# taz.de -- Erziehungsratgeber im Wandel der Zeit: Indikatoren des Zeitgeists | |
> Eine Studie untersucht deutsche Erziehungsratgeber der letzten 70 Jahre. | |
> Wie über Pädagogik geschrieben wurde, verrät viel über die Gesellschaft. | |
Bild: „Sisyphosarbeit“ im Sonnenuntergang: Vater mit Sohn | |
BERLIN taz | „Wir sind keine Freunde, sondern immer noch Eltern“, antwortet | |
Brigitte Riedel, wenn man sie fragt, wie sie mit ihren Kindern umgeht. Fair | |
und mit Respekt will die 41-Jährige ihre drei Söhne im Alter von 11, 9 und | |
5 Jahren erziehen – die Autorität liegt aber ganz eindeutig bei den | |
Erwachsenen. „Regeln müssen eingehalten werden“, verdeutlicht Vater | |
Christian Riedel, „sonst gibt es Konsequenzen, dann fällt zum Beispiel die | |
abendliche Gute-Nacht Geschichte aus.“ | |
Damit folgt die Familie aus Ulm einer Philosophie, die Experten als | |
„autoritativen Erziehungsstil“ bezeichnen. Er ist durch sanfte Kontrolle | |
charakterisiert, aber auch durch Zuwendung und Empathie. Ein Großteil der | |
Eltern in der Bundesrepublik erzieht ihre Kinder heute auf Basis solcher | |
Werte. | |
Nicht immer war das so: In den 50er Jahren war die gelegentliche Ohrfeige | |
ganz normal. Geändert hat sich das auch, weil Experten den Müttern und | |
Vätern inzwischen andere Verhaltensweisen empfehlen. | |
Was genau Eltern in den letzten 70 Jahren geraten wurde, hat Carmen Eschner | |
untersucht und sich dabei auf Erziehungsbücher und -zeitschriften | |
konzentriert. Ihre Ergebnisse hat die Konrad-Adenauer-Stiftung im Juli | |
unter dem Titel „Welche Erziehung ist richtig?“ veröffentlicht. „Ein | |
hochpolitisches Thema“, sagt die 67-jährige Autorin, die als | |
Familientherapeutin arbeitet. „Erziehung ist ja abhängig von Kultur, | |
Politik und Gesellschaft.“ | |
## Liberalisierung der 60er | |
So wirkt Eschners Studie über weite Strecken wie ein Überblick zur | |
Geschichte Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg. Daran, wie über die | |
Erziehung von Kindern gedacht und geschrieben wurde, lässt sich viel über | |
die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik ablesen. | |
Der größte Bruch in der Evolution der angepriesenen Erziehungsmethoden fiel | |
etwa mit der gesellschaftlichen Liberalisierung der 60er Jahre zusammen. | |
War im Nachkriegsdeutschland ein autoritärer und oft gewalttätiger | |
Erziehungsstil weit verbreitet, änderte sich das rund zwanzig Jahre nach | |
Kriegsende zusehends. Zuvor beliebte Ratgeber, die sich noch an den Idealen | |
der NS-Zeit orientierten, verloren an Einfluss. | |
Bis dahin waren etwa die Bücher von Johanna Haarer weit verbreitet gewesen. | |
Die Autorin, eine bis zu ihrem Tod 1988 überzeugte Nationalsozialistin, | |
riet Müttern zu „Härte“ gegenüber dem Kind. Höre das Baby nicht auf zu | |
schreien, „so kann man das unruhige Kind in einen stillen Raum tun und holt | |
es erst zur nächsten Mahlzeit wieder“, heißt es etwa im beliebten Ratgeber | |
„Die Mutter und ihr erstes Kind“, der erstmals 1934 erschien. | |
In späteren Auflagen aus der Zeit nach 1945 sind die einstmals enthaltenen | |
Nazi-Anleihen nur flüchtig übertüncht. „Das kleine Kind muss lernen, sich | |
in eine Gemeinschaft einzufügen“ heißt es da, ursprünglich wohl mit Blick | |
auf die von den Nazis propagierte „Volksgemeinschaft“. Es ist der latent | |
faschistische Muff der Nachkriegsjahre, der zwischen den Seiten | |
hervorquillt. | |
## Respekt und Empathie | |
Zumindest aus dem Mainstream verzogen sich solche Ideen Ende der 60er Jahre | |
allerdings zusehend. Stattdessen vertraten immer mehr Experten Werte wie | |
Respekt, Empathie und Verantwortung. Über die Jahre liberalisierten sich so | |
auch die tatsächlich angewandten Erziehungsmethoden in Westdeutschland, | |
während die 68er Bewegung auch in anderen Gesellschaftsbereichen neue | |
Freiheiten erstritt. | |
Ab den 70er Jahren sollten Kinder zunehmend zu selbstbewussten und | |
selbstständigen Individuen erzogen werden – mit Verständnis statt Gewalt. | |
Empfohlen wurde das so zum Beispiel im einflussreichen Buch | |
„Familienkonferenz“ von Thomas Gordon. Bereits dessen Untertitel, „Die | |
Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kind“, zeigt, dass der Nachwuchs | |
hier als eigenes Individuum wahrgenommen wurde und nicht nur als Objekt | |
elterlicher Kontrolle. Die Erziehungsmethode, die er empfiehlt, gebe den | |
Kindern das Gefühl, dass „ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind“, | |
schrieb Gordon und beeinflusste damit zahlreiche andere Autoren. | |
Zwar wurde ab Mitte der 90er mit dem Bestseller „Kinder brauchen Grenzen“ | |
noch einmal eine Erziehungsphilosophie prominent, die wieder verstärkt auf | |
Regeln und Sanktionen setzt, die Grundausrichtung blieb aber liberal. | |
## „Zu viel Erziehung schadet“ | |
Und heute? Kinder zu erziehen sei im Jahr 2018 eine „anspruchsvolle | |
Gestaltungsaufgabe“, heißt es in Eschners Studie. Seit 2000 liefert eine | |
unüberschaubare Masse an Ratgebern und Internetseiten viele verschiedene | |
Vorschläge dazu, wie mit Kindern umzugehen sei. „Zu viel Erziehung | |
schadet“, behauptet etwa der eine Ratgeber schon im Titel, während der | |
nächste warnt, dass Kinder unbedingt strenge Regeln bräuchten. Einheitliche | |
Leitlinien gibt es nicht mehr, die Suche nach der richtigen | |
Erziehungsmethode werde deshalb zur „Sisyphosarbeit“ für Mütter und Väte… | |
schreibt Eschner. Die Postmoderne ist im Kinderzimmer angekommen. | |
Elternratgeber sind somit auch heute noch ein guter Indikator, um auf den | |
gesellschaftlichen Zeitgeist zu schließen. Der ist in Zeiten von Fake News | |
und Populismus bekanntlich geprägt von Unsicherheit und Ambivalenz. Just | |
dem also, was sich in der widersprüchlichen Informationsflut widerspiegelt. | |
Dazu kommen neue Herausforderungen. So wollen Väter heute zunehmend an der | |
Erziehung ihrer Kinder teilnehmen, während Mütter nicht mehr bereit sind, | |
ihren Job für die Kinder einfach aufzugeben. | |
## Das Präventionsparadox | |
Auch Brigitte Riedel, die Mutter aus Ulm, zieht nicht nur ihre drei Söhne | |
groß, sondern arbeitet nebenher auch halbtags an der Universität. Sie und | |
ihr Mann verlassen sich im Umgang mit ihren Kindern viel auf ihre | |
Intuition. Ganz auf Rat von anderen verzichten wollen sie aber auch nicht. | |
Um sich zu informieren, besuchte Brigitte Riedel mehrere Beratungskurse, | |
derzeit trifft sie sich alle paar Monate mit anderen Vätern und Müttern in | |
einer Elterngruppe, um sich über die Erziehung der Kinder auszutauschen. | |
Damit ist das Akademikerpaar ein gutes Beispiel für das sogenannte | |
Präventionsparadox – ein Phänomen, das ebenfalls viel über die deutsche | |
Gesellschaft verrät. Eltern wie die Riedels, die aufgrund ihres hohen | |
Bildungsabschlusses ohnehin schon dazu neigen, ihren Kindern mit | |
Verständnis zu begegnen, griffen laut der Studie oft auf Ratgeber zurück. | |
Eltern aus bildungsfernen Schichten, die laut Eschner durchschnittlich | |
autoritärer erziehen und deshalb wirklich von Ratschlägen profitieren | |
könnten, würden solche Angebote dagegen öfter ignorieren. „In der | |
Mittelschicht besucht man alle möglichen Kurse und investiert viel Geld in | |
die Kinder“, sagt Eschner, „die Ärmeren werden dagegen immer mehr | |
abgehängt“. | |
8 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
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