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# taz.de -- Die Wiederkehr der Bartgeier: Bavaria fliegt
> Ein kleiner Flügelschlag für einen Geier, aber ein großer für den
> Artenschutz: In Deutschland sind erstmals Bartgeier ausgewildert worden.
Entgangener Anruf“ … „entgangener Anruf“ … „entgangener Anruf …�…
Wegscheider am 8. Juli gegen 6.30 Uhr sein Mobiltelefon anschaltet,
erschrickt er zunächst. Er erkennt die Nummer und denkt: Da ist irgendwas
mit den Geiern. Erst dann sieht er die Textnachricht: „Bavaria fliegt.“
Was in diesen beiden Worten steckt, kann man durchaus als historischen
Moment im deutschen Artenschutz bezeichnen. Denn Bavaria, das ist eines der
beiden Bartgeierweibchen, die im Juni im [1][Nationalpark Berchtesgaden]
ausgewildert worden sind – und damit der erste dieser Greifvögel, der seit
ihrer Ausrottung im Alpenraum im Jahr 1913 in der deutschen Wildnis flügge
wurde. Es ist 5.19 Uhr, als der Vogel abhebt.
Toni Wegscheider verlässt umgehend das Haus, eilt den Berg hinauf.
Wegscheider leitet das Auswilderungsprojekt des [2][Landesbundes für
Vogelschutz] (LBV), die Nachricht hat er vom Praktikanten des Nationalparks
bekommen, der an diesem Morgen die Frühschicht am Beobachtungsposten hat
und als Einziger Zeuge dieses besonderen Augenblicks wurde.
Bavaria sitzt nach ihrem Jungfernflug wohlbehalten auf einem Felsen, doch
schon naht die nächste Aufregung. Bergwachteinsatz. Ein Helikopter rattert
im niedrigsten Suchflug über die Felsnische, in der noch Bavarias Kollegin
Wally sitzt, dann auch über Bavarias Kopf hinweg. Andere junge Geier sind
bei solchen Gelegenheiten bereits in Panik geraten. Bavaria scheint
verstört, geht in Deckung, doch nach einer halben Stunde hat sich die Lage
wieder beruhigt, auch der Vogel.
Nur: Auch wenn Bavaria jetzt fliegen kann, die zielgenaue Landung hat sie
noch nicht drauf. So schafft sie es an diesem Tag nicht mehr, zu Wally in
die Felsnische zurückzukehren, muss schließlich auf einem Felsen
übernachten. In einer Steinschlagrinne. Bei heftigem Gewitter.
## „Dramatischer Start in den Luftraum“
Wegscheider sitzt währenddessen unruhig daheim auf dem Sofa, aktualisiert
über sein Mobiltelefon ständig die Daten, die der Sender schickt, den
Bavaria an einem Gurt um die Hüfte trägt. Sogar die Vitalfunktionen kann er
auf diese Weise überwachen. Der Biologe fürchtet, dass jeden Moment die
Temperatur massiv sinkt, weil Bavaria von einem Stein oder einem Blitz
erschlagen wurde. Aber die Werte bleiben stabil. Am nächsten Morgen meldet
die Frühschicht: Bavaria ist pudelnass, aber es geht ihr gut. „Das war ein
dramatischer Start in den Luftraum“, sagt Wegscheider.
Gut zwei Wochen später, Treffpunkt Klausbachhaus, gleich am Eingang des
Nationalparks. Neben imposanten Aussichten bietet der Nationalpark
Berchtesgaden auch eine vielfältige Alpenfauna. Steinadler, Steinböcke,
Gemsen und Murmeltiere gibt es genauso wie besondere Falter und Spinnen.
Manche Art wurde hier entdeckt, die sonst als weitgehend ausgestorben gilt.
Und jetzt ist auch noch der Bartgeier da.
Wegscheider führt den Besucher an die seitliche Hauswand. Hier sind die
Silhouetten von Adlern und Bartgeiern aufgehängt. Holzsägearbeiten. In
Lebensgröße. Der Steinadler kommt gerade mal auf 2,30 Meter
Flügelspannweite, der Bartgeier dagegen auf stolze 2,90 Meter, er ist
inzwischen wieder der größte Vogel in den Alpen. Bavaria dürfte da schon
ziemlich gut rankommen, meint Wegscheider, Wally ist etwas kleiner,
vielleicht 2,80 Meter. „Ich find das immer noch faszinierend, wie gewaltig
die sind.“
Wegscheider ist in der Gegend aufgewachsen, auf einem Bauernhof oberhalb
des Königssees. „In der vierten Klasse hab ich in Heimat- und Sachkunde
mein Lieblingstier vorgestellt. Und das war der Lämmergeier, wie man ihn
damals noch nannte.“ Kein gewöhnliches Tier für einen Zehnjährigen – erst
recht, wenn man bedenkt, dass es zu dieser Zeit schon lange keine Bartgeier
mehr in der Gegend gab. Aber der kleine Toni hatte ein Tierbuch mit
Zeichnungen von Bartgeiern aus den Pyrenäen, wo sich eine Population
gehalten hatte. Die hatten es ihm angetan. „Wie die Geier da diese riesigen
Knochen geschluckt haben, das hat mich fasziniert.“
## Die Knochenfresser
In der Tat sind Bartgeier so ziemlich die einzigen Wirbeltiere, die sich
fast ausschließlich von Knochen ernähren. Eine recht trockene
Angelegenheit, aber nahrhaft. Ein Oberschenkelknochen einer Gams, erklärt
Wegscheider, habe mehr Kalorien als die Gamskeule drum herum. Nur die
Jungtiere fressen wegen der darin enthaltenen Flüssigkeit auch noch größere
Portionen Fleisch, da sie in ihren Felsnischen in der Regel kein Wasser
haben. Beobachter sind immer wieder beeindruckt, wenn so ein Vogel einen 30
Zentimeter langen Knochen in einem Happs herunterschlingt oder wenn er
Gerippeteile aus großer Höhe zum Zerkleinern auf Felsen fallen lässt.
Doch der Geier mit den unterschiedlichen Namen wurde jahrhundertelang
gejagt und getötet. „Vill Schaden der Gämbsgeyer thuet, drumb ihm man auch
nachstöllet“, heißt es auf einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, das in
einer Gaststätte auf St. Bartholomä am Königssee hängt. Lämmer schlage er,
hieß es, daher der lange gebräuchliche Name, sogar menschliche Babys habe
er schon entführt.
Obwohl erklärtermaßen sein Lieblingstier, verlor Wegscheider den Bartgeier
aus den Augen – bis er zu Beginn seines Biologiestudiums in Berchtesgaden
einen Vortrag des Geier-Experten Michael Knollseisen hörte, der die
Auswilderungen im [3][Nationalpark Hohe Tauern] betreute. Hinterher fragte
Wegscheider, ob er bei dem Projekt nicht mithelfen könnte. So kam er zu
seinem ersten Praktikum – und den ersten tatsächlichen Begegnungen mit
Bartgeiern. „Seitdem war ich angefixt.“
Der Enthusiasmus hat sich gehalten. Als „Jackpot in der Biologenkarriere“
bezeichnet es der 42-Jährige, dass er nun dieses Projekt leiten darf. „Das
hätte ich mir nie erträumt.“ In den vergangenen Wochen musste er viele
Fragen zu den neuen Parkbewohnern beantworten, manche sicher auch zwei-,
drei- oder 87-mal. Aber noch immer erzählt er voller Begeisterung von
Bavaria und Wally – etwa, was für unterschiedliche Charaktere die beiden
seien. Bavaria mehr so die Behäbige, Wally dagegen quirlig, draufgängerisch
und abenteuerlustig. Vor ein paar Tagen hat das Geiermädchen, das vier Tage
nach Bavaria ihren ersten Flug absolvierte, sogar schon einen Adler gejagt.
## Alex Llopis Dell, der Kuppler der Bartgeier
Dass nun überhaupt wieder Bartgeier in den Alpen ihre Kreise ziehen, ist
einem langfristig angelegten Zucht- und Auswilderungsprojekt zu verdanken,
das wiederum Teil des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms (EEP) ist. Die
Leitung des Bartgeierprojekts liegt bei der [4][Vulture Conservation
Foundation] (VCF), einer Stiftung mit Sitz in Zürich, die sich
länderübergreifend dem Schutz der vier europäischen Geierarten verschrieben
hat. 36 Zoos und fünf Aufzuchtstationen bilden ein Netzwerk, in dem
Bartgeier nachgezüchtet werden, um möglichst viele davon auszuwildern.
Wally und Bavaria beispielsweise kommen aus der andalusischen Zuchtstation
Guadalentín. Seit den Achtzigern läuft das Programm bereits – mit Erfolg.
Wer darf mit wem, wo und wie oft, das bestimmt dabei ein Mann: Alex Llopis
Dell. Er ist der Leiter einer Auffang- und Zuchtstation in Katalonien und
Herr über das europäische Zuchtbuch.
Dell verwaltet die Datenbank, kennt Alter und Geschlecht aller Tiere und
ihren Gesundheitszustand. Er weiß, wer ihre Eltern, Großeltern und
Urgroßeltern waren und wo deren ursprüngliche Heimat war. Er bestimmt,
welche Tiere miteinander verpaart – oder auch keinesfalls verpaart werden
sollten. „Es geht darum, einen optimalen Genpool aufrechtzuerhalten und
Inzucht zu vermeiden“, sagt Llopis Dell am Telefon.
Fast die gesamte Population von aktuell rund 300 Tieren, die heute wieder
ausgewildert in den Alpen leben, geht auf den Grundstock von nur etwa 15
Tieren zurück. Der vorhandene Genpool ist also kritisch klein. Diese
„Ahnen“ waren Tiere, die in den siebziger Jahren, dem Zeitpunkt der ersten
Nachzüchtungen, verstreut in verschiedenen Zoos lebten. Die prächtigen
Gebirgsvögel, die bis zu 50 Jahre alt werden können, waren Wildfänge, zum
Beispiel aus Turkmenistan, Iran oder Kasachstan.
„Dank Aufzeichnungen können wir die Herkunft der heute gezüchteten Vögel
bis zu fünf Generationen zurückverfolgen“, erklärt Dell. Wie kostbar jedes
einzelne Exemplar und sein Potenzial zur Nachzucht ist, zeigt die zweite
große Aufgabe von Alex Llopis Dell, der er in der Aufzuchtstation in
Katalonien als eine Art „Heiratsvermittler“ nachgeht. In der Voliere leben
Vögel, die sich in der Wildbahn verletzt haben, zum Beispiel durch eine
Kollision mit einer Hochspannungsleitung flugunfähig sind. Vögel also, die
in der freien Natur keine Chance hätten, zu überleben. Dell gilt als
überaus geschickter Kuppler, dem es gelingt, diese Tiere miteinander zu
verpaaren. Sie zeugen gesunden Nachwuchs, der ausgewildert werden kann.
Die unfreiwilligen Quereinsteiger in das Zuchtprogramm haben für die neue
Population einen zusätzlichen positiven Effekt: Sie bringen frisches Blut
in das Programm. Denn mittlerweile gibt es beim Nachwuchs der
ausgewilderten Vögel erste Anzeichen von Inzucht, etwa Feder-Deformationen.
Um den Bestand deshalb auf eine breitere genetische Basis zu stellen, sind
neue Brutvögel beispielsweise aus den Pyrenäen extrem wertvoll. Auch auf
Korsika gibt es noch einen winzigen Restbestand.
## Artenschützer klauen ein Ei aus dem Nest
Hier sind die Artenschützer in Einzelfällen sogar schon zu Nesträubern
geworden. Da Bartgeier stets zwei Eier legen, ein Ei allerdings nur als
„Back-up“ dient und das stärkere Küken das schwächere kurz nach dem
Schlüpfen tötet, können mitunter Eier entnommen und Ammenvögeln
untergejubelt werden, ohne dass die wilde Population dadurch ein Tier
verliert.
Llopis Dell hat einen Mehrjahresplan, der ihm hilft, je nach Zuchterfolg,
Tiere auszuwildern oder auch Zoos zu beliefern, um immer einen Bestand an
Tieren sicherzustellen. Wie erfolgreich das Vorgehen der Vulture
Conservation Foundation bereits ist, zeigen die Zahlen. Jedes Jahr gelingt
es Dell, dank mittlerweile 90 Brutpaaren in menschlicher Obhut rund 20
junge Bartgeier in Europa auszuwildern – neben den Alpen derzeit vor allem
in Spanien. Aktuell geht man von über 60 wild lebenden Paaren in den Alpen
aus. Das Monitoring zeigt: Im vergangenen Jahr haben sie insgesamt 36
Jungtiere aufgezogen. In diesem Jahr schätzt die Vulture Conservation
Foundation ihre Zahl auf 40 bis 45.
In Berchtesgaden sind in den kommenden Jahre weitere Auswilderungen
geplant, zwei oder drei Tiere pro Jahr. Die Bayerischen Alpen haben
zusammen mit Österreich eine Brückenfunktion. Die beiden Länder bilden ein
Bindeglied zwischen West und Ost, einen Stützpunkt, der die Rückausbreitung
des Greifvogels über Osteuropa bis nach Asien ermöglichen soll. „In den
kommenden Jahren werden wir Bartgeier auf dem Balkan auswildern“, erklärt
Llopis Dell. Der langfristige Plan ist, dass sich diese Vögel über Kreta,
wo noch einige wenige Bartgeierpaare leben, mit den stabilen Beständen in
der Türkei und bis in die Mongolei verbinden. Durch Auswilderungen im
französischen Zentralmassiv könnte auch in Richtung Westen ein
durchgehendes Habitat entstehen.
## Auch Bartgeier werden müde
Es ist Mittag. Nach etwa einer Dreiviertelstunde Aufstieg kommt Toni
Wegscheider beim Beobachtungsposten an – auf rund 1.100 Höhenmetern. Eine
Gruppe von vier ehrenamtlichen Helfern des Landesbundes für Vogelschutz ist
bereits hier und schaut in die Felswand hinauf. Von fünf Uhr morgens bis
neun Uhr abends halten die Ehrenamtlichen hier im Schichtbetrieb Stellung.
Eine Geierfreundin aus Passau, Silke Moll, verbringt hier ihren ganzen
Jahresurlaub.
Wenn man weiß, wo, erkennt man in der Felswand die Nische, in der Wally und
Bavaria am 10. Juni ausgesetzt wurden. Noch immer ist es ein wichtiger
Stützpunkt für sie. Etwas unterhalb am Hang legen die Helfer täglich Aas
für die beiden aus. Meistens gibt es Gams.
Wegscheider baut das Stativ mit einem besonders starken Fernrohr auf. „Die
Nische habe ich nach sehr langer Suche gefunden“, erzählt er. „Da passt
wirklich alles. Das ist der Mercedes unter den Freilassungsnischen.“
Momentan jedoch ist nicht viel los in dem Mercedes. Hinten in der Nische
kann man durch das Fernrohr einen der Junggeier am Boden liegen sehen, der
zweite ist hinter einem Felsbrocken mehr zu erahnen, als zu sehen.
„Die sind platt“, sagt Gertraud Rieger vom Vogelschutzbund Berchtesgadener
Land, „im wahrsten Sinne des Wortes.“ Und Moll erzählt, was man an diesem
Morgen bereits verpasst hat. Zwanzig Mal, wenn nicht öfter, hätten die
beiden ihre Runden am Himmel gedreht. Und die Flüge werden immer
routinierter – auch wenn sie im Direktvergleich mit denen erwachsener Tiere
immer noch unbeholfen wirkten, wie Wegscheider erzählt. Die Jungtiere
hätten deutlich längere Federn und dadurch eine größere Flügelfläche,
erklärt er. „Das ist wie Fliegen mit Stützrädern. Nicht elegant, aber
sicher.“
Wally und Bavaria sind Cousinen. Oder Großcousinen? Egal. Für Bartgeier
spielen Familienbande keine allzu große Rolle. Dass sie aus derselben
Zuchtstation kommen, hat sich eher zufällig nach dem Masterplan von Alex
Llopis Dell ergeben. Die Zuchtstation Guadalentín hätte lieber mit den
beiden weitergezüchtet. Und zumindest einer der Geier für Berchtesgaden
sollte ursprünglich aus dem Nürnberger Tiergarten kommen. Doch dann musste
Llopis Dell umdisponieren.
## Bartgeier züchten ist nicht wie Brezelbacken
Nürnberg ein paar Wochen zuvor. Es ist ein verhangener Julitag im
[5][Tiergarten]. Der große, in einem ehemaligen Steinbruch angelegte Zoo
erstreckt sich über mehrere Geländestufen. Dicht belaubte Bäume und
braunrote, von der Erosion geformte Sandsteinblöcke geben dem Tiergarten
etwas Dschungelartiges. An diesem Morgen herrscht in der großen Voliere
noch kein Besucherandrang; Jörg Beckmann, der Stellvertretende Direktor und
Biologische Leiter des Tiergartens, steht an der Brüstung und blickt in das
Biotop. Auf den Bäumen in dem Gehege fliegen Tannenhäher hin und her. Ein
Murmeltier, das hier zwischen den Steinen lebt, richtet sich auf.
Auf dem Halbrund aus Felsen machen die beiden „Stars“ der Voliere ihren
Morgenspaziergang: zwei große, dicht befederte Bartgeier. Ein Männchen, 42
Jahre alt, und ein weibliches Tier, 20 Jahre jünger. Seit 11 Jahren sind
die beiden ein Paar. Jetzt schnäbeln die zwei ein bisschen. „Die bestätigen
ihre Bindung – wie wir Menschen auch“, sagt Beckmann und lacht. Der Biologe
und Forstwissenschaftler ist mit dem Tiergarten an dem europäischen
Aufzuchtprogramm für Bartgeier beteiligt. Die Blutlinie des Pärchens hätte
sich bestens geeignet, um ihren diesjährigen Nachwuchs in Bayern
auszuwildern. Aber es gab keinen Nachwuchs. „Ein Ei war zerbrochen, im
anderen der Embryo aus ungeklärten Gründen abgestorben“, erzählt Beckmann.
„Bartgeier züchten, das klappt eben nicht wie’s Brezelbacken. Übung gehö…
dazu, Fachwissen und ein Quäntchen Glück.“ Dieses Quäntchen hat diesmal
gefehlt.
Für Toni Wegscheider wird Nürnberg dennoch in besonderer Erinnerung
bleiben. Es war der Ort, an dem er Bavaria und Wally am 9. Juni
kennengelernt hat. Drei Tage zuvor waren sie aus Spanien auf dem Landweg
hierher gebracht worden – für die letzten Vorbereitungen vor der
Auswilderung. „Ich war natürlich schon aufgeregt“, erzählt Wegscheider,
„als ich nach all den Jahren zum ersten Mal zwei Bartgeier in den Händen
halten durfte: die Hoffnungsträgerinnen für die künftige ostalpine
Population.“ Was ihn nicht davon abhält, die Hoffnungsträgerinnen fast im
gleichen Atemzug auch als „müfflige Federteile“ zu bezeichnen. „Als
Aasfresser stinken die halt total.“
In Nürnberg wurden Wally und Bavaria dann noch mal gründlich durchgecheckt,
die Sendergurte wurden anprobiert, und einige Federn wurden gebleicht – mit
Wasserstoffperoxid aus dem Friseurbedarf. Bis zur ersten Mauser in zwei
Jahren können die fliegenden Geier nun von unten identifiziert werden.
„Zwei Flecken rechts ist die Wally, und einer im Flügel, einer im Schwanz
ist die Bavaria.“
Derzeit werden die beiden fast rund um die Uhr beobachtet – von den
ehrenamtlichen Helfern unterhalb der Felswand, aber auch von Tausenden Fans
über zwei Webcams, die der Landesbund für Vogelschutz installiert hat. Doch
schon in einigen Wochen dürften sich die Geierweibchen auf die große
Wanderschaft machen und sich erst einmal die Welt ansehen. „Junge
Bartgeier“, erklärt Toni Wegscheider, „fliegen locker Räume von 10.000
Quadratkilometern ab. Das ist der doppelte bayerische Alpenraum.“
Erst mit der Geschlechtsreife, so im Alter von fünf oder sechs Jahren,
zieht es rund zwei Drittel aller Bartgeier in ihre Heimatregion zurück. Es
ist also gut möglich, dass zumindest einer der beiden ersten in Bayern
ausgewilderten Bartgeier sich hier auch später einmal ansiedelt. „Das muss
jetzt nicht dieses Tal sein, aber so im Umkreis von 30 Kilometern um das
Klausbachtal herum, das ist schon sehr wahrscheinlich.“ Und wenn er wetten
müsste, wüsste Toni Wegscheider auch, auf wessen Rückkehr er setzen würde:
auf die der eher zurückhaltenden und gemütlichen Bavaria. Wegscheider:
„Eine Bavaria darf ja wohl auch in der Heimat bleiben.“
12 Aug 2021
## LINKS
[1] https://www.nationalpark-berchtesgaden.bayern.de/
[2] https://www.lbv.de/
[3] https://hohetauern.at/de/
[4] https://4vultures.org/
[5] https://tiergarten.nuernberg.de/startseite.html
## AUTOREN
Dominik Baur
Margarete Moulin
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