# taz.de -- Fridays for Future über Lützerath: Ihr habt euch verrechnet | |
> Die Grünen haben sich auf einen fatalen Deal mit RWE eingelassen. Die | |
> Kohle unter Lützerath darf nicht verbrannt werden. | |
Bild: Neubauer bei einer Demo vor Robert Habecks Wirtschaftsministerium in Berl… | |
Es haben alle geklatscht. Damals, als wir im April 2021 vor dem | |
Verfassungsgericht standen. In einer historischen Entscheidung [1][erklärte | |
die höchste juristische Instanz] Deutschlands, dass wir einen | |
verfassungsrechtlichen Anspruch auf Klimaschutz à la Pariser Abkommen | |
haben. | |
Das Pariser Klimaabkommen heißt übersetzt: Irgendwo muss Schluss sein. | |
Schluss mit der Zerstörung, dem Verbrennen, dem Emittieren. Und vielleicht | |
fiel das Klatschen 2021 auch deswegen so leicht: Das Schluss-Machen fühlte | |
sich damals weit weg an, klatschen ohne Konsequenzen. Genau genommen war es | |
damals natürlich nicht weit weg, gefühlt aber eben schon. | |
Jetzt aber haben wir eine Grenze erreicht. Der Kohlebagger im Tagebau | |
Garzweiler II stammt aus dem Jahr 1961. Alt und überholt, genau wie die | |
Idee, dass Kohlekraft friedensbringend und sicherheitsschaffend ist. | |
Gegenüber vom Kohlebagger steht das 21. Jahrhundert, das Pariser Abkommen | |
und die Klimabewegung in einem besetzten Lützerath. | |
Die Kohleflöze unter dem Dorf sind besonders dick, bis zu 280 Millionen | |
Tonnen CO2 würden emittiert, sollte die gesamte Menge verbrannt werden. | |
[2][Laut Studien des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung] wird es | |
praktisch unmöglich, die Pariser Klimaziele und damit das | |
Verfassungsgerichtsurteil noch einzuhalten, sobald diese Kohle unter | |
Lützerath einmal im Kraftwerk am anderen Ende der Garzweiler Grube | |
angekommen ist. Doch genau das soll passieren – in diesem Moment dreht sich | |
der Schaufelradbagger 261 von RWE weiter. [3][Stück für Stück Richtung | |
Lützerath]. | |
## Das ganze Drama | |
Was nun? Wie läuft es mit dem Aufhören? Bisher nicht so gut. | |
Damit sich die Grünen in diesen Tagen nicht zerreißen, haben sie sich eine | |
Geschichte gebaut, die das ganze Drama erklärbar machen soll. | |
Die Geschichte geht etwa so: Durch den Krieg in der Ukraine wird akut mehr | |
Kohle gebraucht, leider muss man kurzfristig einlenken, aber dafür kommt | |
der Kohleausstieg 2030, endlich, Robert Habeck sei Dank. Das Ganze hat | |
natürlich einen Preis, und der ist das Dorf Lützerath. Jetzt regen sich | |
noch ein paar Radikalos über die Räumung eines verlassenen Dorfes auf, | |
sollen sie doch, wir Öko-Pragmatiker wissen, dass hier ganz große Schritte | |
gemacht werden. | |
Manche Dinge sind aber zu schön, um wahr zu sein. Und diese grüne Erzählung | |
vom Kohleausstieg 2030, der auf magische Art sowohl für RWE und das Klima | |
gut sein soll, ist so etwas. | |
Klimaschutz passiert nicht dann, wenn Ausstiegszahlen nach vorne verschoben | |
werden, sondern wenn real Emissionen Richtung Null gefahren werden. Der | |
Kohleausstieg 2030 ist für uns als Klimabewegung deshalb wichtig, weil wir | |
dahinter einen realen Rückgang der Kohleverstromung in Deutschland fordern. | |
Genau diese Idee entkernen die Grünen und RWE in ihrem Deal. Zwar werden | |
die Ausstiegsdaten für die Kraftwerke vorgezogen, die Menge an Kohle jedoch | |
nicht begrenzt. Mehrere unabhängige [4][Berechnungen] legen nahe, dass | |
durch den Deal keine einzige Tonne CO2 eingespart wird. | |
Die Kohlemenge, die RWE vorher bis 2038 fördern und verbrennen wollte, wird | |
jetzt schlicht schon in der Hälfte der Zeit verstromt. Aus Kohleausstieg | |
wird Kohleintensivierung. Kleines Detail, die Kohle unter Lützerath braucht | |
es [5][laut Berechnungen] auch überhaupt nicht für die Energieversorgung | |
Deutschlands. | |
RWE macht dabei richtig Geld: Das [6][Handelsblatt kalkuliert] bis 2024 | |
Zusatzgewinne von einer Milliarde Euro für den Konzern. RWE wurde | |
garantiert, dass sie die beim Kohleausstieg 2038 zugesicherten Gelder – 2,6 | |
Milliarden Euro – in jedem Fall erhalten. Zusätzlich profitiert der Konzern | |
von einem reduzierten CO2-Preis. Ab 2030 werden die CO2-Zertifikate auf dem | |
europäischen Emissionsmarkt für Kohlekonzerne so teuer werden, dass die | |
Rentabilität ihrer Kohleverkäufe drastisch sinkt. | |
Nicht jeder Kohleausstieg ist eine Klimaschutzmaßnahme. Dieser | |
Kohleausstieg ist vor allem eins: eine Profitschutzmaßnahme für RWE. Dass | |
ein notorisch unglaubwürdiger Kohlekonzern auch 2023 mit falschen | |
Erzählungen seine Profite verteidigt, ist zu erwarten. Nicht aber, dass | |
sich die Grünen auf diesen Deal eingelassen haben, ohne zu irgendeinem | |
Punkt aufzustehen und sich zu fragen, was zum Henker sie da verhandeln. | |
Man würde meinen, die letzten 30 Jahre Energiewende wären eine Lehre | |
gewesen. Immer wieder hat man versucht, den Ausstieg aus fossilen Energien | |
so zu gestalten, dass fossile Konzerne zufrieden irgendwem die Hände | |
schütteln können. Nach Jahren verpasster Ausbauziele, nach über 100.000 | |
verlorenen Jobs in der Solarbranche und einer abgewanderten | |
Windradindustrie könnten man sagen: Hat so mittel gut geklappt. | |
Oder so: Solange fossile Konzerne die Regeln für die Energiewende machen, | |
wird es keine geben. Schon gar keine, die schnell und gerecht genug kommt. | |
Dass es so nicht aufgeht, wie die Grünen und der klimabewegte Teil der | |
Regierung sich das gedacht haben, wird vor allem in der Stille deutlich. | |
Man muss an die kleinen Emoji-Affen von Whatsapp denken: Hände vor dem | |
Mund, den Ohren, den Augen. Bloß nichts sehen, hören, sagen. Noch im | |
Oktober stimmten knapp die Hälfte der Delegierten [7][auf dem | |
Bundesparteitag] für einen Antrag der Grünen Jugend, der ein Moratorium für | |
Lützerath forderte. | |
Während #LützerathBleibt seit Tagen trendet, bleiben die Accounts der | |
Partei bemerkenswert still. Ab und zu ruft Mona Neubaur im Chor mit RWE, | |
der CDU und der Polizei zur friedlichen Räumung auf. Als | |
Oppositionspolitiker:in war sie mehrmals in Lützerath, als | |
Vize-Ministerpräsidentin noch nie. | |
Das, was von der Grünen-Spitze als staatsmännischer und vor allem ultra | |
pragmatischer Coup aufgesetzt war, entpuppt sich in diesen Tagen als | |
undurchdachte Bulldozer-Politik. Statt die Krise argumentativ zu nutzen, um | |
das Ende von Kohle, Öl und Gas einzuläuten, räumen die Grünen den Weg frei | |
für weitere Energieverschwendung. Alles für das fossile Weiter-So, koste | |
es, was es wolle. In diesem Falle: Milliarden Euro und unsere | |
Lebensgrundlagen. | |
## Die Grünen missbrauchen Energiekrise | |
Nachdem nun selbst die Grünen die Energiekrise missbraucht haben, um ihre | |
kontroverse Entscheidung zu legitimieren, ist es wenig überraschend, dass | |
die FDP parallel erklärt, vor lauter Krise brauche es jetzt neue | |
Atomkraftwerke. Es scheint ein postfaktischer Energiediskurs | |
parteiübergreifend in Mode. Und das kommt einem erdgasbegeisterten Kanzler | |
natürlich gelegen, kann er direkt weitere Autokraten zu verlässlichen | |
Energiepartnern erklären. | |
Die Krise als rhetorisches Mittel, nie als materieller Zwang, sie reicht | |
aus, um Entscheidungen zu legitimieren, die das Weltklima belasten, sie | |
reicht nie für Entscheidungen zu Lasten des Koalitionsklimas. Lieber | |
schickt man Bagger gen Lützerath, als die lange Liste an schnellen, | |
wirksamen und notwendigen Maßnahmen zur Energiereduktion tatsächlich | |
anzugehen. | |
Bis heute gibt es kein ausreichendes Klimaschutzsofortprogramm, kein (von | |
Olaf Scholz persönlich eingefordertes) Energieeffizienzgesetz, der | |
CO2-Preis stagniert, die Abschaffung fossiler Subventionen ist einer | |
Einführung neuer Subventionen gewichen. Bei 1,2 Grad Celsius globaler | |
Klimaerhitzung ist für all das anscheinend nicht genug Krise. Wir fragen | |
uns, wie viele [8][hitzetote] Großeltern es braucht, bis genug Krise für | |
ein kleines Tempolimit ist. | |
Wir hätten nach fast einem Jahr Energiekrise auch noch einige | |
Anschlussfragen. Wohin soll sie denn gehen, die Reise? Wie sieht denn der | |
Plan aus, durch den wir bis 2030 die Emissionen um 65 Prozent gesenkt | |
haben, nachdem sie im letzten Jahr trotz geringeren Energieverbrauchs | |
stagniert sind? Wo, lieber Robert Habeck, wird die Gesamtrechnung | |
aufgemacht, in der die Vereinbarkeit von alledem mit dem Pariser | |
Klimaschutzabkommen abgestimmt wird? | |
Die Situation in Lützerath ist politisch keinesfalls eine Sackgasse. Noch | |
steht das Dorf, und vor allem ist die Kohle unter Lützerath noch im Boden. | |
Solange sie da liegt, können jederzeit neue Verhandlungen aufgenommen | |
werden. Einige Gerichtsverfahren sind ebenfalls offen, und damit die Frage, | |
ob eine Räumung zu diesem Zeitpunkt überhaupt legal ist. | |
Wir hatten gehofft, die Grünen würden die ökologischen Linien in der Ampel | |
ziehen und verteidigen. Nun sind sie diejenigen, die sie einreißen wollen. | |
Für die Klimabewegung geht es in Lützerath längst nicht mehr „nur“ um den | |
realen Einsatz gegen die Bagger von RWE. Es geht auch darum, zu zeigen, wie | |
teuer, ja, wie unbezahlbar es für eine Bundesregierung geworden ist, sich | |
gegen die Pariser Klimaziele, gegen die Klimabewegung und die eigenen | |
Zusagen in Sachen Klimaschutz zu stellen. Jedes Foto von vor Ort, jeder | |
Mensch auf der Straße, jedes gelbe Kreuz macht einen Unterschied. | |
Aus Uganda, aus Mexiko und Indien kommen indes Bilder und Videos von | |
Menschen, die „Lützi Bleibt“-Schilder halten. Was in Lützerath passiert, | |
bleibt nicht in Lützerath. Die Zukunft der größten CO2-Quelle Europas | |
betrifft Menschen weltweit. Unsere Emissionen sind auch ihre Probleme. Es | |
ist leicht, für ein Verfassungsgerichtsurteil zu klatschen, wenn es nichts | |
kostet. Die grünen Parteispitzen haben sich verkalkuliert. Noch aber ist es | |
nicht zu spät. Für niemanden. Wir sehen uns in Lützerath. | |
7 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Entscheidung-zum-Klimaschutzgesetz/!5763553 | |
[2] https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.819609.de/diwkompakt… | |
[3] /Braunkohle-Dorf-Luetzerath/!5898731 | |
[4] https://kohlecountdown.de/wp-content/uploads/2022/12/Aurora-Kohleausstiegsp… | |
[5] https://vpro0190.proserver.punkt.de/s/K43yiKR4Yz3Xxeg | |
[6] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/energiekrise-rwe-verdient-… | |
[7] /Parteitag-am-Wochenende/!5884130 | |
[8] /Folgen-der-Erderhitzung/!5773008 | |
## AUTOREN | |
Luisa Neubauer | |
Pauline Brünger | |
## TAGS | |
IG | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Luisa Neubauer | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
klimataz | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
GNS | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
wochentaz | |
Lützerath | |
Energie | |
Verkehrswende | |
Lützerath | |
Grüne | |
Nordrhein-Westfalen | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Böller | |
Zukunft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verbände mahnen Energiespargesetz an: Kanzler Scholz soll Wort halten | |
Der Kanzler hat im Herbst ein ambitioniertes Gesetz zum Energiesparen | |
versprochen. Nun verschleppe er dieses Vorhaben, kritisieren Verbände. | |
Besetzte Fabrik bei Florenz: Autoarbeiter*innen for Future | |
350 Angestellte eines Autozulieferers haben ihre Fabrik besetzt. Sie | |
fordern, den Standort für klimafreundliche Produktion umzunutzen. | |
Protest gegen Kohleabbau in Lützerath: Grüne verteidigen Räumung | |
Die Räumung des von Aktivist:innen besetzten Lützerath steht bevor. Die | |
Grünen-Chefs rechtfertigen diese – mit Verweis auf den Kohlekompromiss. | |
Klausurtagung der Grünen-Spitze: Unbequem ins neue Jahr | |
Rückwärts nimmer: Während Aktivisten im Rheinland gegen die Grünen | |
protestieren, beschwört die Parteispitze auf ihrer Klausur den Blick nach | |
vorne. | |
Braunkohleabbau am Niederrhein: Das Dilemma der Grünen | |
Die Grünen haben als Anti-Kohle-Partei Wahlen gewonnen. In der Regierung | |
lassen sie das symbolträchtige Dorf Lützerath abbaggern. Schadet ihnen das? | |
Dorf vor Räumung wegen Braunkohle: Die RWE-Maschinen rücken vor | |
Die BewohnerInnen des Dorfes Lützerath in Nordrhein-Westfalen haben den | |
„Tag X“ ausgerufen. Immer mehr Menschen kommen zur Unterstützung. | |
Kritik an den Kohlegegnern von Lützerath: Propaganda gegen Klimaschützer | |
Das besoffene Land böllert sich zu Silvester halb tot. Währenddessen werden | |
die BewohnerInnen von Lützerath als Kriminelle diffamiert. | |
Kampf um Kohledorf: Die letzten Lichter von Lützerath | |
Rund 70 Aktivist:innen halten über Weihnachten die Stellung in | |
Lützerath. Wie bewahrt man Hoffnung bei Kälte und drohender Räumung? |