| # taz.de -- Grenzen und Chancen von Citizen Science: „Verstehen, wie Wissensc… | |
| > Medizinethiker Mark Schweda erforscht in Oldenburg Bürgerwissenschaften. | |
| > Die bringen neue Erkenntnisse – und stärken das Vertrauen in | |
| > Wissenschaft. | |
| Bild: Nur eine Spielart von Bürgerwissenschaften: jährliches Vogelzählen mit… | |
| taz: Herr Schweda, unter Bürgerwissenschaften verstehe ich immer „Vögel | |
| zählen für den Nabu“. Belehren Sie mich eines Besseren? | |
| Mark Schweda: Ganz falsch liegen Sie da nicht. An diesen regelmäßigen | |
| niedrigschwelligen Bestandsaufnahmen nehmen viele Menschen teil. Erfunden | |
| haben die Hobbyornithologinnen und -ornithologen die Bürgerwissenschaften | |
| allerdings nicht. | |
| Wo kommt die Idee denn her? | |
| Ein ganz wichtiger Kontext ist der, in dem ich arbeite, die medizinische | |
| Forschung. Schon in den 70er- und 80er-Jahren haben sich Patientinnen | |
| und Patienten zusammengetan, um Einfluss zu nehmen: nicht nur als | |
| Probandinnen und Probanden, sondern, indem sie die Ziele und die Methoden | |
| von Forschung mitbestimmt haben. Aids-Erkrankte etwa haben [1][mit der | |
| Kampagne „Act Up“] in den Staaten Druck für mehr Aids-Forschung gemacht und | |
| sich für mehr Förderung eingesetzt. | |
| Die Aktivist*innen haben also Druck gemacht. Aber sie haben ja nicht | |
| selbst geforscht. | |
| Ja, vorrangig ging es um Agenda Setting, also die Prioritätensetzung in der | |
| Forschungspolitik. Aber sie haben sich als Expertinnen und Experten für | |
| ihre eigene Erkrankung auch sehr kundig in den Fachdiskurs eingemischt. | |
| Ich stelle mir vor, dass gerade die emotionale Involviertheit auch Probleme | |
| mit sich bringt. | |
| Natürlich gibt es die Gefahr, dass Teilnehmende sich über bestimmte | |
| wissenschaftliche Standards nicht im Klaren sind. Gerade in der Medizin | |
| sind auch die ethischen Ansprüche an Studien sehr hoch. Wenn Betroffene | |
| beteiligt sind, die ein vitales Interesse an der Forschung haben, kann es | |
| passieren, dass sie sich darüber hinwegsetzen – und etwa zu große Risiken | |
| eingehen. | |
| Für sich selbst? | |
| Ja, genau. Menschen, die alles ausprobieren würden, um dabei zu helfen, ein | |
| Mittel zu entwickeln. Daneben gibt es auch das Risiko, dass Forschungsdaten | |
| durch nicht adäquate Erfassung biased sind, also voreingenommen. Oder dass | |
| Daten durch bestimmte erwünschte Ergebnisse verzerrt werden. Das sind | |
| Bedenken, die in der Debatte immer wieder laut werden, und mit denen man | |
| sich auseinander setzen muss. Aber das heißt ja nicht, dass die Idee der | |
| partizipativen Forschung falsch ist. Sondern nur, dass es ein sehr | |
| anspruchsvolles Unterfangen ist. | |
| Ist Partizipation denn ein Zweck an sich? | |
| Bürgerwissenschaften helfen zunächst einfach, Forschungsprozesse zu | |
| verbessern: Sie erleichtern den Feldzugang, man kann mehr Daten erheben. | |
| Und gleichzeitig können auch Teile der Bevölkerung besser verstehen, wie | |
| Wissenschaft tickt. Das ist zumindest eine Hoffnung. | |
| Muss jeder alles verstehen? | |
| Wir haben das in der Covid-19-Pandemie gesehen: Einerseits stieg das | |
| Vertrauen in die Wissenschaft. Aber es hat sich auch gezeigt, dass es | |
| [2][viel Unverständnis gibt, wie Wissenschaft arbeitet]. Warum behaupten | |
| die Fachleute dauernd was anderes? Warum widersprechen die einander? Das | |
| wurde mitunter schnell als Defizit ausgelegt. Dabei sind der kontroverse | |
| Expertendisput und auch die Revision von Positionen im Lichte neuer | |
| Informationen wesentliche Elemente des Forschungsprozesses. Wenn | |
| Bürgerinnen und Bürger selbst an Forschung mitwirken, erschließen sich | |
| diese Zusammenhänge unmittelbar. | |
| Das ist so eine pädagogische Sicht der Dinge. Sind Bürgerwissenschaften ein | |
| Selbstzweck? | |
| Sie können den Zugang zu Wissenschaft erleichtern. Aber auch die | |
| Wissenschaft selbst profitiert: Ich bin ja Medizinethiker, ich beschäftige | |
| mich mit moralischen Fragen rund um Gesundheitsversorgung. Das ist | |
| traditionell eine Expertendebatte, die auf einem akademischen Level mit | |
| Fachleuten aus Medizin, Philosophie oder Rechtswissenschaften geführt wird. | |
| Es wäre aber wichtig, die Perspektiven von Betroffenen einzubeziehen. Was | |
| wünscht sich ein Patient mit einer beginnenden Alzheimer-Demenz? Welche | |
| Sorgen treiben Paare um, die reproduktionsmedizinische Behandlungen in | |
| Anspruch nehmen? | |
| Das hat man bisher nicht gefragt? | |
| Wir haben die Tendenz, als Expertinnen und Experten Annahmen darüber zu | |
| machen, was Betroffene wollen, was ihnen guttäte. Diese Annahmen sind aber | |
| oft nicht gut empirisch fundiert. Dass wir mit Betroffenen selbst sprechen, | |
| ist darum eine ganz wichtige Entwicklung in meinem Fach. | |
| Sie forschen nicht nur zu Bürgerforschung, sondern auch mit Bürger*innen. | |
| Was wollen Sie herausfinden? | |
| Mit Instituten in Göttingen, Oldenburg und Rostock führen wir gerade zum | |
| Beispiel ein Projekt durch, bei dem es um ethische Aspekte assistiver | |
| Technologien für die Pflege geht. Bisher war oft die Technologie schon | |
| fertig, bevor die Frage kam: Was müssen wir nun tun, damit die Zielgruppe | |
| unser Assistenzsystem akzeptiert? Akzeptanzbeschaffungsforschung könnte man | |
| das böse nennen. Partizipation muss viel früher ansetzen, bevor man | |
| anfängt, überhaupt eine Technologie zu entwickeln. Wir fragen [3][mit | |
| unserem Projekt]: Was stellen sich die Betroffenen selbst vor? | |
| Und? Kommt dabei etwas anderes heraus? | |
| Möglicherweise sind das nicht unbedingt Dinge, die die oft wirtschaftlich | |
| getriebene Technikentwicklung hören will. In unseren Untersuchungen sehen | |
| wir oft, dass eher einfache technische Lösungen für die Zielgruppe selbst | |
| am wichtigsten wären. Dringender [4][als ein mit künstlicher Intelligenz | |
| ausgestattetes autonomes robotisches System] wollen Betroffene vielleicht | |
| einen Badewannenlifter, mit dem sie es auch in einem kleinen verwinkelten | |
| Altbaubad schaffen, selbständig zu baden. | |
| Und wie sieht die Beteiligung von Bürger*innen praktisch aus? | |
| Vor Kurzem durfte ich als Co-Moderator an einem [5][Online-Bürgerforum | |
| mitwirken, das meine Kollegin Silke Schicktanz] von der Universitätsmedizin | |
| Göttingen durchgeführt hat. Es ging um GPS-Ortung von Menschen mit Demenz. | |
| Mit Inputs von Fachleuten haben 17 Bürgerinnen und Bürger sich über fünf | |
| Sessions hinweg über die ethischen Aspekte dieser relativ neuen Technologie | |
| ausgetauscht. Die gemeinsam erarbeitete Stellungnahme wurde am Ende an | |
| Entscheidungsträger überreicht. Das war ein tolles Ergebnis. | |
| Aber erreicht man mit Bürgerforschung wirklich alle? | |
| Man braucht Zeit. Man muss zum Beispiel die Lust haben, nach Feierabend | |
| noch schwierige Fragen zu wälzen. Manchmal bedarf es noch technischer | |
| Skills und Infrastruktur. Insofern ist Bürgerwissenschaft auch in diesem | |
| Sinne noch ein eher „bürgerliches“ Unterfangen: etwas, das einem | |
| bestimmten, eher gut gebildeten und situierten gesellschaftlichen Milieu | |
| entgegenkommt. Sprachliche Herausforderungen oder sozioökonomische Hürden | |
| hindern Menschen daran, sich zu beteiligen. Wir müssen weiter daran | |
| arbeiten, diesen Mittelklasse-Bias zu überwinden, wenn wir es wirklich | |
| ernst meinen. Partizipation muss inklusiver werden. | |
| Im Falle der Vogelzählung ist es nicht so wichtig, dass alle Schichten | |
| mitmachen … | |
| Da bin ich gar nicht so sicher. Bei medizinethischen Fragen ist es sehr | |
| wichtig. Um marginalisierte Personengruppen mit ins Boot zu holen, braucht | |
| es Zeit, Geld und eine methodologische Fantasie, wie man das angeht – zum | |
| Beispiel über eine Art „aufsuchender Bürgerforschung“. Wenn die Politik | |
| Bürgerwissenschaften wirklich fördern will, dann muss sie auch die dafür | |
| nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen. „Citizen Science“ ist ein Label, | |
| das inzwischen viel Anklang findet. Manchmal wird das aber auch | |
| instrumentalisiert: Bloße Forschungsteilnahme, als Befragte oder als Tester | |
| von Medikamenten, wird dann schon als echte Partizipation verkauft. | |
| Wo beginnen Bürgerwissenschaften im eigentlichen Sinne? | |
| Dort, wo Bürgerinnen und Bürger tatsächlich als Mitforschende einbezogen | |
| sind. Da sind wir wieder bei den Vögeln: Wenn Sie [6][rausgehen, Amseln | |
| zählen,] Daten übermitteln, oder wenn Sie als Hobbyhistorikerin | |
| [7][lokalgeschichtliche Quellen zusammentragen,] findet echte Partizipation | |
| statt. Die dritte und höchste Ebene ist dann die, auf der Bürgerinnen und | |
| Bürger auch selbst Forschungsprojekte anstoßen, Ziele mitbestimmen und das | |
| Studiendesign mitgestalten. | |
| 26 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Regisseur-ueber-Aids-Film-120-PBM/!5463694 | |
| [2] /Autor-ueber-Wissenschaftsskepsis/!5821216 | |
| [3] http://demenz-assistenz.de/ | |
| [4] /Mit-Robotern-gegen-den-Pflegenotstand/!5495833 | |
| [5] http://zukunftsdiskurs.uni-goettingen.de/innovatives-online-buergerforum-zu… | |
| [6] /Draussen-vorm-Balkon/!5826625 | |
| [7] /Wettbewerb-fuer-Buergerwissenschaften/!5887356 | |
| ## AUTOREN | |
| Lotta Drügemöller | |
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