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# taz.de -- Pilze in der Bauwirtschaft: Im Reich der Fungi
> Die Mikrobiologin Vera Meyer erforscht, wie Pilze die Probleme der
> Bauwirtschaft lösen könnten. Als Künstlerin feiert sie die Ästhetik der
> Myzelien.
Bild: Vera Meyer in ihrem Büro auf dem ehemaligen Werksgelände in Berlin-Wedd…
Berlin taz | Die Hände still zu halten, fällt Vera Meyer schwer. Beim Reden
gestikuliert sie, es ist zu spüren, dass die Biotechnologin und Mykologin
sich ihrer Hände gern bedient und neben der Forschungs- und Lehrtätigkeit
[1][auch künstlerisch arbeitet].
In Meyers Büro im vierten Stock der Forschungseinrichtungen der Technischen
Universität in Berlin-Wedding stehen auf einem Sideboard kleinere und
größere Skulpturen, die verschiedene Materialien wie Metall, Holz und Pilze
kombinieren. Ein Objekt ordnet drei Parasol-Pilze wie auf einem
Siegertreppchen an, der größte ragt in der Mitte hoch über Nummer zwei und
drei hinaus. „Champi(gn)ons“ heißt die Arbeit aus dem Jahr 2017. Die
Zellwände der Pilze hat Meyer mit Schellack fixiert.
„Ich will der Wissenschaft, die ich betreibe, ein Bild geben“, sagt Meyer.
Die künstlerische Arbeit ist für die Naturwissenschaftlerin keine
Kompensation, sondern Ausdruck der Leidenschaft für eine bislang
unterschätzte Sphäre, die Welt der Fungi, die zwischen Fauna und Flora ein
eigenes Reich darstellt.
Meyer hat sich den Pilzen verschrieben, sie prophezeit ihnen eine große
Zukunft. „Es steht uns im Moment gut an, visionär zu denken“, sagt sie.
„Angesichts der Klimakrise müssen wir jetzt Antworten finden. Und die Natur
bietet uns viele an.“
## Pilze sind Tausendsassas
Schätzungsweise [2][sechs Millionen Pilzarten gibt es], etwa 120.000 nur
sind bekannt oder erforscht. Für das menschliche Auge nur unter dem
Mikroskop sichtbar, scheiden Pilze an den Spitzen ihrer Zellfäden Enzyme
aus, mit denen sie Nährstoffe zersetzen können. „Es gibt Pilze, die können
sogar Kunststoff abbauen“, sagt Meyer. „Sie sind die Müllmeister der Natur
und wahre Stoffwechselkünstler.“
Pilze sind wie kleine Zellfabriken, deren Stoffwechselprozesse Meyer und
ihr 40-köpfiges Team erforschen und nutzbar zu machen versuchen. Pilze
ernähren sich von organischem Material, totem Holz oder pflanzlichen
Überresten. Die Nährstoffe, die eine spezielle Gruppe der Pilze, die
Mykorrhizapilze, dabei im Boden sammeln – Wasser, Phosphate, Aminosäuren
–, geben sie an Bäume und Pflanzen ab und bekommen im Gegenzug Glukose, die
Bäume und Pflanzen bei ihrer Fotosynthese produzieren.
„In der Natur dominieren positive Interaktionen wie Symbiose“, sagt Meyer,
„nur weil Ressourcen geteilt werden, kann die Natur überleben.“ Flora,
Fauna und Funga müssen zusammengedacht werden, sagt die Wissenschaftlerin.
„Ohne Mykorrhizapilze hätten die Bäume die trockenen Sommer der letzten
Jahre nicht überstanden.“
Wie kam sie zu den Pilzen? „Ursprünglich wollte ich Astrophysikerin
werden“, erzählt die 52-Jährige im Kordkleid, dessen Gelb vor den hohen
Institutsfenstern wie ein Zitronenfalter fröhlich leuchtet. „Das
Unsichtbare hat mich immer mehr gereizt als das, was sichtbar und
vermeintlich schnell begriffen ist.“ Statt für das große Ganze entschied
sich Meyer für das große Kleine, studierte Biotechnologie und [3][leitet
heute das Fachgebiet Angewandte und Molekulare Mikrobiologie der TU
Berlin].
Eine trockene Materie ist das nicht, wie in den Laboren ringsum zu sehen
ist, wo Pilzkulturen in Bioreaktoren leise blubbern und fermentieren, wo
die Herstellung von Enzymen wundersame und wunderschöne Farbkombinationen
hervorbringt. „Myzelien unter dem Mikroskop betrachtet sind unglaublich
schön und ästhetisch“, sagt Meyer.
Pilze sind in uns, auf uns, um uns, unter uns. Es gibt einzellige Pilze wie
Hefe und mehrzellige wie Ständer- oder Schimmelpilze, wie sie sich
genießbar auf Käse und ungenießbar in der Natur oder verdorbenen
Lebensmitteln finden. Den größten Teil seines Myzels bildet der Pilz
unterirdisch und im Holz aus. Meyer nimmt ein handgroßes Objekt aus der
Vitrine, das nach Kunst aussieht, aber ein im 3-D-Drucker nachgebildetes
Modell eines Myzels aus weißen Polylactidfäden darstellt.
Zunächst arbeitete Vera Meyer mit dem „Pionier der Pilztechnologie“, dem
Schwarzschimmelpilz, Aspergillus niger, aus dem erstmals vor hundert Jahren
Zitronensäure gewonnen wurde und die später zur Entdeckung des Penicillins
führte. Noch heute ist der Zitronensäurezyklus für medizinische Wirkstoffe
wie auch bei der Lebensmittelherstellung bedeutsam.
Später entdeckte Meyer die Vorzüge des Zunderschwamms, der auf Birken oder
Buchen wächst. Ein Ständerpilz, der besonders ergiebig ist hinsichtlich
dessen, was der Biotechnologin vorschwebt: die erdölbasierte Produktion in
eine biotechnologisch basierte Kreislaufwirtschaft zu überführen,
[4][insbesondere in der Bauindustrie]. „2030 soll das erste Pilzhaus
stehen, dieses Ziel verfolgen wir.“
Meyer holt einen zur Demonstration aufgeschnittenen Baustein, die äußere
Hülle aus Beton, das Innere mit einer [5][aus Hanf] und Pilzmyzel
verdichteten Masse gefüllt. Zu [6][diesen neuen Baustoffen] forschen sie
bei Vera Meyer im Institut derzeit. „Wir konzentrieren uns auf pilzbasierte
Verbundwerkstoffe“, sagt Meyer, Komposite, aus denen sich sowohl
Baumaterialien wie auch Möbel herstellen lassen.
Ein Zeitraum von vier bis fünf Wochen und verschiedene
Kultivierungsschritte werden benötigt, bis die sich permanent verzweigenden
Zellfäden das pflanzliche Substrat zu einem festen Verbund verdichtet
haben. Steht das Pilz-Pflanzen-Gemisch während der Kultivierung in Kontakt
mit Beton, frisst sich das Myzel auch in dessen Poren.
„Das Myzel fungiert als Kleber, ist quasi ein Mörtel und kann Betonteile
fest miteinander verbinden“, sagt Meyer. Langfristig könnte das Material
erdölbasiertes Styropor als Dämmstoff ersetzen, aber auch viel CO2
vermeiden, [7][welches bei der Zementproduktion freigesetzt wird]. Im
Zukunftsmuseum [8][Futurium], nahe des Berliner Hauptbahnhofs, sind im
Souterrain erste Modellentwürfe zu besichtigen, wie und woraus in Zukunft
gebaut werden könnte.
## Ein dynamisches Forschungsfeld
Wer so nah an der Zukunft forscht, hat konkrete Visionen, wie diese
aussehen könnte. „Ich bin Optimistin“, sagt Meyer. „Der Druck zu handeln,
ist im Moment sehr groß, aber erst durch Druck lösen sich sicher geglaubte
Gewissheiten auf und Wege für Neues eröffnen sich.“ Um so wichtiger ist
ihr, die Gesellschaft einzubeziehen. Alle sollen mitdenken, davon
profitieren können. Sie hat [9][Citizen-Science-Projekte] gegründet, die
etwa Workshops anbieten, in denen man lernt, wie man Komposite selber
herstellen kann.
Es ist Bewegung in die Sache mit den Pilzen gekommen. Nicht wenige
Einrichtungen forschen derzeit zu den so vielfältigen und vielseitigen
Pilzen, in unterschiedlichste Richtungen: sei es für die
Lebensmittelindustrie, Mikroelektronik, im medizinisch-pharmazeutischen
Bereich oder für Architektur und Bauwesen. „Je mehr geforscht wird, desto
besser“, sagt Meyer.
Die Forschungsergebnisse der TU Berlin werden [10][im
Open-Access-Verfahren] publiziert, neue Erkenntnisse und Erfindungen in der
Regel nicht patentiert. Ist die Industrie nicht scharf auf die neuen
Optionen, die sich hier bieten? „Doch“, sagt Meyer. „Wir bekommen viele
Nachfragen für Zusammenarbeit. Die Pilzbiotechnologie erlebt weltweit
gerade eine Renaissance, neue Firmen sprießen quasi wie Pilze aus dem
Boden.“
## Komplett neu denken
Im Fokus stehen bisher pilzbasierte Verpackungsmaterialien, Leder und
Kleidung aus reinem Pilzmyzel, Burger aus Pilzen, erzählt Meyer. In den USA
gibt es bereits einen Beerdigungsanzug aus Pilzmaterial, in dem Tote in die
Erde gebettet werden und der die im Laufe eines Lebens angesammelten
Giftstoffe abbauen soll.
Großen Forschungsbedarf gibt es. Wie lassen sich Dämmstoffe oder
alternative Baustoffe in größeren Mengen herstellen? Wie garantiert man
ihre Langzeitstabilität? Der Fruchtkörper des Zunderschwamms sei komplett
wasserabweisend, sagt Meyer. „Das müssen wir unbedingt erforschen, wie und
warum das so ist.“ Noch weiß man nicht, welche Gene konkret dafür
verantwortlich sind.
Wie viel Technologie kommt in der Biotechnologie zum Einsatz? Im Moment
arbeitet Meyers Abteilung ausschließlich mit natürlichen Verfahren. „Auf
lange Sicht wird sich jedoch anbieten, [11][über die Genschere]
Eigenschaften zu optimieren, um zum Beispiel ein schnelleres Wachstum des
Myzels zu bewirken oder die Eigenschaften der Baumaterialien zu verändern.“
Meyer geht davon aus, dass es in Zukunft gentechnisch optimierte Baustoffe
geben kann. „Aber werden diese zugelassen? Würde die Gesellschaft diese
überhaupt akzeptieren?“ Bei Medikamenten ist Gentechnik gesellschaftlich
akzeptiert, bei Lebensmitteln nicht – wie wird es bei Baustoffen sein?
Die bisher entwickelten Verfahren für pilzbasierte Baumaterialien sind in
der Entwicklung, die Verbundwerkstoffe noch nicht tragend. Doch könnte es
bald Zwischenwände aus Pilzkompositen geben, die man bei der Umnutzung von
leer stehenden Altbauten oder Parkhäusern einziehen kann. Oder
Pilzkomposite als Ziegel, als Ersatz für Rigips oder Styropor. Ihr Vorteil:
Sie basieren auf nachwachsenden Rohstoffen, die auch in den Stoffkreislauf
zurückgeführt werden können. „Warum sollten wir immer nur für Jahrzehnte
oder Jahrhunderte bauen?“, fragt Meyer. „Wir können komplett neu denken.“
30 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.v-meer.de/
[2] /Bodenreport-und-sinkende-Artenvielfalt/!5742701
[3] https://www.tu.berlin/mikrobiologie/ueber-uns/leitung
[4] /Forscherin-ueber-Klimaschutz-im-Bausektor/!5891879
[5] /Ersatz-fuer-Baumwolle-und-Kunstfaser/!5876117
[6] /Lange-Nacht-der-Wissenschaften/!5861343
[7] /Wohnungsnot-und-Klimaschutz/!5898548
[8] https://futurium.de/de/my-co-build
[9] /Grenzen-und-Chancen-von-Citizen-Science/!5892943
[10] /Plaedoyer-fuer-Open-Access/!5832233
[11] /USA-erlauben-Gentechmethode-CRISPR/
## AUTOREN
Sabine Seifert
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