# taz.de -- Autofahren als Freiheitsversprechen: Stets auf Achse | |
> Die Mutter unseres Autors war immerzu Automobilistin. Sie lebt nun im | |
> Heim und ihr Sohn reist am Steuer ihres letzten Wagens zurück in die | |
> Vergangenheit. | |
Bild: „Hermann“ an der Tankstelle | |
Da steht der Nissan Almera Tino, der letzte Wagen meiner Mutter, | |
Erstzulassung 2004, 163.000 Kilometer auf dem Tacho, das uncoolste Auto der | |
Welt. Bevor ich einsteige, gehe ich noch einmal um den Wagen herum, wische | |
die dünne Schneeschicht von den Scheiben, zupfe ein paar Blätter herunter. | |
Es ist ein dunkler, kalter Wintertag, und der Wagen scheint zu frieren. Wir | |
brauchen ihn nicht wirklich, manchmal steht er wochenlang nur herum. | |
Herrmann nennt meine Mutter den Wagen. Alle ihre Autos hießen Herrmann. | |
Warum ausgerechnet dieser Name, weiß niemand, sie auch nicht. Vielleicht | |
nur eine Augenblickslaune, die sich im Sprachgebrauch festgesetzt hat. | |
Jedenfalls gab es nie einen Mann dieses Namens in ihrem Leben. | |
Der Wagen hat erkennbar einiges mitgemacht. So wie meine Mutter auch, denke | |
ich manchmal. Die hintere Stoßstange ist schief. An beiden Seiten gibt es | |
Kratzer. Beim Einparken vor der kleinen Wohnung, in der sie zuletzt lebte, | |
bevor sie ins Heim gezogen ist, muss sie immer wieder an der Steinmauer | |
entlanggeschrammt sein, die den Parkplatz begrenzte. | |
Sie wollte unbedingt, dass der Wagen in der Familie bleibt. Das war ihr | |
wichtig. Sie hat keine Ruhe gegeben, bis ich zugestimmt habe, das Auto zu | |
übernehmen. | |
Wenn ich sie in ihrem Heim besuche, fragt sie jedes Mal: „Fährt Herrmann | |
noch?“ Ich sage: „Ja, Mama, der fährt noch.“ Sie freut sich dann immer | |
sehr. | |
Ich steige ein. Der Motor springt mit beruhigender Selbstverständlichkeit | |
an. Das tat er nicht immer. Zweimal hat er mich im Stich gelassen. Ein | |
neuer Anlasser und eine neue Batterie waren fällig, seitdem ist alles gut. | |
## Nie auf einem Fahrrad | |
Ein Radfahrer fährt dick eingepackt an dem Wagen vorbei, dann stoße ich aus | |
der Parklücke. | |
Der TÜV ist im Januar fällig. Also fahre ich von Berlin nach Kiel, um | |
meinen Bruder zu treffen. Er kennt sich mit Autos sehr viel besser aus als | |
ich und will sich den Wagen genau ansehen. Ob er überhaupt noch einmal | |
durch den TÜV kommen kann. Ob es sich überhaupt noch lohnt. Außerdem | |
besuche ich in Kiel auch meine Mutter. | |
Meine Mutter ist viel Auto gefahren. Nie habe ich sie auf einem Fahrrad | |
gesehen, nie in einem Bus, ganz selten in einem Zug, und ihre Flugreisen | |
lassen sich an einer Hand abzählen. Doch das Auto, das gehörte zu ihrem | |
Leben. | |
Sie war eine gute Autofahrerin, immer gewesen. Sie wurde souverän, wenn sie | |
Auto fuhr. Es gab keinen Augenblick, in dem ich mich nicht sicher fühlte, | |
wenn ich auf dem Beifahrersitz oder Rücksitz saß und sie gefahren ist. | |
Doch irgendwann ging es nicht mehr. Vor drei Jahren meldete sie sich ein | |
bisschen kleinlaut von ihrem Handy bei meiner Schwester. Sie stand irgendwo | |
im Norden Kiels und wusste weder, wo sie war, noch wie sie da hingekommen | |
war. Die Augen. Die Demenz. Da war spätestens klar, dass etwas geschehen | |
musste. Ein weiterer Abschied war fällig. Von unserem Einfamilienhaus hatte | |
sie sich längst verabschiedet, zuletzt von der großen Wohnung. In die | |
kleine Wohnung passten viele Möbelstücke nicht. Ihr Leben wurde enger. Und | |
jetzt der Wagen. Es fiel ihr schwer. | |
Sie ist nicht mehr dieselbe, seit sie nicht mehr Auto fährt. Aber auch | |
schon vorher war sie nicht mehr dieselbe. | |
Während ich in Richtung Stadtautobahn fahre, frage ich mich, wie sich für | |
sie die letzten Fahrten in diesem Wagen angefühlt haben mögen. Der Wagen, | |
konkret dieser Wagen, in dem ich jetzt sitze, hat Normalität ausgestrahlt | |
und dass sie ihr Leben noch im Griff hat. | |
Da sind noch die Münzen, die meine Mutter in der kleinen Ablage links über | |
dem Steuerrad für die Parkuhr aufbewahrt hat. Da ist die Handbremse mit dem | |
Knopf an der Spitze, den sie manchmal während der Fahrt ohne Anlass | |
gedrückt hat. Da ist, allerdings inzwischen etwas ramponiert, auch noch der | |
50 Jahre alte Stoffhase mit der grünen Hose, der schon bei Mutter immer | |
mitgefahren ist. Alles noch da. Nur meine Mutter sitzt nicht mehr auf dem | |
Fahrersitz und wird es auch nie mehr tun. | |
Ihren Führerschein hat meine Mutter am 19. April 1963 gemacht, an ihrem 23. | |
Geburtstag. Da war sie seit fünf Monaten mit meinem Vater verheiratet, und | |
mit mir war sie schwanger. Als Autofahrerin hat sie mein Leben also seit | |
jeher begleitet, schon bevor ich überhaupt geboren wurde. | |
Bei der Führerscheinprüfung war sie aufgeregt. Denn schwangere Frauen | |
durften damals nicht zur Fahrstunde, und so hat sie ihre Schwangerschaft | |
dem Fahrlehrer verschwiegen und gehofft, dass er ihr nichts anmerkt. Hat er | |
auch nicht. | |
Speck hieß der Fahrlehrer. Wie sah er aus, habe ich sie einmal gefragt. | |
„Ach, das war so ein Dicker.“ Und was für ein Wagen war das? „Den damals | |
alle hatten. So ein Volkswagen.“ Ein Käfer? „Ja, ein Käfer.“ | |
Sie lachte, als sie mir das erzählt hat. Manches am Langzeitgedächtnis | |
funktioniert weiterhin gut. Das sind Erinnerungen, die sich gegen die | |
Demenz durchsetzen können. | |
Emanzipiertheit ist nicht das erste Wort, das mir für meine Mutter | |
einfallen würde. In vielen Einstellungen ist sie traditionell, in manchen | |
auch reaktionär. Als ich das erste Mal [1][Johanna Haarers] furchtbares | |
Säuglingspflegebuch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ las, musste | |
ich an meine Mutter denken. Abstand wahren, nicht mit Gefühlen an die Sache | |
herangehen, so war das halt damals. | |
„Mutter war nicht von dieser Gesellschaft. Ich glaube, sie war aus dem | |
Krieg“, heißt es in der Erzählung „Muttersterben“ des Schriftstellers | |
Michael Lentz. Ein Kriegskind ist auch meine Mutter, 1940 wurde sie | |
geboren. Ein Abstand zu allem, auch zu uns Kindern, und eine prinzipielle | |
Lebensunsicherheit sind in ihr drin. | |
Doch von der bestandenen Führerscheinprüfung aus ließe sich auch leicht | |
eine Emanzipationsgeschichte erzählen. | |
Es war die späte Boomerzeit. Manche Ruinen des Krieges standen noch, noch | |
immer gab es Seilschaften der Nazis. 1963 war aber auch das Jahr, in dem | |
der allererste James Bond in den deutschen Kinos anlief, „James Bond jagt | |
Dr. No“. Weltweit kreischten die Teenager zu „Yeah, yeah, yeah“, John F. | |
Kennedy verkündete vom Schöneberger Rathaus „Isch bin ein Berlinär“ (und | |
wurde im November desselben Jahres erschossen). Genau in diese | |
Modernisierung hinein fuhr meine Mutter mit dem Auto. | |
Die Regelung, [2][dass Frauen für den Führerschein die Genehmigung ihrer | |
Ehemänner brauchten, hatte bis 1958 gegolten.] Auch fünf Jahre später war | |
es alles andere als selbstverständlich, dass Frauen Auto fuhren. In ihrer | |
Familie war meine Mutter überhaupt die erste Frau, die den Führerschein | |
gemacht hat. Weder ihre Mutter, meine Oma Hanna, noch ihre Tante, meine | |
Großtante Lottchen, konnten Auto fahren. „Die hatten nach der Flucht ja | |
auch gar kein Geld“, meinte meine Mutter einmal. | |
Zur bestandenen Fahrprüfung hat mein Vater ihr mit einer launigen | |
Glückwunschkarte „für den frischgebackenen Autofahrer“ gratuliert. Auf der | |
Rückseite standen halb ernst gemeinte Ratschläge bei Unfällen. „1. Niemals | |
eine Schuld zugeben. Das Gericht wird darüber später befinden. 2. Nett sein | |
zur Gegenpartei. Wenn Alkohol greifbar, dann einen Drink anbieten …“ | |
Dazu hat mein Vater mit rotem Kugelschreiber in seiner großen Schrift | |
geschrieben: „Liebevoll und sicher durch unsere Welt. Dein Karlheinz!“ Und | |
auf die Rückseite: „Meine liebe Inna! Die allerherzlichsten Glückwünsche | |
zum bestandenen ‚Führerschein‘! Lenke uns“ | |
Die drei Ausrufezeichen in dem kurzen Text deuten darauf hin, dass die | |
Prüfung auch von ihm wichtig genommen worden ist. In „Lenke uns“ lese ich | |
einen Pakt zwischen ihnen hinein. | |
Wir sind ein Team, drückt es für mich aus. Und im Subtext: Ich weiß, dass | |
ich bei dir nicht den Patriarchen spielen kann. | |
Selbstverständlich war das nicht. Es war eine Ehe unter Ungleichen, und | |
zuerst muss meine Mutter auch skeptisch gewesen sein. Mein Vater war 21 | |
Jahre älter als sie. Er hatte schon drei Ehen hinter sich und fünf Kinder, | |
sein ältester Sohn ist gerade einmal ein Jahr jünger als meine Mutter. Sie | |
hatte sich gerade von ihrem ersten Mann getrennt. Die Ehe war kurz, sie hat | |
nie drüber geredet. Mein Vater, selbst gerade frisch geschieden, war ihr | |
Scheidungsanwalt. Ihm fehlte der linke Arm, er war ihm im Zweiten Weltkrieg | |
amputiert worden. | |
In dieser Situation war ihm offenbar klar, dass er ihr etwas bieten musste. | |
Und neben dem Schmuck, den er ihr schenkte, war ein solches Zeichen: der | |
Führerschein. | |
Was sie ihm im Gegenzug bot, war auch klar. Einen Neuanfang. Einen | |
ernsthaften zweiten Anlauf in ein geordnetes Leben. Und Kinder. Sie gebar | |
uns, vier Geschwister in fünfeinhalb Jahren. Das war ihr Deal. | |
Und der Neuanfang ging sich gut an. Als ich zwei Jahre alt war, sind meine | |
Eltern mit mir auf dem Rücksitz nach Venedig gefahren. | |
Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich mir hinten im Wagen | |
einen runden Schlauch auf den Kopf gesetzt und gesagt habe „Ich bin ein | |
Tönig“ (das K konnte ich noch nicht artikulieren). Und ich habe eine vage | |
Erinnerung an ein offenes Feuer und ein Stück heißes Glas an einem langen | |
Stil, das sich verformt und ausdehnt. Meine Eltern haben mit mir in Venedig | |
eine traditionelle Glasbläserei besucht. | |
Vielleicht sind es Erinnerungen wie diese, weshalb ich eine besondere | |
Beziehung zu dem letzten Wagen meiner Mutter habe. | |
*** | |
Ich fahre durch die Leere Brandenburgs. Meilenweit Felder und | |
Kiefernwälder, die winterkahlen Bäume filigran mit Schnee und Eis betupft. | |
Irgendwann Windkraftanlagen, bei den größten ragen die Rotorblätter bis in | |
die tief liegenden Wolken hinein. | |
Eigentlich ein guter Augenblick, um ein paar Lieblingssongs zu hören. Doch | |
die Musikanlage funktioniert nicht richtig. Und als ich im letzten Urlaub | |
dieses eine Mal mit dem Wagen in einer Waschanlage war, habe ich vergessen, | |
die Dachantenne des Autos abzumontieren. Seitdem geht auch das Radio nicht | |
mehr. | |
Der Verkehr hält sich im Rahmen. Ich denke an Kinder und Autos, meine | |
Eltern und die – von heute aus gesehen – so seltsam unnormale Normalität | |
der frühen Jahre der alten Bundesrepublik. | |
Der 1955 geborene Journalist Thomas E. Schmidt hat darüber ein paar Absätze | |
in seinem gerade erschienenen Buch [3][„Große Erwartungen. Die Boomer, die | |
Bundesrepublik und ich“] geschrieben. Über sich selbst als eines der | |
„Wonnekinder des Neuanfangs“ schreibt er: „Wir waren die lebendigen Bewei… | |
einer Stetigkeit des Lebens. Das Leben sollte nicht abreißen, und es riss | |
nicht ab.“ | |
Die Boomer, die sich mit Händen und Füßen an die Normalität ihrer Jugend | |
klammern, an den ewig währenden Fortschritt etwa, an Winnetou-Geschichten | |
und bergeweise Fleisch, sind längst zum Klischee geronnen. Doch Thomas E. | |
Schmidt macht deutlich, wie heikel und seltsam diese viel gepriesene | |
Normalität damals war. Wie ausschließend sie gewesen ist, weiß man | |
inzwischen auch. | |
Zum Autoverkehr schreibt Schmidt: „Autos, der Stolz der militärischen | |
Ent-Mobilisierung und einer neuen, zivilen Mobilität, spielten eine große | |
Rolle, weil sie den Jungen die ersten verständlichen Zeichen waren, mit | |
denen die Erwachsenen ihre Unterschiede und ihren Status markierten.“ | |
Tatsächlich ist es heute wohl kaum nachvollziehbar, wie neu und | |
verheißungsvoll das Autofahren damals gewesen sein muss. Die Nazis mögen | |
die Autobahnen gebaut haben, ein Auto konnten sich die meisten Menschen | |
aber erst nach dem Krieg leisten. Und auch die kulturelle Überhöhung fand | |
erst noch statt. Jack Kerouac schrieb „On the road“ 1957. | |
Wenn ich im Zusammenhang mit dem letzten Wagen meiner Mutter an Begriffe | |
wie Status und Besitzstolz denke, muss ich ein bisschen lachen. Statusmäßig | |
ist mit ihm rein gar nichts zu holen. Wie sauber und neu im Gegensatz zu | |
ihm die meisten Wagen auf einer deutschen Autobahn aussehen! | |
Und auch damals schon haben meine Eltern die Statusmarkierungen nicht voll | |
mitgemacht. Meine Mutter fuhr den Familienwagen, einen [4][VW Variant 412], | |
einen Kombi. Mein Vater einen weißen Karman Ghia, Sportwagenkarosserie, | |
aber mit VW-Käfer-Motor. Schon ganz cool, aber eben auch nicht der Porsche, | |
den er wohl gern gehabt hätte und den meine Mutter ihm ausgeredet hat. | |
Zum Neuanfang meiner Eltern gehörte es auch, in einen Vorort zu ziehen, ins | |
Grüne. Das war 1969. Spätestens von da an war ein Auto wirklich wichtig. | |
Die Fahrten zur Rechtsanwaltspraxis meines Vaters, die Einkäufe, die | |
Ausflüge und Familienbesuche – ein Auto zu haben, gehörte zu diesem | |
Lebensentwurf dazu. | |
Vielmehr, das Auto war zentral. Und ist es auch immer noch. Wenn ich heute | |
durch den Vorort gehe, in den wir damals gezogen sind, staune ich darüber, | |
wie vernachlässigt und lieblos die Bürgersteige in dieser doch wohlhabenden | |
Gemeinde wirken. Dafür hat jedes Haus mindestens eine eigene Garage, | |
Zufußgehen ist nicht vorgesehen. | |
Meine Eltern lebten also ihren privaten Traum und die gesellschaftliche | |
Norm zugleich: arbeiten in der Innenstadt, wohnen im Vorort oder in | |
Trabantenstädten am Stadtrand. Damit einhergehend wurden die Straßen | |
ausgebaut, Umgehungsstraßen geplant, Neubaugebiete auf die Wiese gesetzt, | |
die Zersiedelung der Landschaft nahm Tempo auf. Und so, wie ich mir ihre | |
letzten Autofahrten vorstelle, frage ich mich auch manchmal, wie ihre | |
ersten Fahrten wohl gewesen sein mögen. | |
Die Straßen waren noch sehr viel leerer als heute. 1965 waren 9,3 Millionen | |
Pkw in Westdeutschland zugelassen. Gegenüber fast 50 Millionen in | |
Gesamtdeutschland heute. | |
Die Autos waren auch noch viel kleiner. Der erste Wagen meiner Mutter, der | |
VW Variant, galt damals als großer Wagen. Heute würde er hinter einem neuen | |
Golf geradezu verschwinden. Die Fahrzeuge hatten auch viel weniger PS. | |
Servolenkung, ABS, das alles gab es noch nicht. Autofahren war ein viel | |
körperlicherer Vorgang als heute. Beim Einparken musste man ganz schön am | |
Lenkrad kurbeln. | |
Außerdem war das Autofahren, ganz objektiv gesehen, viel gefährlicher als | |
heute. 1971 gab es 21.000 Tote im Straßenverkehr, heute sind wir bei einem | |
Zehntel davon. Die Anschnallpflicht wurde erst 1976 eingeführt, unter | |
großen Protesten. Kindersitze sind erst seit 1991 obligatorisch. Die | |
Promillegrenze lag 1966 bei 1,3 Promille. | |
Aber bei meiner Mutter im Wagen habe ich mich immer sicher gefühlt. Sie mag | |
mich nie in den Arm genommen haben, ich konnte auch nie meine Sorgen und | |
Probleme ernsthaft mit ihr besprechen, aber am Steuer unseres Autos wurde | |
sie zur sorgenden Mutter. | |
An eine Autofahrt erinnere ich mich noch genau. Ich war damals fünf Jahre | |
alt und meine Eltern ließen das gerade gekaufte Einfamilienhaus nach ihren | |
Vorstellungen umbauen. Auf der Baustelle habe ich neugierig an einer | |
abgestellten Flasche Bier genippt. Dass in der Flasche auch eine Wespe | |
schwamm, bemerkte ich nicht. Ich schluckte, sie stach mich in den Rachen. | |
Große Aufregung. Doch bei meiner Mutter im Auto, die mich sofort in die | |
Notaufnahme fuhr, beruhigte ich mich. Auch in so einer Stresssituation muss | |
sie ruhig und routiniert gefahren sein, zügig und gleitend im Verkehr, | |
souverän im Umgang mit dem Wagen. | |
Dieses „Es kann dir nichts passieren“-Gefühl, dieses „Du musst keine Ang… | |
haben“-Gefühl. Das muss sie mir auf dieser Fahrt vermittelt haben. Man hat | |
als Kind sorgfältig eingestellte Antennen dafür. | |
Meine Mutter hat uns auch manchmal zur Schule gefahren oder von ihr | |
abgeholt. | |
Ich erinnere mich an Fahrten, bei denen fünf, sechs oder sogar sieben | |
Mitschüler bei uns einstiegen. Im Variant konnten wir uns ja auch auf der | |
Ladefläche hinter den Rücksitz kauern. Angeschnallt war niemand. Diese | |
Fahrten waren bei uns Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen selbstverständlich mit | |
einigem vorpubertären Geschrei verbunden. Es muss ein Heidenlärm im Auto | |
geherrscht haben. Und auch bei diesen Fahrten verlor meine Mutter nicht die | |
Ruhe. | |
Ich erinnere mich noch daran, dass ich auf solchen Fahrten heimlich stolz | |
auf sie war. Wie unsere dummen Sprüche und Angebereien kurz in den | |
Hintergrund gerieten und ich nur sie sah: meine Mutter mit dem langen | |
schwarzen Haar und der großen Sonnenbrille. Vielleicht habe ich sie in | |
solchen Momenten auch mit den anderen Autofahrern verglichen, die ich | |
kannte. Dabei schnitt sie gut ab. Mein Onkel Harald fuhr sehr hektisch, | |
immer abwechselnd Vollgas und Vollbremsung und mit dem Oberkörper weit nach | |
vorne, direkt über das Lenkrad gebeugt. | |
Oder Großonkel Herbert, der auf unseren Familienfesten eigentlich nur in | |
Sprüchen redete. „Was, fünf Jahre bist du schon? So alt wird kein Schwein�… | |
solche Sachen, gefolgt von einem meckernden Lachen. Er traute sich nur, vom | |
Dorf, in dem er wohnte, bis zum Stadtrand zu fahren, wo er seinen Wagen | |
abstellte und in den Bus zu seinem Büro in der Innenstadt umstieg. Solche | |
Form von Ängstlichkeit habe ich bei meiner Mutter nie erlebt. | |
Nun gut, es gab auch Kindergeburtstage, auf denen einen die Väter der | |
Mitschüler im Propellerflugzeug über Kiel herumflogen. Damit konnte meine | |
Mutter nicht mithalten. Aber immerhin. Wie sie zugleich aufmerksam und | |
entspannt zurückgelehnt auf ihrem Fahrersitz saß, hatte das durchaus etwas | |
von einer Pilotin. | |
*** | |
Mit dem Auto hat es für meine Mutter nie ernsthafte Unfälle gegeben, in | |
ihrem Leben schon. Schwere Unfälle sogar. Totalschäden. Geboren wurde sie | |
in Kolberg, an der heute polnischen Ostseeküste. Kolberg – es gab einen | |
[5][Durchhaltefilm der Nazis mit Heinrich George und Kristina Söderbaum], | |
der so heißt – wurde zur Festung ausgebaut und verteidigt, bis die Rote | |
Armee unmittelbar am Hafen stand. | |
Mit einem der letzten Schiffe floh meine Oma Hanna mit ihren beiden | |
Kindern, meiner Mutter und ihrem etwas älteren Halbbruder Peter. Es gibt | |
bei uns die Familiengeschichte, dass das Schiff bereits ablegte, als meine | |
Mutter noch allein am Kai stand. Ein freundlicher Offizier soll sie im | |
letzten Moment über die Reling geworfen haben. | |
Ob die Geschichte stimmt, weiß ich nicht. Mir kommt sie etwas zu filmisch | |
vor, um tatsächlich wahr zu sein; man weiß ja inzwischen, dass subjektive | |
Erinnerungen trügerisch sind, weil das menschliche Gedächtnis sich aus | |
einem nachträglich konstruierten Bilderfundus gerne bedient. Aber wer weiß. | |
Als Vertriebene kam die Familie in Schleswig unter. Es war alles sehr eng. | |
Mit einer bettlägerigen Großtante teilte sich meine Mutter als Jugendliche | |
ein Zimmer. Dann wurde sie erneut aus ihrem Alltag gerissen. | |
Zu den Dingen, die sie verschickte, bevor die Demenz sie endgültig kriegte, | |
gehörte die Kopie eines Fotos, auf dem ein kleiner Pappkoffer an einer | |
Mauer steht. „Alles, mein Leben. Musste nach Hannover zu meiner Tante wegen | |
Onkel Karl (Säufer)“, hat sie dazugeschrieben. | |
Das lag spätestens in unserem Einfamilienhaus im Vorort hinter ihr. Und es | |
kann gut sein, dass die schiere Verlässlichkeit und Berechenbarkeit eines | |
Autos ihrem Leben einen Rahmen und ihr selbst einen Halt gaben, den sie bis | |
dahin nicht gehabt hatte. | |
Du drehst den Zündschlüssel, und der Motor startet. Du trittst auf das | |
Gaspedal, und das Auto beschleunigt. Du trittst auf die Bremse, und das | |
Auto bremst. Du betätigst den Blinker, und das Auto blinkt. Im Gegensatz | |
zum Lauf der Welt ist das alles gut beherrschbar. Es kann gut sein, dass | |
Autofahren für sie eine Form von Selbstermächtigung gewesen ist. | |
Doch zehn Jahre nach der Führerscheinprüfung, 1973, geschah der zweite | |
große Lebensunfall, der Krebstod ihres Mannes, meines Vaters. | |
Diagnostiziert wurde die Leukämie in dem Jahr, als wir in den Vorort zogen. | |
Erst fuhr meine Mutter ihn, geschwächt von Medikamenten und aufgeschwemmt | |
vom Cortison, wie er war, zu diversen Kuraufenthalten und Kliniken.Dann | |
starb er. | |
Es war der 29. Dezember. Sie war 33 Jahre alt, Witwe, Mutter von vier | |
Kindern, und lebte in einem großen Haus inmitten einer Vorortsiedlung, in | |
der alle Nachbarn (jedenfalls gefühlt alle) auf heile Familie machten und | |
das Kleinfamilienmodell normsetzend war. | |
Das war natürlich schwierig. Doch im Auto, am Steuer, konnte sich meine | |
Mutter als Beherrscherin ihres Lebens begreifen. Was hätte sie getan, wenn | |
sie keinen Führerschein gehabt hätte? Sie wäre im Vorort und mit uns | |
Kindern (und unserem Großvater väterlicherseits, der bei uns in der | |
Souterrainwohnung lebte) gefangen gewesen. Andererseits wäre sie auch nicht | |
ständig vom Familienleben weggefahren. | |
Das tat sie nämlich. Sie war immer auf Achse. Besuchte eine ältere Freundin | |
auf Sylt. Kümmerte sich um eine ältere Dame in Grömitz. Kaufte in Büsum ein | |
kleines Apartmenthaus und beaufsichtigte die Umbauarbeiten. Auf uns Kinder | |
passten halbtags eine Hausangestellte und unser Opa auf. | |
Wenn ich von heute aus darüber nachdenke, kann ich mir vorstellen, dass sie | |
sich die vielen Aufgaben in den verschiedensten Ecken Schleswig-Holsteins | |
auch deshalb organisiert hatte, damit sie so ausgiebig Auto fahren konnte. | |
Die Stunden, die sie in Herrmann verbrachte, sind für sie vermutlich die | |
einzigen Auszeiten gewesen von den Zumutungen und magenumdrehenden | |
Verantwortlichkeiten des alleinerziehenden Familienlebens, auf das sie | |
nicht vorbereitet war (aber wer ist das schon?). Kann gut sein, dass sie | |
die Momente, in denen sie allein im Wagen saß und die Fahrertür zuzog, als | |
kleine Befreiungen erlebte. | |
Etwas ganz anderes, gewissermaßen genau das Gegenteil dieser Fahrten, waren | |
die Touren, die meine Mutter mit uns Kindern in den Sommerurlauben | |
unternahm. Bevor mein Vater starb, hatten meine Eltern noch eine | |
Ferienwohnung in Südspanien, in Torre del Mar, in der Nähe von Malaga | |
gekauft. Drei Zimmer im vierten Stock eines zehnstöckigen weißen | |
Apartmenthauses, das mit einem Zaun drumherum direkt an den Strand des | |
Mittelmeeres gesetzt worden war. | |
Was waren das für Autofahrten! Wir waren fünf Kinder im Wagen, die Tochter | |
unserer Haushälterin, zwei Jahre älter als ich, fuhr auch mit. Hinten auf | |
der Ladefläche wurde zwischen Koffern mit Decken und Kissen ein Liegeplatz | |
für ein Kind eingerichtet, da hockte dann mein Bruder. Vorn im Auto, unter | |
der Haube gab es Stauraum; der Variant hatte den Motor ja hinten. Diesen | |
Stauraum packte meine Mutter randvoll mit Gepäck und Verpflegung für sechs | |
Wochen. Dosen, H-Milch, eingepacktes Brot, das nahmen wir alles mit; der | |
spanischen Versorgungslage traute meine Mutter nicht recht. | |
Es hat ein ziemlicher Trubel in dem Wagen geherrscht. Dem einen Kind wurde | |
schlecht, das andere musste aufs Klo. Dazu Gebalge um die Plätze. | |
Langeweile. Geruckel. Zwischendurch gemeinsame Gesänge und Gebrabbel. „Dass | |
wir die Kieler sind, / das weiß ein jedes Kind. / Wie reißen Bäume aus, / | |
wo keine sind.“ Solche Sachen haben wir gesungen. Dann wieder Gezanke unter | |
uns Geschwistern. Es wird, wenn überhaupt, immer nur für einzelne Momente | |
still gewesen sein. Und meine Mutter fuhr, mit Unterbrechungen natürlich, | |
die ganze Strecke durch. | |
Bemerkenswert jedenfalls, von heute aus gesehen, wie viel Vertrauen sie in | |
ihre Fähigkeiten als Fahrerin hatte. Das war etwas, worauf sie sich immer | |
verlassen konnte und auch verlassen hat. Bis die Augen nicht mehr | |
mitmachten und die Demenz sie erwischte. | |
Als wir uns einmal über diese Touren unterhielten, sagte meine Mutter: „Zum | |
Glück ist ja alles gutgegangen.“ Mühsam beugte sie sich in ihrem Stuhl nach | |
vorne, um auf dem Tisch dreimal auf Holz zu klopfen. | |
*** | |
Kurz vor Hamburg geht es von der A24 ab, Richtung Bad Segeberg, dann weiter | |
auf der Bundesstraße B404. Die Landschaft ändert sich, kleine Hügel, | |
Wälder, Seen. Die Wolken werden massiver, wattiger, meeresluftgesättigter. | |
Heimatgefühle kommen auf. Auch wenn ich seit 1987 nicht mehr in | |
Schleswig-Holstein lebe, habe ich immer den Eindruck, dass sich mein | |
Blutdruck senkt, wenn ich wieder in der Gegend bin. | |
So ist es normalerweise, doch auf dieser Fahrt ist es anders. Es ist 16 | |
Uhr, die Dunkelheit scheint das Licht geradezu zu schlucken. Das Fahren | |
wird anstrengend. Manche entgegenkommenden Wagen blenden mich, die Scheibe | |
ist verschmiert, und die alten Scheibenwischer können sie immer nur für | |
einige Minuten sauber halten. Dennoch gehört Autofahren für mich zu einem | |
heimatlichen Gefühl, etwas zutiefst Vertrautem, auch wenn es längst nichts | |
Selbstverständliches mehr für mich hat. In Berlin fahre ich mit dem | |
Fahrrad. Wenn ich doch einmal mit dem Auto fahre – eigentlich nur, wenn die | |
Kinder irgendwohin müssen oder wir einen Wochenendausflug unternehmen –, | |
stresst mich die danach anstehende Parkplatzsuche sehr. Manchmal muss ich | |
eine halbe Stunde herumkurven, bis ich einen finde. | |
Im vergangenen Herbst bin ich von Berlin nach Frankfurt zur Buchmesse ganz | |
allein im Wagen meiner Mutter gefahren, und schon diese Fahrt fühlte sich | |
wie ein Abschied an. Es war einerseits großartig. Wie wild und romantisch | |
Deutschland um Jena und Eisenach herum aussieht! Doch zugleich fühlte ich | |
mich wie ein Dinosaurier des Benzinzeitalters. Was das Autofahren betrifft, | |
vermittelt einem unsere Gesellschaft derzeit eine zwiespältige Lage. | |
Eigentlich wird immer klarer, dass es so nicht weitergeht und die Hegemonie | |
des Verbrennungsmotors zu Ende ist. Und gleichzeitig sind noch nie so viele | |
und so große und so leistungsstarke Autos auf den deutschen Straßen | |
herumgefahren wie heute. | |
Die Zeit, in der meine Mutter Auto fuhr, markiert auch gesellschaftlich | |
eine Ära, die nun zu Ende geht. Als sie Führerschein machte, wurden Autos | |
normal und selbstverständlich. Als sie den Führerschein abgab, hatte die | |
Gesellschaft als Ganze längst damit begonnen, Autos zu hinterfragen. | |
Dabei hielt sich meine Mutter in ihrer Demenz am Autofahren noch so lange | |
fest, wie es irgend ging. Es wäre nun ein bisschen billig, das mit den | |
kulturellen Abwehrkämpfen der Autofahrerlobby zu parallelisieren. Doch die | |
psychische Energie dieser Abwehr meine ich zu verstehen, wenn ich an meine | |
Mutter denke. Als sie unsere Sorgen und skeptischen Bemerkungen, ob das | |
Autofahren für sie wirklich noch angebracht war, einfach wegwischte, bevor | |
sie ihnen endlich nachgab, hatte das immer etwas von Notwehr. | |
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin für Tempo-30-Zonen, | |
breite Radwege, Anwohnerparkplätze, all diese Dinge, die das Ende der | |
Autoherrschaft über die Städte einläuten. Doch an meiner Mutter kann ich | |
auch sehen, was für starke Eingriffe das sind, bis in das Selbstverständnis | |
des Menschen hinein. | |
Die letzte große Autofahrt mit meiner Mutter fand am 8. Juli 1982 statt. | |
Ich war damals 18 Jahre alt, trug lange Haare und hatte gerade Abitur | |
gemacht. Das Datum weiß ich deshalb noch so genau, weil es der Tag eines | |
Jahrhundertspiels war, des Halbfinales zwischen Deutschland und Frankreich | |
bei der Fußballweltmeisterschaft in Spanien. | |
## Rückfahrt von einem „Bekannten“ | |
Wir waren auf der Rückfahrt von einem „Bekannten“ in München, mit dem sie | |
etwas hatte, was man heute als Fernbeziehung bezeichnen würde. | |
Über die vorausgegangenen Tage redeten wir nicht groß. Wir fuhren einfach. | |
Um 21 Uhr begann das Halbfinale, wir mussten auf der Autobahn gerade | |
irgendwo bei Hannover gewesen sein. Ich schaltete das Radio an. Es war | |
wahnsinnig spannend. Ich flehte meine Mutter an, schneller zu fahren, um | |
wenigstens noch den Schluss zu Hause am Fernseher sehen zu können. | |
Mit dem Essayisten Michael Rutschky, auch ein passionierter Autofahrer | |
übrigens, habe ich mich einmal darüber unterhalten, welche Beziehung | |
psychisch herausfordernder ist, die zum Vater oder die zur Mutter. Von ihm | |
habe ich die Theorie, dass die zum Vater zwar möglicherweise | |
konfliktreicher, aber psychologisch einfacher ist, weil die Interaktion mit | |
ihm (zumindest in meiner Kindheit) erst richtig einsetzt, wenn das Kind | |
bereits sprechen, also Erfahrungen auch sprachlich bearbeiten kann, während | |
die Beziehung zur Mutter bis zu den allerfrühesten, vorsprachlichen | |
Erfahrungen von Geborgenheit und Beschütztsein reicht (oder eben nicht). | |
Das Leben ist keine Autofahrt. Doch in der Fahrt von München nach Hause | |
scheint sich für mich im Nachhinein die Beziehung zwischen meiner Mutter | |
und mir geradezu zu bündeln, all das, was wir unternahmen, und auch das, | |
was wir versäumten. So eine Fahrt wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich | |
einmal auszusprechen, zwischen Mutter und Sohn, Erwartungen auszutauschen, | |
Erfahrungen, Gefühle, aber das haben wir eben nicht getan. Sie fuhr, und | |
ich war mit den Gedanken woanders, vordergründig bei dem Fußballspiel, | |
dahinter auch schon bei meinem Auszug von zu Hause, dem bevorstehenden | |
Zivildienst, dem darauf folgenden Studium. | |
Und gleichzeitig ist das Autofahren so etwas wie ihr Vermächtnis an uns, | |
ihre Kinder, sprachlos weitergegeben, ohne Worte, einfach durch ihr Tun. Es | |
gibt nicht viele Bereiche, in denen ich mir etwas von ihr abgeschaut habe – | |
beim Autofahren habe ich das durchaus: das Ideal des vorausschauenden, | |
gleitenden Fahrens, diese allumfassende Aufmerksamkeit, stets zu wissen, | |
was hinter und neben einem los ist. Das sanfte Beschleunigen, abruptes | |
Abbremsen vermeiden, gleitend kuppeln, gleichmäßig durch die Kurven fahren. | |
Einmal zeigte sie mir, wie man an einer leichten Steigung stehenbleiben | |
kann, ohne auf die Bremse zu steigen, nur unter Verwendung der Kupplung. | |
Auch das Anfahren am Berg, Handbremse ziehen, Gas geben, Handbremse im | |
richtigen Moment lösen, habe ich von ihr. | |
Ich will nicht sagen, dass sie gedanklich mit im Wagen saß auf meinen | |
großen Touren – immer wieder nach Südfrankreich und Italien, von New York | |
einmal quer durch die USA nach Kalifornien, durch die unbefestigten | |
Serpentinen des Kaukasus –, die ich als Erwachsener unternahm. | |
Und doch – ich habe lange geglaubt, dass ich Jack Kerouac hinterherfahre | |
oder solchen coolen Typen wie Steve McQueen oder auch Robert DeNiro in | |
„Taxi Driver“. Aber ebenso sehr bin ich wohl immer in den Spuren meiner | |
Mutter gefahren. Ein Vermächtnis, das allmählich in die Erinnerung | |
hinüberwandert, doch immer noch da ist. | |
Aber vielleicht besteht das eigentliche Vermächtnis auch darin, dass man | |
einen eigenen Weg finden muss, um mit dem Leben klarzukommen. Viel Auto zu | |
fahren gehörte zu ihrem Weg. Wir, ihre vier Kinder, hatten jeweils andere | |
Wege. Gelenkt hat sie ihre Autos. Nicht uns. | |
Von München aus fuhr sie uns beide damals gerade noch rechtzeitig nach | |
Hause und ich saß pünktlich zur Verlängerung vor dem Fernsehgerät. Ein paar | |
Monate später machte ich selbst meinen Führerschein. | |
*** | |
Ich stelle den letzten Wagen meiner Mutter auf dem Parkplatz ab. Ein | |
Pflegeheim am Stadtrand. | |
Zuerst erkennt sie mich nicht. Erst als sie meine Stimme hört, weiß sie, | |
wer ich bin. | |
Wir sitzen in ihrem Zimmer und reden. | |
„Bist du mit dem Wagen gekommen?“ | |
„Ja.“ | |
„Hatte der nicht einen Namen?“ | |
„Weißt du ihn noch?“ | |
„Hieß der nicht Herrmann?“ | |
„Genau.“ | |
„Warum eigentlich? Wer ist denn auf den Namen gekommen?“ | |
„Ich weiß es nicht, Mama.“ | |
„Ich auch nicht.“ | |
„Fährt Herrmann noch?“ | |
„Wie eine Eins.“ | |
„Wie lange hast du gebraucht?“ | |
„Vier Stunden, von Berlin aus, oder bisschen länger, viereinhalb.“ | |
„Berlin?“ | |
„Ich wohne jetzt in Berlin.“ | |
„Ach ja, und wo sind wir?“ | |
„In Kiel.“ | |
„Ach ja.“ | |
„Willst du ganz gern mal wieder Auto fahren, Mama?“ | |
„Schon.“ | |
„Weißt du noch, wie es geht?“ | |
„Das weiß ich noch.“ Etwas blitzt in ihren Augen auf. „Manchmal habe ich | |
den Gedanken, mir einen Mietwagen zu nehmen, aber, ach Quatsch, das werde | |
ich bestimmt nicht.“ | |
Das Blitzen ist wieder aus ihrem Gesicht verschwunden. Dann geht das | |
Gespräch von vorne los. | |
Nachdem mein Bruder sich den Wagen gründlich angesehen hat, meint er, das | |
Auto komme ziemlich sicher noch einmal über den TÜV, so viel sei da gar | |
nicht zu machen, und die Dellen und Beulen interessieren den TÜV ja gar | |
nicht. | |
Okay, denke ich, es ist ein Abschied auf Raten. | |
8 Jan 2023 | |
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[2] https://www.fluter.de/gleichberechtigung-frauen-deutschland-geschichte | |
[3] https://www.perlentaucher.de/buch/thomas-e-schmidt/grosse-erwartungen.html | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/VW_Typ_4 | |
[5] https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag1444.html | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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