# taz.de -- Knastzeitung aus Berlin-Tegel: taz hinter Gittern | |
> Der „Lichtblick“, Deutschlands einzige unzensierte Gefangenenzeitung, | |
> bekommt eine neue Redaktion. Die taz Panter Stiftung hilft beim Aufbau. | |
Bild: Einschluss in der JVA Tegel | |
Wachtürme und Kameras säumen die Mauer. Ein eisernes Tor, das sich wie | |
von Geisterhand öffnet. Dahinter ein vergitterter Gang, die | |
Sicherheitsschleuse. Ausweisabgabe, Taschenkontrolle. Die Berliner | |
[1][Justizvollzugsanstalt Tegel] erstreckt sich auf einer Fläche von | |
siebzehn Fußballfeldern. Einst war sie das größte Männergefängnis in | |
Europa. Freiheitsstrafen für zumeist schwere Straftaten werden hier | |
verbüßt. | |
Es ist Montag. Workshop-Tag. Eine Gruppe von Gefangenen lernt, wie man eine | |
Zeitung macht, [2][angeleitet von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der | |
taz]. Die Zeitung, die sie machen, ist nicht irgendeine Zeitung – es ist | |
der Lichtblick, Deutschlands älteste und wohl einzige wirklich unzensierte | |
Gefangenenzeitung. Und weil die Gefangenen nicht zu uns in die Redaktion | |
kommen können, kommen wir zu ihnen. | |
Mit einem riesigen Schlüsselbund schließt uns ein Justizbediensteter in der | |
Anstalt durch die Höfe. Vorbei an Werkstätten und Zellen-Gebäuden führt der | |
Weg. An der Fassade der Soziatherapeutischen Teilanstalt, Sotha genannt, | |
zuckt ein rotes Licht. Alarm. Ein 23-jähriger Insasse hat sich dort in der | |
Nacht das Leben genommen. Die Kripo ist noch vor Ort, solange sind alle | |
Insassen des Hauses unter Verschluss. | |
55 Jahre wird der Lichtblick in Tegel von Gefangenen gemacht. Seit dem | |
vergangenen Sommer ist allerdings keine Zeitung mehr erschienen. Bei einer | |
[3][Durchsuchung der Redaktionsräume] am 31. August 2022 beschlagnahmte die | |
Polizei sämtliche Rechner. Die Redaktion, zu diesem Zeitpunkt nur aus zwei | |
Gefangenen bestehend, wurde aufgelöst. Der verantwortliche Redakteur soll | |
die Technik des Lichtblick dazu missbraucht haben, betrügerische Geschäfte | |
zu begehen. | |
9.00 Uhr, ein nüchterner Seminarraum in der Teilanstalt V. In Kleingruppen | |
werden die Gefangenen von Beamten aus anderen Häusern zugeführt. Seit | |
Dezember findet der Unterricht statt, den die taz Panter Stiftung | |
finanziert. Einmal in der Woche, viereinhalb Stunden. Von 14 Männern, die | |
den Workshop begonnen haben, sind noch acht dabei. Steffen, 33, ist der | |
Jüngste, Peter, 62, der Älteste. Wie die meisten in diesem Seminar verbüßen | |
die beiden lebenslange Freiheitsstrafen. | |
Ansage durch die Lautsprecheranlage: „Gebäudereiniger zur Kontrolle. | |
Gebäudreiniger zur Kontrolle.“ | |
Zwei Teilnehmer, Bär und Franco*, sitzen in Sicherungsverwahrung. Eine | |
Maßnahme, die bei besonders schweren Straftaten im Anschluss eine | |
Freiheitsstrafe verhängt werden kann. | |
Eigentlich besteht die Lichtblick-Redaktion aus fünf Leuten. Wenn | |
Mitglieder ausscheiden, war es bisher immer so, dass es noch eine | |
Rumpfredaktion gab, die die Nachrücker anlernen konnte. Dass alle Stellen | |
vakant sind und mit Hilfe von außen neu besetzt werden müssen „das gab es | |
noch nie,“ sagt Rafael Galejew. Der Justizbedienstete ist in der JVA Tegel | |
für die Öffentlichkeitsarbeit und damit auch für die Belange des Lichtblick | |
zuständig. Die unzensierte Zeitung bereite zwar der Anstalt gelegentlich | |
Probleme, sei auch immer wieder ein Ärgernis, aber insgesamt zu wichtig, um | |
sie eingehen zu lassen. „In der deutschen Vollzugslandschaft ist das ein | |
Unikat“, sagt Galejew. | |
Für beide Seiten ist es ein ungewöhnliches Experiment. Die taz Panter | |
Stiftung hat vielfältige Erfahrungen bei der Gewinnung von | |
Nachwuchsjournalisten. Aber dem Knast-Apparat unter die Arme greifen? „Wir | |
würden das nicht tun, wenn es sich nicht um eine unzensierte unabhängige | |
Zeitung handeln würde“, sagt Vorständin Konny Gellenbeck. | |
Anders als sonst ist die Begrüßung an diesem Morgen in dem Seminarraum | |
verhalten. Wie ein Lauffeuer hat sich der Suizid unter den 700 Insassen von | |
Tegel herumgesprochen. Auch Peter, der sonst immer gute Laune verströmt, | |
ist einsilbig. Einer fehlt: Adrian. Der Gefangene, der sich das Leben | |
genommen hat, war auf seiner Station. Für die Pilotausgabe des Lichtblick, | |
die im Laufe des Workshops entsteht, schreibt Adrian später einen Nachruf. | |
Interview-Übungen stehen auf dem Programm. In Kleingruppen sollen sich die | |
Gefangenen gegenseitig zu dem neuen Haftraummediensystem, Hamsy genannt, | |
befragen. In der Berliner Frauenhaftanstalt wird das System schon erprobt: | |
In den Zellen können Videotelefonate geführt und ausgewählte Internetseiten | |
aufgerufen werden. Als nächstes soll in der JVA Tegel ein Probebetrieb | |
starten. | |
Bär: „Wie viele Fragen?“ | |
Peter: „Fang mit einer an.“ | |
Sabina: „Kommt drauf an, wie lange dein Gegenüber quatscht.“ | |
Sabina Zollner, taz, leitet den Workshop. Auch das Programm hat sie | |
ausgearbeitet. Sechs Kolleginnen und Kollegen aus Redaktion, Archiv und | |
Layout übernehmen im Wechsel Unterrichtseinheiten. Zwei, drei tazler sind | |
mit Zollner jeweils in Tegel. | |
Und dann ist da noch eine stille Beobachterin: Sibylle Arndt, langjährige | |
Projektleiterin des freien [4][Gefangenentheaters aufBruch]. Weil sie dabei | |
ist, hat die Anstaltsleitung davon abgesehen, einen Beamten mit in den Kurs | |
zu setzen. Arndt kennt die Abläufe im Gefängnis, weiß, wo die Grenzen sind | |
bei der Arbeit mit Gefangenen. Aber auch „die Jungs,“ wie sie die | |
Inhaftierten nennt, schätzen sie. Die Neutralität des Seminars ist so | |
gewahrt. | |
Dennis interviewt Nima: | |
Dennis: „Hast du eine Ahnung, wann das Hamsy kommt?“ | |
Nima: „Nichts gehört.“ | |
Dennis: „Hab ich mir gedacht. Wir wissen wie immer leider nichts.“ | |
Nima: „Is überfällig, würde mega viel erleichtern. Die ganze Kommunikation. | |
Man würde damit vielleicht auch den Handyschmuggel unterbinden.“ | |
Computer und Handys sind in Gefängnissen verboten. Der gesamte Workshop | |
findet analog statt. Die Gefangenen schreiben ihre Übungen mit der Hand, | |
was auch das Redigat erschwert. Die Besuche im Knast fühlten sich an „wie | |
eine Zeitreise in die 90er Jahre“, sagt ein taz-Redakteur. | |
Dass es dennoch Handys gibt, steht auf einem anderen Blatt. In jedem Knast | |
ist das so. Allein in den acht Berliner Gefängnissen wurden 2021 laut | |
Justizverwaltung 1.154 Mobilfunkgeräte beschlagnahmt, davon 166 in Tegel. | |
Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Wo eins weg ist, taucht bald ein | |
neues auf, ist die Erfahrung. Was soll das Verbot dann noch? Er verstehe | |
das Bedürfnis nach Kommunikation, sagt Galejew. Aber mit den Geräten würden | |
auch Straftaten begangen – betrügerische Einkäufe, Kinderpornografie, | |
Drogenhandel, Heiratsschwindeleien. | |
Nima, 42, Jahre schwarzer Zopf, Jogginganzug, ist der einzige im Seminar | |
mit Migrationshintergrund. Neun Jahre hat er noch offen. Der Workshop, sagt | |
Nima, sei für ihn „eine geistige Herausforderung“. Die Leute auf seiner | |
Station könnten nicht mal bis zehn zählen. Mit seinen lakonischen Sprüchen | |
sorgt Nima im Unterricht oft für Erheiterung. Ob er wirklich Redakteur | |
werden will oder nur wegen der Abwechselung da ist, ist schwer zu | |
durchblicken. | |
Dafür, dass nur fünf der acht Seminarteilnehmer Redakteure werden können, | |
verlaufen die Vormittage erstaunlich solidarisch. Die Anstaltsleitung wird | |
am Ende diejenige sein, die entscheidet. Die tazler können Vorschläge | |
machen, wen sie unter Gesichtspunkten wie Schreib- und Teamfähigkeit für | |
geeignet halten. Letztendlich werden aber Sicherheitsüberlegungen den | |
Ausschlag geben. Von Anfang an wurde das so kommuniziert. Alle wissen das. | |
Es ist eine diskussionsfreudige Gruppe. „Sehr intensiv und mitteilsam“ | |
erlebe sie die Gefangenen, sagt eine taz-Redakteurin. Die Suche nach | |
Rubriken für den neuen Lichtblick gewährt Einblicke in die Tegeler | |
Subkultur: Dass Topfpflanzen verboten sind, weil in der Erde Drogen und | |
Sim-Karten versteckt werden könnten. Haarschneidemaschinen, weil sie zur | |
Tätowiermaschine umfunktioniert werden könnten. Eine neue Rubrik wird | |
geboren: „Der Tegliche Wahnsinn“. | |
Eine große Verantwortung, aber auch große Erwartungen lasten auf einer | |
Lichtblick-Redaktion. Für die Mitgefangenen ist die Zeitung der | |
Kummerkasten, doch Tegel ist kein Ponyhof. Körperlich schwache und | |
empfindsame Gefangene haben es schwer. Die zwischenmenschlichen | |
Verhältnisse sind vom Gedanken des eigenen Vorteils regiert. Die | |
vorherrschende Subkultur ist gewalttätig, intrigant und böse. | |
Aber auch nicht jeder Bedienstete ist ein guter Mensch. Der Lichtblick ist | |
eine Instanz, die von Missständen erfährt, die gemeinhin nicht nach außen | |
dringen. Keine Stelle in dem hermetisch abgeriegelten Vollzugssystem kann | |
so wirksam agieren wie der Lichtblick. Das gefällt natürlich nicht jedem. | |
Die Unterstützung der Anstaltsleitung zu haben, bedeutet nicht, keine | |
Widersacher zu haben. Einst wie jetzt gibt es Vollzugsmitarbeiter, denen | |
der Lichtblick ein großer Dorn im Auge ist. | |
Die Idee, die taz zur Wiederbelebung der Gefangenenzeitung nach Tegel zu | |
holen, kommt von Olaf Heischel, Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirats, | |
einem unabhängigen Gremium. Bei einem Treffen mit der Anstaltsleitung im | |
Oktober werden dann Nägel mit Köpfen gemacht. Zu diesem Zeitpunkt gibt es | |
schon eine Liste von Interessierten, doch erfahrungsgemäß springen später | |
viele wieder ab. Sibylle Arndt kennt das vom Gefangenentheater, sie schlägt | |
einen „Fischzug“ durch die Häuser vor. | |
Und so zieht zwei Wochen später eine Gruppe von tazlern, angeführt von | |
Arndt und dem Regisseur des aufBruch, Peter Atanassow, durch die | |
Teilanstalten. Flyer mit der Einladung zu einer Informationsveranstaltung | |
im Kultursaal der JVA werden verteilt. | |
Arndt und Atanassow erweisen sich als wahre Türöffner. Begeisterung schlägt | |
ihnen entgegen. Seit 1997 gibt es das Gefangenentheater. Viele Insassen | |
haben schon mitgespielt. Wann wieder Proben seien, werden sie bestürmt. | |
Hier ein Schulterklopfen, da eine Umarmung, ein kurzer Plausch. | |
Auf den dunklen Fluren riecht es nach Essen, in den Stationsküchen wird | |
gekocht. Die Türen zu den Zellen stehen offen, Fernseher laufen, an den | |
Wänden hängen Familienfotos neben Pin-ups, ein Gebetsteppich ist | |
ausgerollt. Insassen schlappen in Jogginghosen, T-Shirt und Badelatschen | |
durch den Gang. Ein alter gebrechlicher Mann, der uns später als „Kurtchen“ | |
vorgestellt wird, baut sich in seiner Zellentür auf, als er Arndt und | |
Atannasow sieht, und rezitiert einen Vers von Heiner Müller, den er einst | |
in einem Theaterstück aufgesagt hat. Es ist eine berührende Szene, die viel | |
über die Bedeutung des Theaters für die Gefangenen sagt. | |
Am Ende des Fischzugs stehen 32 Gefangene auf der Liste. Zu der | |
Informationsveranstaltung am 21. November im Kultursaal, einem seelenlosen | |
Raum, wo wir einen Stuhlkreis aufgebaut haben, kommen 21 Inhaftierte. | |
Gleich zu Anfang, als bekannt wird, dass die Anstalt das letzte Wort haben | |
wird bei der Auswahl der künftigen Redakteure, zieht ein Drittel murrend | |
wieder ab. | |
Je eher sich die Spreu vom Weizen trenne, um so besser – Arndt ist da ganz | |
pragmatisch. Auch beim Theater sei das so. „Von Anfang an die Latte | |
hochlegen, straffes Programm und damit die geeigneten Leute binden“, rät | |
sie den tazlern für ein Gelingen des Workshops. | |
Als es in Tegel im vergangenen Jahr erstmals hieß, eine neue Redaktion | |
werde gesucht, gehörte Dennis zu den ersten, die sich meldeten. Im Workshop | |
ist der kräftige Mann, lebenslänglich, seit 2016 in Tegel, einer der | |
Stilleren. Der 58-Jährige, Zopf, Bart, tätowiert, unter dem Auge eine | |
Knastträne, ist von Beruf Tischler, jetzt arbeitet er in der | |
Schulbibliothek. Er sei ein Kämpfer, sagt er über sich. „Auch wir hier | |
haben ein zweite Chance verdient“. Alle Lichtblick-Hefte der letzten Jahre | |
habe er in seiner Zelle gesammelt. | |
Der Lichtblick war lange eine Monatszeitung, inzwischen erscheint er | |
viermal im Jahr bundesweit in einer Auflage von 7.500 Heften. Nicht nur | |
Inhaftierte lesen das Blatt. Es soll 60.000 Digitalabonnenten geben, was | |
zeigt, dass es doch noch eine Reihe Menschen gibt, die sich für die | |
Gefängnisse interessieren. | |
Inhalt und Aussehen unterliegen großen Schwankungen. Manchmal ist die | |
Zeitung hochpolitisch, dann wieder flach und trivial. In den ersten | |
Jahrzehnten war sie schwarz-weiß, dann Hochglanz und farbig. Seitenfüllende | |
Urteile der Strafvollstreckungskammern und eine Kontaktbörse mittels | |
Chiffre, die in vielen deutschen Knästen Anklang findet, sind fester | |
Bestandteil. Eine Weile zierte auch ein halbnacktes Girl den Mittelteil. | |
Das Niveau der Zeitung steigt und fällt mit der jeweiligen Redaktion. Schon | |
immer war das so. | |
Die Sonne ist hinter den Wolken hervorgekrochen. Stimmengemurmel im Raum, | |
Gefangene und tazler arbeiten in Kleingruppen. Ab und zu mal ein Lachen. | |
Die kleine Pinie im Hof vor dem Fenster ist voller Spatzen. Gartenarbeiter | |
mit Schubkarren wuseln herum. Ein Ort, der überall auf der Welt sein | |
könnte. | |
Ein taz-Redakteur kommt verspätet zum Workshop. Eine halbe Stunde habe die | |
Einlassprozedur an der Pforte gedauert, stöhnt er. | |
Nima: „Wir brauchen länger, um rauszukommen.“ | |
Dass die Sicherheit bei der Auswahl groß geschrieben wird, hat einen | |
Hintergrund: Lichtblick-Redakteure haben große Privilegien. Mit einem | |
grünen „Läuferausweis“ können sie sich innerhalb der Anstalt frei bewegen | |
und sogar Gefangene in ihren Hafträumen aufsuchen. Nur Sicherheitsbereiche | |
wie Drogenabschirmstation und Arrestzellen, Bunker genannt, sind auch für | |
sie tabu. | |
Auch die Redaktionsräume sind großzügig ausgestattet: Mit dem | |
Telefonanschluss können Gespräche deutschlandweit ins Festnetz geführt | |
werden. Seit 2011 hat die Redaktion einen E-Mail-Account, seit 2021 Zugang | |
zum Internet in getunnelter Form: Soziale Medien, Verkaufs-, | |
Datingplattformen und Ähnliches sind gesperrt. Es gibt Monitore, Drucker | |
und ein Faxgerät. Die beschlagnahmten Rechner sind noch bei der Kripo. | |
Mittlerweile sind neue bestellt. Sobald die Geräte eingetroffen sind, was | |
im April erwartet wird, könne die neue Redaktion die Arbeit aufnehmen, sagt | |
Rafael Galejew. | |
Unter einer gewissen Haftstrafe ergebe es keinen Sinn, beim Lichtblick | |
anzuheuern, sagt der 59-jährige Justizbedienstete, der seit 2015 in Tegel | |
für die organisatorischen Belange des Lichtblick zuständig ist. Mindestens | |
drei Jahre Reststrafe sollten es schon sein, sonst lohne sich die | |
Einarbeitung nicht. | |
Die Anstalt stellt die Technik, bezahlt die Druckkosten und Löhne. In der | |
dreimonatigen Probezeit verdient ein Redakteur 17,75 Euro am Tag. Nach der | |
Festanstellung 19,65 Euro – Lohnstufe 5, die höchste im Justizvollzug. Ein | |
minimaler Anteil für die Arbeitslosenversicherung geht noch ab. | |
Gerechte Entlohnung im Knast – für die Pilotausgabe hat Dennis dazu einen | |
Artikel vorbereitet. Seit einem Jahr warten deutsche Gefängnisinsassen nun | |
schon darauf, dass das Bundesverfassungsgericht über die Klage eines | |
Gefangenen entscheidet. | |
Alte Ausgaben des Lichtblick liegen auf dem Tisch des Seminarraums, | |
darunter auch die letzte vor dem Cut. „Rechtsstaat oder wohlfeile Hülse“? | |
steht auf dem Titelblatt, garniert mit einer kopflosen Justizia, die von | |
drei kleinen Fotos umgeben ist. Eines zeigt [5][Julian Assange]. | |
Was war am alten Lichtblick gut, was schlecht? Darum geht es im Workshop | |
immer wieder. Was für ein Statement soll in der Pilotausgabe gesetzt | |
werden? „Was wollt ihr wie anders machen?“, fragen die tazler. Eine | |
Kleingruppe beschäftigt sich mit der grafischen Gestaltung, andere machen | |
eine inhaltliche Analyse. In großer Runde werden die Ergebnisse diskutiert. | |
Dennis: „Hochglanz stinkt.“ | |
taz-Layouter, 65 Jahre alt, schwarzer Hoody mit der Aufschrift „Arroganz | |
Berliner“: „ Da kannste aber mal mit deinen Butterfingern drüber. Außerdem | |
brauchste ein bisschen Gewicht, sonst hat man nichts in der Hand.“ | |
Nima: „Wenn nur Quatsch drin steht, kann das Papier noch so gut sein.“ | |
Negativ- und Positivlisten werden angefertigt. Natürlich soll der | |
Lichtblick den Finger weiterhin in die Wunde legen, aber er soll auch | |
überraschen. Zu viel Egotrip in den alten Ausgaben. Das Inhaltsverzeichnis | |
muss übersichtlicher, Abkürzungen erklärt werden: AGST? ZMA? Die | |
ellenlangen Gerichtsurteile „liest kein Schwein“. Außerdem seien 99 Prozent | |
der Beschlüsse im Land Berlin sowieso Beschlüsse gegen die Gefangenen. | |
„Meckern muss Hand und Fuß haben“, sagt Michael, 51 Jahre, der noch knapp | |
drei Jahre Haft offen hat und vom Aussehen auch in irgendeinem Amtszimmer | |
sitzen könnte. „Nicht jeder Beamte ist ein Arschloch, nicht jeder | |
Gefängnisarzt ein schlechter Arzt.“ Michael hat für die Pilotausgabe einen | |
Text über das Anstaltsessen geschrieben: „Hungern im Betrieb“. Die Zustän… | |
ließen sehr zu wünschen übrig, sagt er, „aber ich bin auch selbst | |
verantwortlich dafür, dass ich hier bin“. | |
Konsens ist: Die Kontaktanzeigen bleiben. Nur noch ausgesuchte | |
Gerichtsurteile werden abgedruckt. Aus der Rubrik „Tegel intern“ wird der | |
„Tegliche Wahnsinn“. | |
„Tegel intern“ existiert seit der ersten Lichtblick-Ausgabe, erschienen am | |
25. Oktober 1968. Die mit der Studentenbewegung einhergehende | |
Liberalisierung der Bundesrepublik hatte vor den Toren der JVA Tegel nicht | |
halt gemacht. Es war der damalige Anstaltsleiter Wilhelm Glaubrecht, der | |
die unzensierte Gefangenenzeitung ins Leben rief. 1.600 Gefangene saßen | |
damals in Tegel ein. In den Ende den 19. Jahrhunderts in panoptischer | |
Bauweise errichteten roten Backsteinhäusern gab es noch ein Zuchthaus. | |
Auf einer DVD sind die alten Ausgaben dokumentiert. Die Seiten sind | |
vergilbt, manche Buchstaben kaum noch zu entziffern. Die Artikel wurden auf | |
Schreibmaschine getippt und mit Matrize abgezogen. Aufbruchstimmung und | |
Euphorie der damals noch achtköpfigen Redaktion sind auf allen Seiten zu | |
spüren. „Der Lichtblick wird oftmals harte Kritik üben, aber stets in | |
sachlicher und fairer Form“, heißt es im Editorial. Aber nicht nur eine | |
reine Knastzeitung werde man sein, „denn dann würde er mit der Zeit | |
langweilig“. | |
Es gibt eine Rubrik „Twens“, die mit einer Schallplatte illustriert ist. | |
Ein Redakteur namens Peter Hoppe stellt sich als Jahrgang 1942, genannt | |
Beatles-Pit vor. Er habe die Seite für junge Menschen freigekämpft, | |
schreibt er. | |
Schon in der zweiten Ausgabe, einen Monat später, feiert die junge | |
Redaktion erste Erfolge. „Niemals hätten wir gedacht, dass der Lichtblick | |
solchen Anklang findet.“ Gemeint sind die Mitgefangenen. Aber auch die | |
Anstaltsleitung hat reagiert: Die Kürzung der Paket-ration sei | |
zurückgenommen worden. „Wie in westdeutschen und ostzonalen Strafanstalten“ | |
auch könnten nun Tegeler Insassen wieder zwei Pakete, jeweils fünf Kilo | |
schwer, bekommen; eins zum Geburtstag und eins zu Weihnachten. Und | |
Beatles-Pit verkündet, dass er es geschafft habe, einen DJ nach Tegel zu | |
holen, der einmal die Woche über die Lautsprecheranlage Platten für die | |
Insassen auflegen werde. | |
Ansage durch die Lautsprecheranlage: „Gebäudereiniger zur Kontrolle. | |
Gebäudereiniger zur Kontrolle.“ | |
taz-Archivarin: „Gibt es hier eigentlich auch manchmal Musik?“ | |
Bär: „Hatten wir früher Mal.“ | |
Der Lichtblick ist eine unzensierte Gefangenenzeitung – so steht es im | |
Statut. Aber stimmt das wirklich? „Niemand guckt sich das vorher an“, | |
versichert der Justizbedienstete Galejew. „Auch der Anstaltsleiter weiß | |
vorher nicht, was drin steht.“ In der deutschen Gefängnislandschaft sei der | |
Lichtblick damit wirklich einzigartig. | |
Wenn andere Gefangenenzeitungen im Bundesgebiet von sich behaupten, | |
unzensiert zu sein, würden diese in der Regel von Initiativen außerhalb der | |
Gefängnisse gemacht, sagt Galejew. Das sei auch daran zu erkennen, wer als | |
presserechtlich Verantwortlicher im Impressum ausgewiesen sei. Im | |
Lichtblick sei das stets der verantwortliche Redakteur, mit vollem Namen. | |
In den vergangenen 25 Jahren sei es zweimal vorgekommen, dass die Zeitung | |
„nach dem Druck vor der Auslieferung angehalten“ worden sei, sagt Galejew. | |
Einmal, weil eine Gruppenleiterin namentlich an den Pranger gestellt worden | |
sei. Das andere Mal seien Vollzugsbedienstete auf dem Titel mit KZ-Wächtern | |
verglichen worden. | |
Auch Schmerzensgeldforderungen gegen den verantwortlichen Redakteur habe es | |
in Einzelfällen gegeben. Die Verfahren seien mit einem Vergleich beendet | |
worden, die Behauptung sei richtig gestellt worden. | |
Die JVA Tegel werde von anderen Anstalten manchmal erstaunt gefragt, „warum | |
tut ihr euch das an“, erzählt Galejew. Selbst wenn es immer mal wieder | |
Ärger wegen der Zeitung gebe, die Anstaltsleitung stehe zum Lichtblick: „Es | |
war und ist eine gute Entscheidung, ein Ventil zu schaffen, dass | |
Inhaftierte ihren Unmut loslassen und sich artikulieren können.“ | |
Weil der Seminarraum in der Teilanstalt V belegt ist, treffen wir uns in | |
der Sicherungsverwahrung, einem 2014 eröffneten modernen Bau, der auf dem | |
Anstaltsgelände extra gesichert ist. Bär und Franco sind dort | |
untergebracht. Franco, lange strähnige Haare, empfängt mit dem Satz: „Man | |
nennt das hier den lebendigen Sarg“. Die Aussichten für | |
Sicherungsverwahrte, entlassen zu werden, sind gering. | |
Bär ist im Workshop der mit der längsten Knasterfahrung. Seit 1984 sitzt er | |
ein. Der 56-Jährige, kräftige Statur, getönte Nickelbrille, Tattoos an den | |
Armen, Silberkette mit Bärenkopf, hat schon viel geschrieben, er bezeichnet | |
sich als Buch-Autor. Bär heißt so, weil er vernarrt in Bären ist. 256 | |
Teddybären habe er in seinem Kinderzimmer gehabt, erzählt er. Zum | |
Unterricht kommt er immer mit einem Köfferchen, in dem die | |
Schreibutensilien verstaut sind. | |
Beim Workshop schreibt Bär freiwillig das Protokoll. Auch als es darum | |
geht, auf dem Tafelschreibblock mit Filzstift die Seitenfolge der geplanten | |
Pilotausgabe aufzumalen, übernimmt Bär den Part. Der taz-Layouter braucht | |
Klarheit, er wird das erste Heft in der taz fertig machen, bevor es in den | |
Druck geht, weil es in Tegel noch keine Geräte gibt. | |
Es geht hoch her. Bär muss streichen und ergänzen. Alle reden | |
durcheinander. Nima hat einen Text über Preisexplosion geschrieben. Adrian | |
hat sich mit dem Haftraummediensystem befasst, Peter braucht zwei Seiten | |
für seine philosophische Betrachtung: „Selbstbestimmung oder Selbstbetrug“? | |
Es gibt einen Rückblick, einen Ausblick und, und, und. Wo soll das alles | |
hin? | |
Sabina: „Das wird ja ein Wälzer.“ | |
Peter ist eine ganz besondere Erscheinung. Musisch und kunsthistorisch | |
gebildet, zuvorkommend, gepflegt. Die Stiefel glänzen, er trägt einen | |
Seidenschal, schreibt seine Texte mit Füller. Wenn es einen intellektuellen | |
Kopf der Gruppe gäbe, dann wäre es der 62-Jährige mit dem kahl rasierten | |
Schädel. Peter spricht Schwitzerdütsch. Seit gut fünf Jahren sitzt er in | |
Tegel. In der Schweiz, wo er früher lebte, habe er „eher in abgehobenen | |
Sphären gelebt“, sagt er. Bei der Oper „Fidelio“, die das Gefangenenthea… | |
aufBruch 2020 in Kooperation mit der Philharmonie auf die Knastbühne | |
gebracht hat, war er der Pizarro, der Bariton. Nicht immer ist es einfach, | |
Peters Gedankengängen zu folgen, aber seine Fröhlichkeit steckt an, und er | |
ist keiner, der auf die anderen von oben herab blickt. „Der Knast hat mich | |
geerdet“, sagt er. | |
Die Gefangenen üben Kolumnenschreiben. In Schönschrift, krakelig, an der | |
Grenze zum Unleserlichen. Steffen, der Jüngste in der Runde, ein ernster | |
nachdenklicher Typ, der so wirkt, als habe er an einer schweren Bürde zu | |
tragen, hat sich am „Teglichen Wahnsinn“ versucht. „Zum Teufel mit der | |
Wahrheit – es lebe das Klischee“, ist der Text überschrieben. Der Workshop | |
sensibilisiere ihn für sein Umfeld, sagt Steffen. „Er zwingt mich, Dinge zu | |
hinterfragen“. | |
Was er meine, wenn er den Knast als „Klischeefabrik“ bezeichne, wird er in | |
der Feedbackrunde gefragt. | |
Steffen: „Wenn mich ein Beamter verwundert fragt: Sie lesen auch?“ | |
taz-Redakteurin: „Seid Ihr selbst auch Teil der Klischeefabrik?“ | |
Steffen: „Man merkt, wie sich die Sprache ändert. Man mimt den Harten, | |
obwohl man vielleicht weich ist. Ein harter Kerl, das ist auch die | |
Erwartungshaltung von Frauen, die auf Kontaktanzeigen von Gefangenen | |
antworten.“ | |
Warum, wieso, weshalb – die Taten sind in dem Workshop kein Thema. Im | |
Hinterkopf ist präsent, dass es Gründe geben muss für diese langen Strafen. | |
Aber die tazler fragen nicht danach. Sie sind hier nicht als Journalisten, | |
sondern als Lehrer und Ratgeber in Zeitungsfragen.Auch die eine oder andere | |
Erfahrung der eigenen taz-Geschichte fließt ein. | |
taz-Layouter: „Ihr müsst Regeln aufstellen, sonst kriegt ihr euch in der | |
Redaktion permanent in die Wolle. Einer muss der Bestimmer sein. Das | |
Problem ist nur, dass es den Anführer in der taz eigentlich nicht gibt.“ | |
27. März, Schlussredaktion. Wir treffen uns zum vorerst letzten Mal. Auf | |
der Suche nach Fehlern werden die Kopien mit den Texten durchgegangen. Der | |
Layouter hat seinen Rechner mitgebracht. Alle stehen im Kreis um ihn herum | |
und tüfteln an der Titelseite: „Lichtblick ist back“ oder „Das Warten hat | |
ein Ende“? Am besten beides. Zum Schuss eine allgemeine Feedbackrunde. | |
Sabina: „Mein Eindruck ist, ihr seid ein Stück weit zusammengewachsen.“ | |
Es wird wohl Mai werden, bis die Zeitung gedruckt ist und ausgeliefert | |
werden kann. Zunächst heißt es Warten auf die Entscheidung der Anstalt: Wer | |
wird Redakteur? Mitte April soll sie kommen. | |
Eene meene Muh und raus bist du. Nima ist schon raus. Ein paar Tage vor dem | |
letzten Workshoptag wurde er in eine andere Haftanstalt verlegt, aus | |
vollzugsinternen Gründen – mehr war nicht zu erfahren. So schnell kann das | |
gehen. Jetzt sind es nur noch sieben. | |
Epilog | |
Sibylle Arndt: „Muss man eigentlich zustimmen, wenn man verlegt wird?“ | |
Gefangene im Chor: „Nein“!!! | |
*Name geändert | |
Die Autorin hat den Workshop als Reporterin begleitet. | |
2 Apr 2023 | |
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Gefangenen-Zeitung „Lichtblick“: Ex-Redakteure vor Gericht | |
Zwei ehemalige Redakteure aus Tegel müssen sich wegen eines Sex-Artikels | |
über eine Justizmitarbeiterin verantworten. Das Verfahren wird eingestellt. | |
Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel: Dünn, aber gehaltvoll | |
Nach neun Monate Pause ist der „Lichtblick“ wieder erschienen. Deutschlands | |
einzige unzensierte Gefangenenzeitschrift hat eine neue Redaktion. | |
Strafvollzug Berlin: Redakteure gesucht | |
Die unabhängige Gefangenenzeitung „Lichtblick“ soll so schnell wie möglich | |
wieder arbeitsfähig werden. Ein runder Tisch wird unterstützend tätig. | |
Strafvollzug Berlin: Es fehlt dem Knast der Lichtblick | |
Wegen krimineller Handlungen eines Redakteurs wurden die | |
„Lichtblick“-Redaktionsräume durchsucht. Seit vier Wochen ist die | |
Gefangenenzeitung dicht. | |
Strafvollzug Berlin: 50 Jahre „Lichtblick“ | |
Deutschlands einzige unabhängige Gefangenenzeitung feiert Jubiläum. Warum | |
aber hat der grüne Justizsenator dem Blatt noch nie ein Interview gegeben? |