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# taz.de -- Konzerthaus-Intendant über Neue Musik: „Du wirst nie alle mitneh…
> Neue Musik ist nichts für Sie? Diesen Glauben will ein Festival in
> Hamburg erschüttern. Warum, erklärt Elbphilharmonie-Chef Christoph
> Lieben-Seutter.
Bild: Sieht schlimmer aus, als es klingt: Komponist Jörg Widmann steht am Sams…
taz: Herr Lieben-Seutter, warum passt ein Festival, gewidmet der Musik des
21. Jahrhunderts, besonders gut in die Elbphilharmonie?
Christoph Lieben-Seutter: Die Elbphilharmonie ist ein Konzerthaus des 21.
Jahrhunderts, da muss die aktuelle Musik eine wichtige Rolle spielen. Wir
hatten das Festival auch schon für 2021 geplant …
… woraus [1][aus den naheliegenden Gründen] dann nichts wurde.
Jetzt sind die Schwerpunkte ein bisschen verschoben: Das Festival war
ursprünglich noch mehr auf Orchestermusik im Großen Saal fokussiert. Die
Idee kam uns, weil Neue Musik in der Elbphilharmonie besonders gut klingt
und oft auch sehr gut angenommen wird vom Publikum.
Wie erklären Sie sich das?
Das liegt einerseits an der Akustik speziell des Großen Saals: sehr klar,
sehr räumlich, man hört alle Details auf sinnliche Weise. Und dann ist das
ganze Gebäude ein futuristisches Versprechen. Die Architektur signalisiert
Innovation, dazu kommt die fantastische Location. Die Leute denken sich:
Wow, das ist aber abgefahren hier.
NDR-Chefdirigent Alan Gilbert hat [2][dem Elbphilharmonie Magazin gesagt],
dass die Neue Musik mitunter eine Art „Feigenblatt“-Funktion habe.
Einerseits etwas Zeitgenössisches, vermeintlich Sperrigeres – und etwas
Versöhnlicheres aus dem Kanon: Das war lange ein beliebtes Format, oder?
Das ist ja auch nicht per se falsch. Die zeitgenössischen Komponisten
wollen nicht für den Elfenbeinturm komponieren. Sie machen Musik, die eine
Fortführung sein soll von über 500 Jahren Musikgeschichte. Und deswegen
sind viele von ihnen froh darüber, dass sie im Kontext von Klassikern
aufgeführt werden. Das Feigenblatt kommt dann ins Spiel, wenn man merkt:
Für die auf der Bühne ist die Neue Musik eine Pflichtübung; etwas, das man
halt machen muss. Wenn man merkt: Das Orchester hat eigentlich keine Lust,
hätte vielleicht ein paar Proben mehr nötig gehabt – und alle haben sich
eigentlich auf den Brahms nach der Pause konzentriert. Wenn aber das neue
Stück entsprechend ausgewählt, gut geprobt und mit der gleichen
Überzeugungskraft gespielt wird, halte ich diese Art Mischkonzerte nach wie
vor für sehr relevant und richtig. Und es gibt sie auch in der
Elbphilharmonie immer wieder.
Bei „Elbphilharmonie Visions“ nun soll gerade nicht Beethoven das Haus voll
machen.
Ja, da gibt es mal zehn Tage lang wirkliche Fokussierung. Es ist allerdings
ausdrücklich kein experimentelles Uraufführungsfestival. Solche sind auch
wichtig, aber es mangelt oft an Wiederaufführungen. Werke werden feierlich
– nicht immer unter den besten Bedingungen – uraufgeführt, alle sind mehr
oder weniger happy, vielleicht wird noch ein Preis übergeben. Danach
verschwindet das Stück in der Versenkung. Das wollten wir nun umdrehen.
Natürlich weiß man noch nicht genau, welche Werke der letzten 20 Jahre ihre
Zeit überdauern werden, aber wir präsentieren mal den Status quo. Es ist
ein Publikumsfestival, kein Komponistenfestival. Wir wollen dem Publikum
noch mehr von der Idee, der Aktualität und der Attraktivität
zeitgenössischer Musik vermitteln.
Ist das schwierig?
Die typische Beschwerde – Oh Gott, das ist ja keine Musik! – gibt es bei
uns schon auch mal. Aber wir haben so viele Konzerte erlebt, bei denen wir
selbst gar nicht fassen konnten, dass da über 2.000 Leute Standing Ovations
für ein neues Werk spenden, weil es sie ehrlich überzeugt hat. Du wirst nie
alle mitnehmen, Risiko gehört dazu. Aber die spannendsten Konzerte, die ich
in meinem Leben erlebt habe, waren immer die, bei denen etwas passiert ist,
mit dem ich überhaupt nicht gerechnet habe. Klar: Das kann auch mal schief
gehen. Aber es kann auch eine unglaubliche Bereicherung sein.
Was also im Leben an und für sich gilt, gilt dann konzentriert nochmal im
Konzertsaal … Es gibt im Festival-Programm mindestens ein Stück, [3][Brett
Deans] Oratorium „In this brief moment“, das ganz ausdrücklich angekündigt
wird mit Bezug zur Gegenwart: Es thematisiere den [4][„zerstörerischen
Einfluss des Menschen auf den Planeten“].
Ich finde es wichtig und gut, dass Komponisten sich den aktuellen Fragen
unserer Zeit stellen. Das macht auch klar, dass wir hier kein Museum
betreiben und nur schöne Meisterwerke in die Auslage stellen. Ob das dann
immer klappt? Ob das Publikum, wenn es ins Konzert geht, noch einmal mit
den täglichen Sorgen konfrontiert sein will? Die einen werden diese Art der
Auseinandersetzung bereichernd finden, andere werden sagen: Lass mich jetzt
mal in Ruhe mit Klimawandel, Krieg und den ganzen anderen Krisen.
Wie geht es Ihnen selbst?
Ich bin neugierig. Es ist spannend, wenn Komponisten aktuelle Themen in
Angriff nehmen. Es gibt Künstler, die sich sehr intensiv auseinandersetzen
mit den großen Herausforderungen speziell des Klimawandels. Zuletzt hatten
wir in der Laeiszhalle zum Beispiel ein sehr ambitioniertes Projekt von
Patricia Kopatchinskaja. Da waren viele im Publikum wirklich konsterniert
und haben gesagt: Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Konzert so berührt
oder dass man das so gut vermitteln kann. Das nun anstehende Werk von Herrn
Dean kenne ich noch nicht. Ich bin mir sicher, dass wir nach dem Konzert
darüber sprechen werden.
Wie klimaschonend arbeitet eigentlich Ihr Haus?
Die Elbphilharmonie wurde vor bald 20 Jahren geplant und ist kein
Vorzeigeprojekt, was Energieeffizienz betrifft, Aber dank der komplexen
Steuerungssysteme konnten wir dieses Jahr den Energieverbrauch bei Heizung
und Lüftung um rund 20 Prozent senken. Und dann gibt es die
CO2-Kompensierung von Flügen, die wir von Anfang an für unsere Künstler
übernommen haben sowie viele weitere kleinere Maßnahmen. Nachhaltigkeit in
diesem Sinn ist natürlich ein Riesenbedürfnis, sowohl der Mitarbeiter als
auch der Künstler und Orchester. Das Thema ist einfach gesellschaftlich so
relevant, dass du auf jeder Ebene damit konfrontiert wirst.
Worauf freuen Sie selbst sich im Festivalprogramm besonders?
Auf vieles! Besonders gespannt bin ich auf den Schweizer [5][Dieter
Ammann], von dem ich noch nie etwas live gehört habe, ich kenne nur
Aufnahmen: Super Pranke, sehr energiegeladener Komponist mit
Jazz-Background. Auch der Abend mit [6][Anna Thorvaldsdóttir] und [7][Hans
Abrahamsen]: Der Orchesterliederzyklus, den Abrahamsen für Barbara Hannigan
geschrieben hat, gilt als eines der besten Werke der letzten 20 Jahre, hat
Preise gewonnen, wurde überall gespielt – darauf, das endlich mal live zu
hören, freue ich mich. Und Thorvaldsdóttir gilt jetzt schon seit Jahren als
das heißeste Eisen, wenn es um eine neue Generation von Komponistinnen
geht. Da freue mich einfach auf die Begegnung mit der Musik und auch mit
der Künstlerin. Ich freue mich auf alle Konzerte!
2 Feb 2023
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## AUTOREN
Alexander Diehl
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