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# taz.de -- Musikfestival in Hamburg: American Tension
> Beim Festival „Age of Anxiety“ spielte das NDR-Orchester US-amerikanische
> Musik des 20 Jahrhunderts. Mit dabei: Miles Davis und Chet Baker.
Bild: Nervös? Dieses Bild von NDR-Chefdrigent Alan Gilbert entstand 2017 bei g…
Amerika geht immer? Den Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert,
ausdrücklich verstanden als „Nation im Aufbruch“, widmete das
NDR-Hausorchester jetzt ein kleines Festival [1][in der Hamburger
Elbphilharmonie]: An sechs Terminen innerhalb von acht Tagen waren das vier
verschiedene Konzertprogramme, Klassik und zeitgenössische E-Musik, aber
auch Cool Jazz. Das NDR-Elbphilharmonieorchester begrüßte als Gast-Solisten
den Violinisten Leonidas Kavakos und Jean-Yves Thibaudet am Flügel sowie
als Dirigentin Marin Alsop. Ebenfalls beteiligt war die Bigband des
Senders, und die NDR-Reihe „das neue werk“ hatte das Kölner [2][Ensemble
Musikfabrik] eingeladen, spezialisiert auf zeitgenössische Komposition.
Eine Nation im Aufbruch? Sicher: Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das
große lange einfach (fälschlich) für leer erklärte Blatt, bereitstehend für
die Realisierung von Eingewanderten-Träumen, ja: ein ganzer Kontinent
denen, die ihr Glück machen wollen durch eigene Leistung (und wenig sonst).
Klingt nach Klischees? Ja, nach solchen, die widerlegt sein dürften; deren
Appeal mindestens etwas Lack gelassen hat, zuletzt, und das weißgott nicht
nur wegen dieses entsetzlich geschmacklosen Ex-Präsidenten.
„Wir wollen eine faszinierende, positive Seite der amerikanischen Musik
zeigen“, ließ Chefdirigent Gilbert vorab wissen. Daran ist bemerkenswert,
dass er selbst zwar US-Amerikaner ist, sich in seiner Karriere aber immer
wieder dagegen gesträubt hat, etwas spezifisch Amerikanisches zu
repräsentieren: „Ich wollte mich nie als amerikanischen Dirigenten
präsentieren“, so [3][zitierte ihn] dieser Tage der NDR. „Ich sehe mich als
einen Weltbürger, der sich in Europa, Asien oder in den USA gleich wohl
fühlt.“
Dass Aufbrechen nicht per se gut ist, dass mitunter aufbricht, wer das
muss, weil andere Übles wollen oder etwa der Hungertod droht: Das alles mag
man widerhallen finden im Titel de Ganzen: „Age of Anxiety“, Zeitalter der
Sorge, ja: der Angst. Das passt nun umso besser in die Gegenwart, auch wenn
die Angst-Zutaten gerade vielleicht nicht so sehr amerikanischer Provenienz
sind.
## „Abstraktes aus Kriegszeiten“
Als im Osten der Ukraine der Krieg Gestalt annahm, waren sie ja schon
wieder verklungen, die letzten Noten des Festival-Programms, den
reichlichen Applaus nicht zu vergessen: Samuel Barbers „Second Essay for
Orchestra“ (1942) waren am vergangenen Freitag [4][und Samstag gespielt
worden], dazu John Adams' „Fearful Symmetries“ (1988) und die 2. Sinfonie,
„The Age of Anxiety“, von Leonard Bernstein, Sohn eines ukrainischen
Einwanderers.
„Abstraktes aus Kriegszeiten“ also, wie Jürgen Ostmann den „Essay“ im
Programmheft nennt; dazu die teils geradezu komische Beinahe-Verballhornung
von Minimal-Music-Tropen vom bekennenden „gelangweilten Minimalisten“
Adams, eine Art Nebenprodukt seiner Oper „Nixon in China“, die in den
späten 80er-Jahren ja ihrerseits ein Stück Kalter-Kriegs-Geschichte
aufgriff: [5][Die Annäherungsversuche zwischen den USA und Mao] – wegen der
Rivalin UdSSR. Und dann sozusagen das Festival-Titelstück, Bernsteins
Bearbeitung des gleichnamigen Gedichts von W. H. Auden, ursprünglich
geschrieben 1947–49, nun gespielt in der bearbeiteten Fassung von 1965:
Text wie Sinfonie auf je eigene Weise gelungene Inszenierungen moderner
Verzweiflung, kollektiver wie individueller Sinnsuche und, ja: auch des
Trost-Findens.
Das Orchester schien Spaß zu haben an den merklichen Temperamentswechseln
dieses Programms, angeleitet von einer gut aufgelegten Marin Alsop, zu
deren Mentoren Leonard Bernstein zählt. Der Wahlkalifornier Jean-Yves
Thibaudet schlurfte wie direkt aus dem Schönheitsschlaf in Samtslippern an
den Steinway, wirkte – am zweiten Abend wenigstens – mitunter, als
telefoniere er seinen Part mal eben rein in den großen Hamburger Saal; aber
der Mann ist selbst dann noch ganz schön gut.
Eröffnet worden war „American Anxiety“ [6][am 11. und 12. Februar] mit dem
vielleicht naheliegendsten Namen: Wie wenig andere seiner Zunft und
Herkunft steht Aaron Copland für Amerika als Möglichkeitsraum; aich für die
Möglichkeit, dass es einen unproblematischen, nicht ausschließenden
Patriotismus geben könnte – und galt in der McCarthyÄra als
„unamerikanisch“. Da war vergessen, dass er
„Zweiter-Weltkriegs-Mooral-Booster“ (so das [7][National Public Radio
2005]) geschaffen hatte wie das nun aufgeführte „Lincoln Portrait“ (1942)
oder die „Fanfare for the Common Man“, gewissermaßen der Kern seiner jetzt
ebenfalls auf dem Festivalprogramm stehenden 3. Sinfonie.
Vervollständigt wurde das Programm dieser beiden Abende durch Samuel
Barbers „First Essay“ (1938) und Erich Wolfgang Korngolds Konzert für
Violine und Orchester D-dur, das unterstrich, wie viel Hollywoods
Soundtracks der europäischen Hochkultur verdanken; den Solisten hierbei,
Leonidas Kavakos, mochte das Hamburger Publikum kaum von der Bühne lassen.
Apropos Vollständigkeit: An Miles Davis und Chet Baker zu erinnern, an die
Geburt einer genuin US-amerikanischen Sache wie dem Cool Jazz, [8][wie es
nun die NDR-Bigband unter Jörg Achim Keller tat]: nur folgerichtig, will
man den Eindruck vermeiden, nur die sozusagen exilierten Verlängerungen von
allerlei europäischen Traditionen zu berücksichtigen.
Von einer Emanzipation, einer eigenen Formsprache, die ihrerseits in aller
Welt Spuren hinterließ, kündete schließlich auch das Programm, mit dem das
Ensemble Musikfabrik zum Festival beitrug: Da traf dann eine Komposition
für Plattenspieler von John Cage auf eine wiederum Cage'sche Ideen
aufgreifende Arbeit für Präpariertes Klavier von Joseph Lake und Elliott
Carters turbulentes Doppelkonzert für Cembalo, Klavier und zwei
Kammerorchester (1958–1961) auf die „Animate Objects“, für die sich Oscar
Bettison auch schon mal bei ganz alten, anarchischen Cartoon-Soundtracks
bedient.
26 Feb 2022
## LINKS
[1] /Elbphilharmonie/!t5040996
[2] https://www.musikfabrik.eu/de/
[3] https://www.ndr.de/kultur/musik/klassik/Alan-Gilbert-praesentiert-US-amerik…
[4] https://www.ndr.de/orchester_chor/elbphilharmonieorchester/Festival-in-der-…
[5] https://www.newstatesman.com/international-politics/2022/02/nixon-in-china-…
[6] https://www.ndr.de/orchester_chor/elbphilharmonieorchester/konzerte/Leonida…
[7] http://news.minnesota.publicradio.org/features/2005/05/03_morelockb_unameri…
[8] https://www.ndr.de/orchester_chor/bigband/NDR-Bigband-spielt-Cool-Jazz-in-d…
## AUTOREN
Alexander Diehl
## TAGS
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