# taz.de -- Internationale Handelspolitik: Der Schrecken des Taiwanszenarios | |
> Die Abhängigkeit von China steht in keinem Verhältnis zu der von | |
> Russland. Ohne die Großmacht müsste Deutschland Abschied von der | |
> Energiewende nehmen. | |
Der Einstieg der Reederei Cosco bei einem Terminal im Hamburger Hafen, die | |
geplante Übernahme des Dortmunder Chip-Herstellers Elmos, die Beteiligung | |
Huaweis im deutschen 5G-Mobilfunknetz – immer mehr chinesische | |
Investitionen geraten derzeit zum öffentlichen Zankapfel. Die Befürchtung | |
ist klar: Nach dem Desaster mit Russland wollen wir uns nicht gegenüber der | |
nächsten Autokratie in immer stärkere ökonomische Abhängigkeit begeben, | |
zumal von einer, die zu Hause die Menschenrechte mit Füßen tritt und | |
möglicherweise eigene Kriegsabsichten in Taiwan hegt. | |
Doch eine kohärente Strategie der Bundesregierung im Umgang mit China ist | |
bislang nicht erkennbar. Sie hangelt sich [1][von Einzelfall zu Einzelfall] | |
und setzt zu sehr auf defensive Abwehrmaßnahmen. Dabei wäre jetzt die | |
Stunde für eine offensive Investitionsagenda, um den Industriestandort | |
Europa attraktiver, souveräner und krisenfester zu machen. | |
In den Konzernzentralen und Ministerien wird derzeit ein heftiges | |
Krisenszenario durchgespielt. Sollte China tatsächlich bald in Taiwan | |
[2][einmarschieren], würde der Westen umfassende Wirtschaftssanktionen | |
verhängen. Den Takt würden die USA angeben. Sie könnten dabei im Extremfall | |
wie beim Iran vorgehen und Sekundärsanktionen gegen alle verhängen, die | |
nicht mitziehen wollen. | |
Für deutsche Unternehmen könnte dies auf eine fatale Entscheidung | |
hinauslaufen: Geschäfte entweder mit den USA oder mit China – beides ginge | |
nicht mehr. Dabei war der äquidistante Drahtseilakt mit guten Beziehungen | |
zu allen Seiten doch über lange Jahre das politisch zweifelhafte, aber | |
ökonomisch höchst effektive Erfolgsrezept der deutschen Exportindustrie. | |
## Handelsvolumen von 250 Milliarden Euro | |
Ein solches Taiwanszenario mag unwahrscheinlich sein – so betonen es | |
interessierte Kreise jedenfalls immer wieder. Doch wenn es eintritt, wäre | |
es für die Weltwirtschaft und insbesondere für Deutschland ein ökonomischer | |
Schock, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Das deutsche | |
[3][Handelsvolumen mit China] beträgt rund 250 Milliarden Euro pro Jahr, | |
mehr als viermal so viel wie mit Russland. Und die Abhängigkeiten sind | |
weitaus vielfältiger. | |
Bei Russland ging es „nur“ um Energieimporte, die ersetzt werden mussten. | |
Als Absatzmarkt ist Russland hingegen praktisch irrelevant. Ganz anders | |
China. [4][Namhafte deutsche DAX-Unternehmen], allen voran die Autobauer, | |
erwirtschaften dort mehr als ein Drittel ihres gesamten Konzernumsatzes. | |
Fiele das plötzlich weg, müssten sie ums Überleben kämpfen, denn kein | |
anderer Markt könnte solche Volumina auf die Schnelle absorbieren. | |
Zugleich sind wir abhängig von allerlei Importen. Bei einem plötzlichen | |
Ausfall der chinesischen Zulieferer stünden im fernen Europa alle Räder | |
still, denn oftmals ist kurzfristig gar keine Alternative verfügbar. Der | |
Sachverständigenrat attestierte Deutschland jüngst eine kritische | |
Importabhängigkeit in 248 Fällen. Darunter fallen Rohstoffe und | |
Vorprodukte, die in der Wertschöpfung unverzichtbar sind und für die es | |
zugleich nur sehr wenige Bezugsquellen weltweit gibt. | |
## Rotorblätter und Solarpanels | |
Betrachtet man das gesamte Handelsvolumen dieser Güter, kommt rund die | |
Hälfte aus China. Konkret geht es etwa um verschiedene EDV-Geräte, um | |
Antibiotika, um Rotorblätter für Windräder oder um [5][Solarpanels]. Es ist | |
bitter, aber ohne China ist die deutsche Energiewende gestorben – eine | |
Spätfolge des industriepolitischen Desasters von 2013, wo man die | |
Solarbranche und mehr als hunderttausend Arbeitsplätze einfach zu den | |
üppigen Subventionen nach Peking ziehen ließ. | |
Kurzum: ein abruptes Ende der Handelsbeziehungen mit China wäre ein | |
ökonomisches Desaster. Forcieren will es darum niemand. Trotzdem könnte es | |
Umstände geben, wo es dennoch eintritt, wie etwa im Taiwanszenario. Um sich | |
irgendwie auf diesen Fall der Fälle vorzubereiten, werden gerade allerlei | |
politische Initiativen entfaltet, darunter die nationale | |
Sicherheitsstrategie der Bundesregierung, die im kommenden Jahr vorgestellt | |
werden soll. | |
In vielen Unternehmen passiert dasselbe. Hier lautet das Schlagwort | |
„Diversifikation“. Nolens volens bauen viele ihre Lieferketten in Richtung | |
„China plus 1“ um. Fortan soll es auf allen Stufen mindestens eine | |
Alternative in einem anderen Land geben. Deshalb reisen gerade so viele | |
Wirtschaftsdelegationen nach Vietnam, Indien oder Singapur. Auch | |
chinesische Firmenbosse reisen dorthin und bauen gezielt Produktionsstätten | |
auf. So könnte nämlich im Ernstfall das Geschäft mit den westlichen | |
Partnern möglicherweise weiterlaufen. | |
Eine andere Strategie zur Rettung des Chinageschäfts besteht in der | |
Lokalisierung. Die Bundesbank verzeichnete jüngst einen deutlichen Anstieg | |
der deutschen Direktinvestitionen in China. Dahinter stecken oft | |
DAX-Unternehmen und große Mittelständler, die vor Ort eine geschlossene | |
Fertigungslinie aufbauen wollen, bisweilen in der Hoffnung, dass diese auch | |
im Konfliktfall Bestand haben dürfte, weil sie ohne Güterströme mit dem | |
Westen auskommt. | |
## Im Zweifel hilft der Staat | |
Produziert in China und für China – bloß unter dem Dach einer deutschen | |
Holding. Ob diese Rechnung wirklich aufgeht, bleibt abzuwarten. Die Politik | |
kann diesem Treiben oft nur zuschauen, denn Investitionsentscheidungen | |
werden von den Unternehmen getroffen. Einige mögen gar darauf spekulieren, | |
dass sich ein weiterer Ausbau des Chinageschäfts für sie allein deshalb | |
lohnt, weil [6][der Staat] ihnen bei einem möglichen Untergang schon | |
irgendwie beispringen wird. | |
Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren – nicht erst seit der | |
Finanzkrise ist das ein beliebtes Motiv der Unternehmenslenkung. Zwar | |
könnte die Politik versuchen, diese Vollkaskomentalität im Keim zu | |
ersticken und stärker lenkend einzugreifen. Doch wie glaubwürdig ist das im | |
Ernstfall? Zudem bräuchte die Bundesregierung dann ein strategisches Ziel, | |
was sie mit ihrer Politik konkret erreichen will. Aber daran mangelt es. | |
Stattdessen werden recht willkürlich einzelne chinesische Investitionen zum | |
Gegenstand einer öffentlichen Debatte gemacht. Nach welchen Kriterien das | |
geschieht, bleibt dabei unklar. Wo vitale Sicherheitsinteressen der | |
Bundesrepublik betroffen sind, ist eine intensive Überprüfung | |
selbstverständlich. Wenn auch nur das kleinste Risiko besteht, dass ein | |
chinesischer Staatskonzern ein deutsches Datennetz kontrollieren und auf | |
Geheiß der Staatsführung in den Blackout schicken könnte, müssen sofort | |
alle Ampeln auf Rot springen. | |
Bei dem Verlust kritischen geistigen Eigentums verhält es sich ähnlich. | |
Doch das eher allgemeine Argument, eine Investition wie die von Cosco dürfe | |
nicht zugelassen werden, weil China dadurch möglicherweise seine globale | |
Marktposition ausbauen könnte, reicht für ein Verbot eigentlich nicht aus. | |
Denn ein solches Streben nach einer starken Marktposition wohnt vielen | |
Investitionen inne, ganz gleich welchen Ursprungs. Überhaupt ist der | |
Kontrollansatz gefährlich. | |
Recht schnell kommt als Kernbotschaft rüber, dass chinesische Investitionen | |
generell nicht mehr willkommen sind. Wer das meint, sollte sich indes der | |
Konsequenzen bewusst sein. Denn über kurz oder lang würde Peking natürlich | |
eine Antwort finden und seinerseits deutsche Investitionen beschränken. Das | |
Problem einer solchen Interventionsspirale ist, dass für uns weitaus mehr | |
Geld und Arbeitsplätze im Feuer stehen. Denn weiterhin investiert | |
Deutschland viel mehr in China als andersherum. | |
## In die heimische Produktion investieren | |
Statt rein defensiv, sollten Deutschland und Europa besser offensiv | |
agieren. Wenn wir von China und anderen Autokratien loskommen wollen, sind | |
mehr heimische Investitionen in strategisch wichtigen Bereichen notwendig, | |
wo bislang noch kritische Importabhängigkeiten bestehen. Zuallererst bei | |
den erneuerbaren Energien und bei Wasserstoff, aber auch bei wichtigen | |
Komponenten wie Halbleitern oder Batterien. Solche Industriepolitik ist | |
nicht per se protektionistisch oder gegen China gewandt. | |
Sie schmeißt nicht anderen Knüppel zwischen die Beine, sondern baut | |
konstruktiv heimische Produktionskapazitäten auf. Das ist ein gewaltiger | |
Unterschied. Hierfür wird auch Staatsgeld fließen müssen. Doch machen wir | |
uns nichts vor: Daran führt in unserem Zeitalter der geoökonomischen | |
Blockbildung sowieso kein Weg mehr vorbei. Das staatskapitalistische China | |
hat seine Unternehmen von je her heftigst gepäppelt und subventioniert. | |
Und mit Joe Bidens [7][Inflation Reduction Act] (IRA) sind die Vereinigten | |
Staaten dabei, zum zweiten großen Spieler auf diesem Feld zu werden. So | |
legt er, etwa für die Förderung von Elektromobilität, hohe Milliardensummen | |
auf den Tisch. Für uns ist das Fluch und Segen zugleich. Einerseits gibt es | |
aus globaler Perspektive wahrlich Schlimmeres als eine Förderung | |
klimafreundlicher Technologien in den USA. Andererseits drohen empfindliche | |
Marktanteilsverluste in Zukunftsbranchen, wo wir uns eigentlich noch ganz | |
vorne wähnten. | |
Deshalb muss Europa handeln, um ein Gleichgewicht mit den Subventionen der | |
anderen zu wahren. Auf dem Gipfeltreffen der EU, das dieser Tage in Brüssel | |
stattfindet, versuchen sich die Staats- und Regierungschefs daran, eine | |
kraftvolle Antwort zu finden. Doch ob das gelingt, oder ob das Thema im | |
Streit und in der Fülle der anderen Krisen – vom Ukrainekrieg bis Viktor | |
Orbán – unterzugehen droht, ist derzeit noch nicht absehbar. | |
Das Gute ist, dass die richtige Antwort gleich mehrere offene Fragen | |
beantworten könnte. Denn eine europäische Investitionsagenda mit | |
entsprechenden Reformen des EU-Beihilferechts und der Fiskalregeln wäre | |
nicht nur die richtige Reaktion auf die neue amerikanische | |
Industriepolitik. Auch die Abhängigkeiten von China lassen sich letztlich | |
nur durch eine offensive Strategie abbauen. | |
Der Fokus sollte auf dem Ausbau der eigenen Stärken liegen, nicht auf der | |
medialen Skandalisierung, wenn chinesische Investoren versuchen, in Europa | |
aktiv zu werden. | |
17 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Coscos-Einstieg-in-den-Hamburger-Hafen/!5887209 | |
[2] /China-droht-Taiwan/!5873874 | |
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/73860/umfrage/deutschland-im… | |
[4] /VW-und-sein-China-Problem/!5817030 | |
[5] https://de.made-in-china.com/tag_search_product/Solar-Panel-Price_uynrnsrn_… | |
[6] /Plaene-der-Bundesregierung/!5844739 | |
[7] /Streit-um-Bidens-Subventionsprogramm/!5896843 | |
## AUTOREN | |
Jens Südekum | |
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