# taz.de -- Gewässerökologe über Flutfolgen: „Die Lücken verschlammen“ | |
> Wie schlimm ist extremes Hochwasser eigentlich für Bachflohkrebse und | |
> andere Kleinstlebewesen? Fragen an den Gewässerökologen Hans Jürgen Hahn. | |
Bild: Von der Flut auf die Straße gespült: ein Krebs im Ahrtal-Ort Schuld nac… | |
taz am wochenende: Herr Hahn, kleinste Lebewesen wie Bachflohkrebse und | |
Köcherfliegen machen den Großteil der mit bloßem Auge sichtbaren Tiere in | |
einem Fluss aus. Überleben sie extreme Hochwasser wie das im Juli? | |
Hans Jürgen Hahn: Wenn sie nicht verschwemmt oder von Sand und Steinen | |
zerrieben werden. Zum Glück sind Fließgewässer-Ökosysteme dynamisch: Tiere | |
erobern sich einen Lebensraum relativ schnell wieder, wenn es nicht | |
dauerhaft Störungen gibt. | |
Was ist an einem Hochwasser am schlimmsten für die kleinen Lebewesen? | |
Das Aufwirbeln und Verlagern der Sedimente. Außerdem läuft zu viel Mist ins | |
Wasser. Je größer das Einzugsgebiet eines Flusses, desto mehr Dreck von | |
Industrie, Äckern, Siedlungen und Straßen wird hineingespült. Kläranlagen | |
werden bei Starkregen auf Durchfluss gestellt. Oft ziehen Gräben, | |
Kanalisation und Straßen das Wasser aus der Landschaft heraus, hin zum | |
nächsten Gewässer. | |
All dieses Wasser saust in den Fluss. | |
Unter bestimmten Umständen kommt nach starken Regenfällen das Wasser rasend | |
schnell durch die Landschaft. Die Tiere im Fluss haben keine Chance, dem | |
auszuweichen. Die tauchen dann ab in den Untergrund. Wenn das Bachsediment | |
verstopft ist, werden sie abgetrieben. | |
Wieso verstopft? | |
Bei vielen Fließgewässern sind die Lückenräume zwischen Steinen und Kies | |
durch Schlamm und Schluff vor allem von den Ackerflächen verkleistert – wir | |
nennen das Kolmation. Hochwässer können diese Situation verstärken, oft | |
spülen sie die Lücken im Sediment aber auch wieder frei. Die Zwischenräume | |
sind mal größer, mal kleiner, je nach dem Gestein im Einzugsgebiet der | |
Flüsse. Sie werden vom Oberflächenwasser und vom Grundwasser durchströmt, | |
so dass Sauerstoff einfließt. Daher können sich Tiere und Mikroorganismen | |
wie Bakterien erhalten. Da unten sind 95 Prozent oder mehr der gesamten | |
Biomasse eines Flusses zu finden. Nur durch die Kleinstlebewesen und | |
intakte Sedimente entsteht ein funktionierendes Gewässer. | |
Ringelwürmer und Wasserwanzen schaffen saubere Flüsse? | |
Alle zusammen. Die Sedimente mit ihren Bakterienfilmen bilden einen | |
Biofilter, der das Flusswasser reinigt. Sie und andere Mikroorganismen | |
werden von Insektenlarven und kleinen Tieren gefressen. Die zerkleinern und | |
zersetzen zudem das organische Material wie Blätter, Äste oder Aas, und | |
durch ihre Grabtätigkeit halten sie die Nischen im Sediment ja auch offen. | |
Das ganze führt zur Selbstreinigung der Flüsse. | |
Und was passiert, wenn die Lücken verschlammen? | |
Wenn die Nischen verstopfen, haben die kleinen Tiere keinen Lebensraum. | |
Damit entfällt die Funktion der Bachsedimente als reinigender Bioreaktor. | |
Lachse, Forellen, [1][Bachmuscheln] haben keinen Brutraum mehr, die | |
Lebensgemeinschaft im Fluss verarmt. Die Biodiversität geht zurück und | |
damit auch die Ökosystemdienstleistungen. | |
Was bedeutet das für das Grundwasser? | |
In kolmatierten Bereichen wird die Wechselwirkung zwischen | |
Oberflächenwasser und Grundwasser reduziert – es strömt nicht so viel | |
Wasser ins Grundwasser, aber es strömt auch weniger Grundwasser ins | |
Oberflächenwasser. | |
Und was heißt das? | |
Bislang gibt es kaum Untersuchungen dazu, auf jeden Fall dreht sich ein | |
natürlicher Prozess um. Hier spielt der Klimawandel eine große Rolle. | |
Zunehmend versiegen Bäche und Flüsse, der Landschaftswasserhaushalt kippt | |
vielerorts gerade. Im Oberflächengewässer kommt es zu einer Eindickung der | |
Schadstoffe. Beim Versickern wird der Dreck dann zunehmend nach unten ins | |
Grundwasser verklappt. | |
Die Grundwasserstände sinken seit Jahrzehnten und ziehen das | |
Oberflächenwasser mit in die Tiefe. Es gibt also nicht nur weniger | |
Trinkwasser, es wird auch schmutziger? | |
Nicht überall in Deutschland, aber in Südwestdeutschland ist die | |
Grundwasserneubildung seit 2000 um 25 Prozent zurückgegangen. Die | |
Konsequenzen sind politisch noch nicht überall angekommen. Den Leuten ist | |
nicht klar, dass im Klimawandel die Mengenprobleme direkt zu | |
Qualitätsproblemen führen. | |
Werden wir in absehbarer Zeit zu wenig Trinkwasser haben? | |
Auf jeden Fall in vielen Gegenden deutlich weniger als heute. | |
Ein Prozent der Flüsse in Deutschland fließt noch natürlich. Welche Folgen | |
hat das? | |
Die Mehrzahl der Flüsse ist begradigt und eingefasst. Damit geht die | |
Vielfalt der Strukturen verloren, und das spiegelt sich im Verlust der | |
Artenvielfalt. Die anspruchsvollen, die seltenen Arten verschwinden. Und es | |
fehlt die Durchgängigkeit, die Flüsse sind zerhackt in Teilstücke mit | |
Wasserkraftanlagen und Wehren, die natürliche Abflussdynamik fehlt. | |
Kolmation und Mikroschadstoffe wie Arzneimittelrückstände machen den | |
Gewässerbewohnern schwer zu schaffen. | |
Die Flüsse sind auch sauberer geworden. In meiner Kindheit durfte ich nicht | |
mal mit den Füßen in die Elbe bei Hamburg gehen, heute kann man dort baden. | |
Im Vergleich zu den 1970er Jahren sind die Gewässer um ein Vielfaches | |
besser geworden. Die Kläranlagen haben eine deutlich bessere | |
Leistungsfähigkeit und fast alle Haushalte und Betriebe sind daran | |
angeschlossen. Die chemischen und biologischen Rahmenparameter haben sich | |
auf jeden Fall verbessert. | |
Eine gute Nachricht. | |
Ja, das ist eine der wenigen großen Erfolgsgeschichten im Umweltschutz. | |
Dennoch: Nicht mal zehn Prozent der Flüsse haben den guten ökologischen | |
Zustand erreicht, den die Wasserrahmenrichtlinie vorschreibt. | |
Laut der [2][EU-Wasserrahmenrichtlinie] hätte Deutschland bis 2021 dafür | |
sorgen müssen, dass Flüsse und Seen in einem guten ökologischen Zustand | |
sind. Bislang schaffen das neun Prozent der Flüsse. Deutschland hat bis | |
2027 Zeit, die Richtlinie umzusetzen. Was muss passieren? | |
Im Mittelpunkt muss ein funktionierender Landschaftswasserhaushalt stehen. | |
Man muss ein klares Ordnungsrecht schaffen, das dem Landwirt auch mal | |
vorschreibt, dass er in einem Flusseinzugsgebiet keinen Mais anbauen darf, | |
damit bei Regen keine Schlammlawinen vom Acker in den Fluss spülen und die | |
Lücken im Bachbett verstopfen. Es muss einen klar gewässerbezogenen | |
Rechtsrahmen geben, aber je mehr wirtschaftliche Interessen sich im | |
Einzugsgebiet eines Flusses überschneiden, desto schwieriger wird es, die | |
Gesetze zum Grundwassersschutz oder zum Naturschutz in Flüssen umzusetzen. | |
Das sehen Sie in Brandenburg beim Bau der Tesla-Fabrik. | |
Vertreter von Wirtschaft und Politik wollen die Wasserrahmenrichtlinie | |
novellieren. | |
Das wäre vermutlich eine Katastrophe. Bei einer Novellierung muss man eine | |
massive Einflussnahme von Interessenverbänden wie der Wasserkraft | |
befürchten. | |
Die Überschwemmungen haben das Land geschockt. Könnte die Katastrophe dazu | |
führen, dass jetzt mehr passiert? | |
Der Unfall der Chemiefabrik Sandoz 1986 am Rhein hat zu einem massiven | |
Umdenken geführt. Man hat Einleitungen abgestellt und Kläranlagen gebaut. | |
Es zeigt, was wir alles tun können, wenn wir es wollen. | |
31 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.natura2000.rlp.de/steckbriefe/index.php?a=s&b=a&c=ffh&am… | |
[2] https://www.umweltbundesamt.at/umweltthemen/wasser/wrrl | |
## AUTOREN | |
Ulrike Fokken | |
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