# taz.de -- Forschung zu Kieselalgen: Optimales Bauprinzip | |
> Christian Hamm erforscht am Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut, wie | |
> die Struktur der Kieselalgen zum Vorbild für die Bauwirtschaft werden | |
> könnte. | |
Bild: Vorbild fürs leichte und nachhaltige Bauen: die transparente Silikat-Pan… | |
OSNABRÜCK taz | Red Tide: Rote Flut. Diesen Begriff haben viele schon in | |
den Nachrichten gehört, auch jenseits von Politik und Militär. Massiv | |
neurotoxisch, diese Algenblüte. Fische und Wale tötet sie, Schildkröten und | |
Seevögel. Korallenriffe leiden unter ihr. Auch für den Menschen kann sie | |
gefährlich sein. Eine der Ursachen: Phosphor und Stickstoff aus | |
landwirtschaftlicher Überdüngung geraten ins Meer. Dort kommen sie bei den | |
Kieselalgen an. Dieses Phytoplankton, durch den Nährstoffeintrag wie im | |
Schlaraffenland, vermehrt sich, rasend schnell, bedeckt teppichartig die | |
Wasseroberfläche, bildet giftiges Gas. | |
Gefährlich also, diese Algen. Und hätte Alfred Nobel 1866 nicht per Zufall | |
entdeckt, dass das Pulver fossiler Kieselalgenschalen den hochexplosiven | |
Flüssigsprengstoff Nitroglyzerin stabilisieren kann, gäbe es heute | |
vielleicht kein Dynamit. | |
Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Christian Hamm, Forscher am | |
[1][Alfred-Wegener-Institut] im Helmholtz-Zentrum für Polar- und | |
Meeresforschung in Bremerhaven (AWI), sieht Kieselalgen positiv. Manchmal | |
ist er selbst im Boot unterwegs und fischt sie aus der Nordsee, vor | |
Helgoland. Aber den Großteil seiner Arbeitszeit verbringt Hamm, Leiter | |
Nachhaltige Marine Bioökonomie, zudem Leiter der Gruppe Bionischer | |
Leichtbau und Funktionelle Morphologie, an Land, im Labor. „Unter den | |
Algen“, sagt Hamm, „sind die Kieselalgen eher die Guten!“ | |
Hamm schätzt [2][Kieselalgen] nicht nur, weil sie als Produzenten | |
pflanzlicher Biomasse die Basis der Nahrungspyramide des Meeres bilden, | |
weil sie Kohlenstoffdioxid abbauen und der Atmosphäre Sauerstoff bescheren. | |
Er schätzt die im Wasser schwebenden Einzeller auch wegen der Struktur | |
ihrer transparenten Silikat-Panzerschalen, die sie vor Fraßfeinden | |
schützen. Die sind superleicht und ungeheuer stabil. | |
Hamm forscht zu Kieselalgen „schon ewig“, sagt er, und er ist ihnen treu | |
geblieben. Sein initialer Beitrag „Architecture and material properties of | |
diatom shells provide effective mechanical protection“, 2003 in der | |
Fachzeitschrift Nature erschienen, werde „bis heute kontinuierlich und gut | |
zitiert“, sagt Hamm. „Seither ist das unser Thema.“ | |
Die Kernerkenntnis: Adaptiert man das Bauprinzip der Algenschalen, lassen | |
sich technische Konstruktionen optimieren. Aus der Grundlagenforschung | |
wurde daher schnell Bedarfsorientierung, Praxisanwendung. Es kam zu | |
Kooperationen mit der Industrie, im Auto- und Maschinenbau, in der Luft- | |
und Raumfahrt. Heute liegt Hamms Schwerpunkt auf [3][nachhaltigem Bauen.] | |
Dieses neue Bauen biete viele Vorteile, sagt Hamm. „Es ist leicht und | |
haltbar. Es spart Ressourcen und reduziert Emissionen. Es wirkt der | |
Klimakrise entgegen.“ Glasbausteine zum Beispiel: Sie sind schwer, | |
ungeeignet für tragende Wände, haben oft schlechte Dämmwerte. Mit ein | |
bisschen Algen-Nachhilfe und neuen Baustoffen könnte effizienter Ersatz | |
entstehen. Hamm, zu dessen Arbeitsgeräten der 3-D-Drucker zählt und der | |
sich nicht nur eine Werkstattgründung vorstellen kann, sondern auch ein | |
„Experimentalhaus“ zum Erproben, sagt: „[4][Biokunststoffe] sind sehr | |
zukunftsfähig, auch Hanf oder klimaneutraler Beton.“ | |
Im Moment ist alles noch in den Anfängen, im Stadium der Modelle, der | |
Demonstratoren. Danach kommen Prototypen, Tests, Zertifizierungen. „Mit der | |
Natur als Vorbild lassen sich wirklich spannende Lösungen finden“, sagt | |
Hamm. | |
Sein Bremerhavener Team ist international – von Indien bis zum Libanon, von | |
Deutschland bis Malaysia. Und es ist interdisziplinär, reicht von der | |
Meeresbiologie bis zum Computational Design, von der Ingenieurwissenschaft | |
bis zur Architektur. Diese Vielfalt ist allerdings nicht immer von Vorteil: | |
„Zuweilen ist der Denkansatz sehr unterschiedlich“, lacht Hamm. „Der | |
Ingenieur konstruiert was, und der Designer sagt: Das sieht scheiße aus! | |
Oder der Designer entwirft was, und der Ingenieur sagt: So hält das nie!“ | |
Beides sei gefordert: Ästhetik und Funktionalität. | |
Ja, auch Ästhetik. „Das alles soll ja auch schön sein!“, sagt Hamm. Er sa… | |
es, als wäre er das den Kieselalgen schuldig, unter dem Mikroskop selbst | |
wahre Schönheiten. Aber sein Team weiß nicht nur mit Labortechnik etwas | |
anzufangen. Auch der visionäre Philosoph und Schriftsteller, Architekt und | |
Konstrukteur Richard Buckminster Fuller ist im AWI zu Hause, posthum. Und | |
der zoologische Zeichner und Aquarellist Ernst Haeckel mit seinen | |
„Kunstformen der Natur“. | |
Die Tragweite der Kieselalgen-Forschung des AWI ist groß, nicht zuletzt für | |
das Klima. Und sie kommt letztlich auch dem Meer zugute, dem sie entstammt. | |
Hamm illustriert das an einer Offshore-Windkraftanlage: „Die haben ja | |
ungeheuer schwere Fundamente – nicht zuletzt, weil die riesigen | |
Getriebezahnräder in ihren Gondeln so schwer sind. Wäre das alles leichter, | |
würde sich der Aufbauaufwand verringern.“ Und je feingliedriger eine | |
Installation, desto größer die Chance, dass der mechanische Schaden sich | |
verringert, den sie der Umwelt zufügt. | |
Hamm prognostiziert, dass sich ein „ganz eigener Baustil“ entwickeln | |
könnte, „schön, leicht und leistungsfähig“. Man merkt: Hier im AWI denkt | |
man nicht nur in VDI-Richtlinien und Patenten. „Wichtig ist ja auch, dass | |
dabei etwas Gutes für die Gesellschaft herauskommt“, sagt Hamm. „Und das | |
tut es.“ | |
Etwas, das schon herausgekommen ist, ist das „Evolutionary Light Structure | |
Engineering“ (ELISE), ein Startup, 2018 aus dem AWI gegründet. Über eine | |
Schalenstruktur-Datenbank werden hier für technische Probleme | |
Konstruktionsvorbilder aus der Algenwelt gesucht. Die werden dann aufs | |
Wesentliche reduziert und standardisierungstauglich gemacht. Ein | |
Software-Job. | |
Und plötzlich ist dann doch die Rede wieder vom Meer. Von Tiefseeschwämmen, | |
die „unglaubliche Strukturen entwickeln“. Auch sie sind im AWI Thema, für | |
neues, bionisches Bauen. „So was lässt sich gut einsetzen, wenn es um | |
Fachwerkhäuser geht“, sagt Hamm. „Das lässt sich fast genauso verbauen wie | |
bei den klassischen Konstruktionen. Nur viel filigraner, ausgefeilter!“ | |
Man merkt: Hier spricht jemand, der seinen Beruf wirklich mag. | |
15 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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