. | |
| Landschaftspfleger Jens Franke sieht das auf den alten Landkarten des | |
| Unterallgäus, wo die Bauern einst schmale Streifen Moor erhielten, um Torf | |
| zu stechen. Quadratkilometergroße Äcker oder Braunkohletagebauten erzählen | |
| dagegen von Energiehunger und anderen Landnahmen der Industriegesellschaft. | |
| „Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass wir in den Landschaften | |
| verschiedene Aneignungsweisen ermöglichen und nicht die eine die andere | |
| ausschließt oder dominiert“, sagt Kenneth Anders. „Denn die damit | |
| einhergehende Segregation führt auch zur Segregation unseres Bewusstseins. | |
| Wir sind dann nur noch als Erholungssuchende, als Touristen, Wohnende, | |
| Wirtschafter oder Montagearbeiter in der Landschaft.“ Und auch der Begriff | |
| Landschaft verschwinde, wenn alles eine Betriebsfläche sei und Menschen auf | |
| allen Flächen ackern, bauen, siedeln. | |
| Landschaft braucht also auch Vielfalt, um Landschaft zu sein. Fast wie in | |
| der Natur. | |
| 2 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Konferenz-zur-Biodiversitaet/!5822211 | |
| [2] https://www.umweltbundesamt.de/themen/boden-landwirtschaft/flaechensparen-b… | |
| [3] http://lpv-unterallgaeu.de/ | |
| [4] /Umweltpolitiker-Josef-Goeppel-gestorben/!5848884 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Fokken | |
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| Ausgehend von diesen philosophiert er über Klimawandel, Ökonomie und | |
| Widerstand. | |
| Seen in der Klimakrise: Wirbel unter Wasser | |
| Der Klimawandel verändert Seen und Flüsse. Lange war das bei den | |
| Klimaverhandlungen kein Thema. Höchste Zeit, unter die Wasseroberfläche zu | |
| schauen. | |
| Berliner Seenwanderer: „Ich will einfach den See umrunden“ | |
| Norman Heise ist Seenumrunder und zugleich Berlins oberster | |
| Elternvertreter. Ein Gespräch übers im-Kreis-Laufen und Nachtschichten fürs | |
| Ehrenamt. | |
| Tourismusexperte über Treffen auf Rügen: Insellösungen für Inselprobleme | |
| Wie schafft man einen Spagat zwischen Tourismus und Naturschutz? Das müsse | |
| die zweite deutsche Inselkonferenz zeigen, meint Knut Schäfer. | |
| Earth Day 2022: Shoppen für die Umwelt | |
| Am Earth Day Konsum überdenken und Umweltbewusstsein schaffen? Mit Apple, | |
| Disney und Co. klappt das dieses Jahr bestimmt wieder am besten! | |
| Artenschutz in Krisenzeiten: „Kein Nice-to-have in guten Zeiten“ | |
| Das Artensterben gefährdet unsere Ernährung, warnt der Chef der | |
| Weltnaturschutzunion. Regierungen müssen handeln. | |
| Artenschutz braucht Wandermöglichkeiten: Ein Netzwerk für den Luchs | |
| Viele Schutzgebiete sind zu klein, um Populationen nachhaltig zu sichern. | |
| In Österreich probiert man es mit Trittsteinen und Korridoren. |