# taz.de -- Ein Treffen im Jenseits, phonstark orchestriert | |
> Halbzeitbilanz: Sir Simon Rattle kommt zum ersten Mal mit dem London | |
> Symphony Orchestra zu Besuch, Georg Nigl singt Rihm und Olga Pashchenko | |
> begleitet ihn | |
Bild: Sir Simon Rattle dirigiert am Mittwoch das London Symphony Orchestra in d… | |
Von Katharina Granzin | |
Als „Orchesterfestival“ wird das Musikfest manchmal bezeichnet, was es nur | |
unzureichend beschreibt. Die drei Wochen im September sind zwar die Zeit | |
des Jahres, in der sich in so kurzer Abfolge wie sonst nie namhafteste | |
Orchester Europas die Türklinke der Philharmonie in die Hand geben. Aber es | |
gibt auch noch andere, zum Beispiel immer wieder gefeierte Sängerinnen und | |
Sänger, die zu hören sonst nicht so häufig Gelegenheit ist. Früher, sagt | |
der österreichische Bariton Georg Nigl im Programmheft zu seinem Konzert, | |
hätten die großen Sänger mit ihren Soloprogrammen ganze Opernsäle gefüllt. | |
Heute dagegen ist schon erfolgreich, wer mit einem Liederabend den | |
Kammermusiksaal halb voll kriegt. Dort trat Nigl, der in Berlin vor zwei | |
Jahren in Wolfgang Rihms Oper „Lenz“ zu erleben war, am Montag zusammen mit | |
der russischen Pianistin Olga Pashchenko auf. Er hatte eine Uraufführung | |
dabei, ein Stück für Bariton und Klavier nach Gedichten von Andreas | |
Gryphius, von Rihm für Nigl komponiert. Der größere Programmteil des Abends | |
allerdings besteht in Schubert- und Beethoven-Liedern, die Pashchenko auf | |
einem raren historischen Hammerflügel begleitet. Es ist dies ein Klang, wie | |
man ihn nicht allzu oft in einem Konzertsaal hört, ein bisschen wie aus | |
einer anderen Dimension. Für den Gebrauch im bürgerlichen Salon gedacht, | |
unendlich viel weicher und geerdeter im Ton als ein moderner Konzertflügel, | |
tritt der Hammerflügel im Dialog mit dem Sänger bescheiden hinter dessen | |
Stimmkraft zurück. | |
Pashchenko nutzt diese zurückgenommene Ausgangsposition, um gleichsam im | |
Untergrund eine sehr eigenständige zweite Diskursebene zu behaupten, und | |
ist damit der leise Star der ersten Konzerthälfte. Georg Nigl läuft erst zu | |
voller Form auf, als er Rihm singen darf. „Vermischter Traum“ ist ein | |
bewegendes Stück, voller intensiver, jeden einzelnen Ton auskostender | |
Todesahnung, der Text aus dem 17. Jahrhundert eine nüchterne Betrachtung | |
der Endlichkeit des Lebens. Wolfgang Rihm hatte es nach einer Phase | |
schwerer Krankheit geschrieben. Die musikalische Intensität, mit der Nigl | |
das singt, strahlt auch auf den Rest des Abends aus und kommt Franz | |
Schubert zugute, mit dem der Sänger den Abend beschließt. | |
Eine weitere große Sängerin war am Mittwoch im großen Saal der Philharmonie | |
zu erleben, wo die Sopranistin Barbara Hannigan mit dem London Symphony | |
Orchestra auftrat – der erste Besuch des Orchesters gemeinsam mit seinem | |
Chefdirigenten Sir Simon Rattle nach dessen Abschied aus Berlin. Auch das | |
Stück, das Hannigan sang, war für sie geschrieben worden. Der dänische | |
Komponist Hans Abrahamsen hatte Worte der Ophelia vertont, Shakespeares | |
Text in einer vom Autor Paul Griffith redigierten Fassung. Bei Abrahamsen | |
endet Ophelias Selbstgespräch, das tastend nach einem menschlichen | |
Gegenüber sucht, in einer großen klanglichen Schnee-Meditation, auch hier | |
also das Todesmotiv als grundlegendes Moment. Hannigan singt die Partie, | |
deren punktuell schwindelerregende Höhen sie aus dem Nichts nehmen muss, | |
mit technisch perfekter Selbstverständlichkeit und kongenialer | |
Entrücktheit. Rattle dirigiert den mit expressiven Klangfarbflächen | |
arbeitenden Orchestersatz scheinbar sachlich, die Tempi sanft zügelnd, gibt | |
der Musik ihre atmosphärische Ausdehnung in der Breite. | |
Etwa das Gegenteil von all dem war nach der Pause mit Olivier Messiaens | |
„Éclairs sur l’Au-delà“ (Streiflichter über dem Jenseits) zu erleben. … | |
bei Rihm noch bei Abrahamsen kannte das musikalisch-lyrische Ich einen | |
metaphysischen Trost. Bei Messiaen dagegen ist praktisch alles Metaphysik. | |
Keine singenden Menschen hier in dem letzten Werk, das dieser begnadete | |
Ornithologe unter den Komponisten vor seinem Tod beenden konnte, dafür | |
viele Vögel – die bei Messiaen auch immer die Funktion von | |
Seelendarstellern haben – , tiriliert, gedudelt und gepfiffen von den | |
tollen BläserInnen aus London. Der dritte der elf Sätze ist dem | |
Prachtleierschwanz gewidmet, einem in Australien lebenden Vogel, dessen | |
sensationeller Schwanz (das Programmheft enthält eine hübsche Zeichnung) | |
geformt ist wie eine Leier. | |
Der 80-jährige Komponist hatte ihn auf einer Australienreise noch selbst | |
sehen können und soll sehr bewegt gewesen sein. Der gesamte | |
Orchesterapparat für die „Éclairs“ umfasst übrigens 128 MusikerInnen. Das | |
überwältigende – auch in der Phonstärke – Ohrenerlebnis legt beredt Zeug… | |
davon ab, dass Messiaen, anders als die Kollegen Rihm und Abrahamsen, keine | |
Schwierigkeiten mit der tröstenden Vorstellung hatte, im Jenseits auf | |
Christus zu treffen. | |
13 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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