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# taz.de -- Braunkohleabbau am Niederrhein: Das Dilemma der Grünen
> Die Grünen haben als Anti-Kohle-Partei Wahlen gewonnen. In der Regierung
> lassen sie das symbolträchtige Dorf Lützerath abbaggern. Schadet ihnen
> das?
Bild: Menschenkette gegen die Kohlebagger: Lützerath am 3. Januar
Lützerath/Bochum/Berlin taz | Zumindest eine grüne Landtagsabgeordnete
lehnt den Deal mit RWE offen ab. Bei Antje Grothus ist das kein Wunder:
Eigentlich ist sie Aktivistin. Vor den Toren Kölns, im Kerpener Stadtteil
Buir, wohnt die 58-Jährige nur 800 Meter vor der Abbruchkante des Tagebaus
Hambach. Seit fast zwei Jahrzehnten kämpft sie gegen den Kohleabbau, hat
Menschenketten organisiert und Bündnisse geschmiedet. Erst vor zwei Jahren
ist sie den Grünen beigetreten, wurde prompt für den Landtag nominiert und
ist dann auch eingezogen.
Sich jetzt der Parteidisziplin beugen? Für Grothus unmöglich. „Eine Räumung
ist nicht zu vermitteln“, sagt sie, während im 30 Kilometer entfernten
Lützerath die Polizei ihren Großeinsatz vorbereitet. Das besetzte Dorf soll
abgebaggert werden, das ist Beschlusslage in Partei und Landesregierung –
und seit Dezember auch Gesetz.
[1][Jetzt rüsten sich in Lützerath Polizei und Aktivist*innen für das
große Finale.] Für den 14. Januar ist eine Großdemo angekündigt. Kurz
danach, so die allgemeine Prognose, wird die Räumung beginnen. Die Polizei
rechnet mit einem langwierigen Einsatz. Möglicherweise wird es sich über
Wochen ziehen – und Bilder von der Abbruchkante liefern, die für die Grünen
nicht gut aussehen. Immerhin kommt die Polizei auch in ihrem Auftrag.
Vor zwei Jahren gab es ähnliche Bilder aus Hessen, wo die schwarz-grüne
Landesregierung den Dannenröder Forst für einen Autobahnbau räumen ließ.
Damals konnten sich die Grünen rausreden: Er finde die Pläne selbst falsch,
sagte sogar der grüne Wirtschaftsminister und Hardcore-Realo Tarek
Al-Wazir. Die Entscheidung habe aber der Bund getroffen.
In Lützerath ist das anders. Die Räumung geht zurück auf eine Vereinbarung,
[2][die der grüne Vizekanzler Robert Habeck und die grüne
NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur mit dem Energieversorger RWE
getroffen haben.] Ein Parteitag hat dem Deal zugestimmt, im Bundestag gab
es keine grüne Gegenstimme.
## Entfremdung mit der Klimabewegung
Spitzen-Grüne finden die Pläne diesmal auch inhaltlich richtig. Sie
verweisen zum Einen auf die Habenseite der Vereinbarung: Im Gegenzug für
die Zerstörung von Lützerath werden fünf andere Dörfer erhalten. Der
Kohleausstieg in NRW soll von 2038 auf 2030 vorgezogen werden. Zum anderen
hält es gerade Vize-Ministerpräsidentin Neubaur aus Gründen der
Energiesicherheit für nötig, dass RWE Zugang zu den mächtigen Kohleflözen
unter Lützerath erhält. „Deshalb geht leider kein Weg daran vorbei,
Lützerath zu räumen“, sagt sie.
Die Gegenseite hält mit Gutachten dagegen: Es gehe trotz Ukraine-Krieg und
Energieknappheit auch ohne die Lützerath-Kohle. Werde sie verfeuert, könne
Deutschland seine Klimaziele nicht mehr einhalten. [3][Entsprechend groß
ist der Frust in der Klimabewegung.] Spricht man die Aktivist*innen im
besetzten Dorf auf die Grünen an, kommen meist einsilbige Antworten zurück;
man erhofft sich dort nicht mehr viel von ihnen.
Auch Dirk Jansen vom Umweltschutzverband BUND in NRW verbirgt seine
Enttäuschung nicht. „Die Grünen können nicht mehr reklamieren, eine
Anti-Kohle-Partei zu sein“, sagt er. Seit Jahrzehnten kämpft er gegen die
riesigen, bis zu 400 Meter tiefen Tagebau-Löcher Garzweiler, Hambach und
Inden.
Jetzt zieht er ein bitteres Fazit: „Der Schulterschluss zwischen
Klimabewegung und Grünen ist verloren gegangen.“ Die Entfremdung macht
Jansen auch an Austritten fest: Mitglieder seines Verbandes treten ihm
zufolge aus der Partei aus, umgekehrt landen in der BUND-Geschäftsstelle
Kündigungsschreiben von Grünen.
Aus der Opposition heraus arbeiteten die Grünen eng mit der Klimabewegung
zusammen, profitierten bei Wahlen auch von deren Mobilisierungserfolgen. Es
ist noch nicht lange her, dass sie selbst für den Erhalt von Lützerath
stritten, oft im Ton großer Empörung über CDU und RWE. Kein Wunder, dass
sich die Partner von einst jetzt von der Regierungspartei hintergangen
fühlen.
Ein Risiko für die Glaubwürdigkeit der Grünen und am Ende vielleicht auch
für ihre Wahlergebnisse? Offiziell gibt man sich gelassen, im Bund wie im
Land. „Die Räumung eines Dorfs für einen Braunkohletagebau ist nie schön �…
und schmerzt mich auch persönlich“, sagt Wibke Brems, Fraktionschefin der
NRW-Grünen. Eine Spaltung der Partei aber drohe „definitiv nicht“. In NRW
wird erst 2027 wieder gewählt. „Wir treffen Entscheidungen nicht mit Blick
auf Stimmungen, sondern mit Blick auf unsere langfristigen politischen
Ziele“, sagt sie.
## Grüne Jugend mobilisiert zu Protesten
Tatsächlich ist die Gelassenheit der Grünen aber nicht grenzenlos. Eine
Eskalation in Lützerath, so hört man immer wieder, gelte es zu verhindern.
Dass ein Grüner als Aachener Polizeipräsident für die Räumung
verantwortlich ist, könnte helfen. Parteichefin Ricarda Lang ist schon im
Oktober nach Lützerath gefahren, um sich dort in Ruhe zu erklären – ohne
Kameras.
Nicht nur für die Außenwirkung ist die Räumung heikel, sondern auch nach
innen. Auf dem Parteitag gab es eine heftige Debatte und die Mehrheit war
dünn. Bewegte der Streit um die Atomkraft im Spätsommer vor allem ältere
Grüne, sind jetzt auch die Jüngeren involviert, von denen viele überhaupt
erst über die Anti-Kohle-Bewegung in die Partei gekommen sind. Die Grüne
Jugend mobilisiert bundesweit für die Teilnahme an den Protesten in
Lützerath. „Wir werden auch Teil von Sitzblockaden sein“, sagt Nicola
Dichant, Sprecherin der Parteijugend in NRW.
Schon jetzt ist Kathrin Henneberger vor Ort. [4][Die Bundestagsabgeordnete
kommt aus der Antikohlebewegung] und hat selbst einmal einen Sommer lang in
Lützerath gezeltet. Seit 15 Monaten sitzt sie jetzt im Bundestag. Im
Dezember hat sie nicht gegen den Kohlebeschluss gestimmt, sondern enthielt
sich, nachdem sie in Verhandlungen immerhin Klauseln durchsetzen konnte,
die Schlupflöcher für RWE verkleinern. Sie spricht auch nicht mehr davon,
bei den Protesten selbst auf die Bäume zu klettern.
Falsch findet sie die geplante Abbaggerung aber immer noch. Und ob die
Räumung der Partei schaden wird? „Ja, ganz ehrlich“, sagt Henneberger. „…
Bundestag erlebe ich, wie groß die Macht der Fossillobby ist. Dagegen
brauchen wir die gemeinsame Kraft von Zivilgesellschaft und Menschen in
Parlamenten. Eine Spaltung tut dem Ziel nicht gut“, sagt sie.
Ähnlich klingt Philip Hiersemenzel, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft
Energie, einer Art parteiinternem Thinktank. „Ich habe großes Verständnis
für die Leute, die in Lützerath protestieren“, sagt er. Er hätte es für
strategisch sinnvoller gehalten, den Konflikt zu befrieden. „Dann könnten
Partei und Bewegung ihre Energie jetzt in die Energiewende stecken, statt
sich miteinander zu beschäftigen.“
Immerhin: Dass in der sonst so geschlossenen Partei eine Unzufriedenheit
gärt, ist spätestens durch die knappe Parteitagsabstimmung auch bei
Spitzen-Grünen angekommen. Lützerath wurde durch diesen Warnschuss nicht
mehr gerettet, Gespräche gab es im Nachgang aber so einige.
## In die heiße Wahlkampfphase
Wenn sich zu Wochenbeginn der Bundesvorstand zu einer zweitägigen Klausur
in Berlin trifft, wird die Energiewende einmal mehr Schwerpunkt-Thema sein.
„Wenn 2022 nachvollziehbarerweise das Jahr der Energiesicherheit war, muss
2023 umso mehr zum Jahr des Klimaschutzes werden“, heißt es in der
Ankündigung.
Für einen Schaden, der schon in wenigen Wochen droht, könnte das allerdings
zu spät kommen. [5][Am 12. Februar wird in Berlin die Wahl zum
Abgeordnetenhaus wiederholt.] Die Grünen hoffen darauf, mit
Spitzenkandidatin Bettina Jarasch das Rote Rathaus zu erobern. Sorgen
machen sich einige nun, weil die Lützerath-Räumung mitten in die heiße
Wahlkampfphase fällt.
Lützerath ist von Berlin natürlich weit weg. Die Hauptstadt hat eigene
Probleme, für die Masse wird die Räumung nicht wahlentscheidend sein. Das
Rennen mit der SPD könnte aber knapp ausfallen und am Ende zählt vielleicht
jede Stimme. So wie in Baden-Württemberg, wo es bei den Wahlen 2021
hauchdünn nicht zu Grün-Rot reichte – während mit der Klimaliste eine
Kleinpartei um enttäuschte Grünen-Wähler*innen warb und immerhin 0,9
Prozent der Stimmen holte.
Auch in Berlin wird im Februar eine Klimaliste antreten. „Wir bekommen viel
Feedback von Leuten, die beim letzten Mal noch grün gewählt haben und
diesmal ernsthaft zweifeln“, sagt deren Sprecherin Denise Ney. „Lützerath
werden wir im Wahlkampf auf jeden Fall zum Thema machen.“
7 Jan 2023
## LINKS
[1] /Kampf-um-Braunkohledorf-Luetzerath/!5903780
[2] /Braunkohlefoerderung-in-NRW/!5882364
[3] /!5985291/
[4] /Aktivistin-in-der-Politik/!5794312
[5] /Nach-dem-Berliner-Wahlchaos/!5903971
## AUTOREN
Tobias Schulze
Andreas Wyputta
Stefan Alberti
Aron Boks
Annika Reiß
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